Im Schleudergang

Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Flanieren oder Herumstreunen: Gedanken zum Roman „Kein Geld keine Uhr, keine Mütze“ von Wilhelm Genazino

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Die Bundesliga-Saison 2022/ 23 endete genauso mit einem Herzschlagfinale wie die Saison 2000/2001. An jenem Maitag vor nunmehr fast genau 22 Jahren fuhr ich mit dem Auto von Dieburg zum Hessentag nach Dietzenbach. Ich weiß noch genau, dass ich während der Parkplatzsuche vor Ort live im Autoradio hörte, wie Schalke 04 in buchstäblich letzter Stunde die Meisterschaft von Bayern München abgeluchst bekam. Konsterniert stieg ich damals aus dem Auto, auch wenn ich kein Schalke-Anhänger bin. Damals wurde zudem Abschied vom legendären Parkstadion gefeiert, wo ich in den Neunziger immerhin ein- oder sogar zweimal die Schalker spielen sah (Gastmannschaft war der SC Freiburg, den ich damals schon sehr schätzte).

Ich habe mich an diesen Hessentag erinnert, als ich zum wiederholten Mal den Anfang von Wilhelm Genazinos letztem Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze aus dem Jahr 2018 las:

Die Ankündigung eines Straßenfests bedeutete, dass die in einer Einkaufsstraße ansässigen Bäcker, Metzger, Juweliere, Optiker, Apotheker und so weiter für einen Tag ihre Geschäfte verließen und auf der Straße Holzbuden aufstellten und ihre Bratwürste, Vollkornbrote, Sonnenbrillen auf Holztischen verkauften, vieles etwas billiger als sonst. Andere Geschäftsleute verschenkten kleine Artikel, die sie das Jahr über nicht hatten verkaufen können. Ich gehörte zu den vielen Herumstreunern, die nicht recht wussten, was sie hier zu suchen hatten. Viele Streuner langweilten sich, andere verbrachten hier ihre Mittagspause, wieder andere ließen sich von dem Getümmel ein wenig abschrecken, um mit einem guten Grund an ihre Schreibtische oder Computer zurückzukehren.

Ich wähnte mich damals auch als Streuner, denn ein Hessentag gleich eben einem (zu) groß geratenen Straßenfest. Ich hatte keine bestimmten Anlaufstellen, kannte niemanden in diesem Provinznest südlich von Frankfurt und habe auch deswegen keine Erinnerung mehr an bestimmte Verkaufs- oder Präsentationsstände. Damals suchte ich auch noch nicht das Gespräch, und was sollte ich eigentlich speziell auf einem Hessentag zu suchen haben??  Ein Flaneur war ich abseits der Großstadt auch nicht – diese Rolle füllt man ja nur aus, folgt man bestimmten Schriftstellern seit etwa 150 Jahren, wenn auch ein künstlerischer (Selbst-)Anspruch gegeben ist.

Der Erzähler beobachtet bei Genazino genau seine Umwelt, auch wenn er sich dabei nicht wohlfühlt: „Mein Überdruss machte mich ratlos und flößte mir ein wenig Angst ein.“ Das kann auch mit seiner Biografie in Verbindung stehen: „Ich war schon dreimal gescheitert, verteilt auf elf Jahre,
einmal als Bibliothekar, dann als Wertpapierhändler und zum Schluss als Provinzredakteur.“ Im Erzählton schwingt somit das Scheitern mit hinein, und es liegt nahe, auch Bewegungsmuster im Zusammenhang mit einer gewissen Ziellosigkeit als „Herumstreunen“ zu interpretieren. Beim Flaneur ist das Ziel- und Richtungslose Prinzip und Ideal, während der Streuner eigentlich kein Ideal kennt. Oder doch?

Was für ein Zufall, dass ich diesen Monat Paul Austers Roman Timbuktu gelesen habe, der einfühlsam die Mensch-(Haus)Tier-Beziehung auf unnachahmliche Weise poetisiert hat. Zunächst werden allgemein „Streuner“ in Zusammenhang mit gejagten Hunden vor China-Restaurants in Baltimore erwähnt, später dann spezifischer in der Beschreibung des Hunde-Herrchens Willy G. Christmas, ganz nach dem Geschmack des Vierbeiners Mr. Bones:

Sein Herrchen war ein Mensch mit dem Herzen eines Hundes. Er war ein Streuner, ein rauhbeiniger Glücksritter, ein einzigartiger Zweibeiner, der sich die Regeln nach Belieben zurechtbog.

In diesem Verhalten gleicht sich der Mensch dem Säugetier an, denn Streunen scheint anders als das Flanieren nicht von einem kulturphilosophischen Überbau gekennzeichnet zu sein: Der Flaneur ist durch und durch Kulturmensch – er schweift eher durch die Stadt – während der Streuner erst einmal seinen Sinnen folgt, was ein Hund ebenso beherzigt. Das Aufspüren wird zum Leitgedanken.

Bei aller Melancholie ist bei Wilhelm Genazino indirekt doch auch Hauch Lebenskunst spürbar, die das Scheitern nicht ausblenden kann. Sibylle als Ex-Ehefrau des Erzählers scheint ebenso wenig unter der Trennung gelitten zu haben wie der Erzähler selbst, sonst würden sie sich nicht wieder begegnen und versuchen, sich erneut anzunähern. Das Streunen, oder intensiver ausgedrückt, das Herumstreunen, enthält ja auch das Lexem „Streu“ und führt letztlich zur Zerstreuung. Kein Wunder, dass der Erzähler sich Gedanken zu einem Divertimento von W. A. Mozart macht. Solche Musikstücke dienen doch gerade der niveauvollen Zerstreuung, mehr als der bloßen Unterhaltung!

Die Genazino-Zitate sind in der Hanser-Ausgabe (inklusive Leseprobe) in der Reihenfolge ihres Erscheinens auf den Seiten 7, 10 und 15 zu finden, die Auster-Zitate sind auf den Seiten 9 und 34 zu finden (Rowohlt-Ausgabe). Ich bin Kerstin Pistorius darüber dankbar, dass sie in ihrem Blog atalantes bereits sehr originell auf das Herumstreunern bei Genazino eingegangen ist und dabei auch das schöne Wort „Zerstreuung“ verwendete. Eine weitere Online-Rezension zu Genazinos Roman von Peter Mohr findet sich im Online-Magazin titel kulturmagazin.

Parforce-Walzer und Parforce-Jazz:  Über zwei Lieder namens „Vesoul“

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Es muss 2005 gewesen sein, als ich auf dem Weg von Annecy in Hochsavoyen nach Essen an Vesoul vorbeifuhr. Dieser ostfranzösische Ort an den südwestlichen Ausläufern der Vogesen ist mir seitdem vom Namen her ein Begriff. Ohne dass ich je im Ort gewesen bin, klingt Vesoul weich und versonnen. Ob der berühmte Chansonnier Jacques Brel auch, als er in den 1960er Jahren seine berühmte Chanson Vesoul schrieb, an diesen Klang dachte? Gelebt hat er dort nie, allenfalls übernachtet.

Nun, es gibt heute eine Place Jacques Brel und ein Collège Jacques Brel in Vesoul. So viel Andenken muss sein. Im Lied werden Orts- und Städtenamen kaskadenartig genannt, wobei an erster Stelle nicht Vesoul vorkommt, sondern das kleine unweit von Paris liegende Örtchen Vierzon; danach folgen Honfleur und – welch Überraschung – Hamburg!   Der Sänger ist denkbar schlecht darauf zu sprechen (und deswegen singt er auch mit einer gehörigen Portion Rage), dass sein Gegenüber die Orte und Städte zu sehen bekommt, das es auch sehen will, während er leer ausgeht. Das „Akkordeon“-Gedudel in Paris ist ihm ebenso verhasst. Dem Du gelingt es ebenso, einst geliebte Orte wie Vesoul wieder zu verlassen, als es von ihnen genug hat.  Und manchmal werden insgesamt gewisse Vorhaben (wahrscheinlich vom Du im Lied) zunichte gemacht, was einen bitteren Unterton erhält:

J’ai voulu voir ta sœur et j’ai vu le Mont Valerién (…)

Maintenent j’confonds ta sœur et le Mont Valérien (…)

J’ai voulu voir ta sœur et on a vu ta mère (…)

T’as plus aimé ta mère, on a quitté ta sœur

Ich habe nachgeschlagen, um eine wichtige Wissenslücke zu schließen: Der Mont Valérien, am westlichen Stadtrand von Paris gelegen, ist ein wichtiger Gedenkort für den Deutsch-Französischen Krieg und eine Opferstätte seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass dieser eher anonyme Ort im Lied Verwechslungspotenzial mit der Schwester  enthält, ist genauso zynisch wie die Feststellung, dass man dieser nun den Rücken gekehrt habe, weil das Du nicht mehr seine Mutter lieb habe. Diese im Lied provokant wiedergeholt vorgetragenen Hinwendungen und nachfolgend Abwendungen werden hier auf Verwandte (und wohl auch Bekannte) übertragen. Eine gewisse Hortense ist nun auch nach gewissen Erzählungen beim Sänger-Ich unten durch, so dass er nicht mehr zu ihr ins Département Cantal fahren möchte: „De ce que je sais d’Hortense, je n’irai plus dans le Cantal.“ Diesen Stunk in einen Walzertakt zu verpacken, um die beiden kreiselnden Lebensreisen zweier Bezugspersonen zu veranschaulichen, ist große Chanson-Kunst.

Dass Ende der 1990er Jahre die Formation Queen Bee (mit Edda Schnittgard und Ina Müller als Frontfrau) eine deutschsprachige Vesoul-Version veröffentlichte und dabei abgesehen vom Titel-Ort keine weiteren Bezeichnungen übernahm, bedeutet bereits eine intensive Auseinandersetzung mit der Vorlage und gleichzeitig musikalisch eine Neu-Interpretation. Queen Bee verwandelt die Walzer-Klänge in kantige, doch bewusst meist monotone Jazz-Akkorde.

Der Text hinterfragt sich scheinbar selbst:  „Du wolltest nach Vesoul / wo bitte liegt Vesoul?“ Auch die 2. Person in der Anrede wird manchmal zur 3. Person: „Sie“ bzw. „ihr“:

Du wolltest nach Bordeaux,

wir fuhren nach Bordeaux,

Bordeaux war ihr zu dumm,

wir kehrten wieder um,

ich wollte nach Cádiz,

wir fuhren nach Paris.

Weiter geht es nach Luzern (Reim auf Bern, wo es nicht hingeht), nach Lausanne (Reimvers „und dann weiter nach Cannes“) und auch nach Saas-Fee (Reim: „sie wollte in den Schnee“); des weiteren bilden weitere Reimpaare erreichte Ziele (Bahrain und Lichtenstein, Beirut und der Zuckerhut, der Niagara-Fall und Portugal, sowie Luxemburg, Lourdes und Klagenfurt und nicht zuletzt Bukarest, Brest und Budapest.) Das Sängerin-Ich würde gern mal nach Bonn und Heilbronn, Turin und Wien, in den Ural und nach Wuppertal (die Stadt, wo sie immerhin schon einmal waren!) schweifen und „bei Sylt im Watt“ und im „Kattegat“ verweilen.

Überall mag das Sängerin-Ich hinfahren, „nur nicht nach Berlin“, wo sie eingehe. Hier zeigt sich die merkwürdige Bedeutung dieses Verbs, das ja eigentlich mit ‚gehen’ einen räumlichen Bezug hat. Stets kann das ‚sie’ in der dritten Person sich durchsetzen, auch „weil sie so drauf besteht“. Deswegen geht es schließlich doch nach Berlin, dorthin, wo die „verdammte Musik“ und das „verfluchte Programm“ mit dem „ganzen Tamtam“ zu finden sei. Hier befreit sich die Begleitmusik ironischerweise vorübergehend aus der Monotonie.

Die deutsche Version gibt der Chanson kabarettistische Züge. Anders als bei Brel ist keine Verbitterung herauszuhören, sondern die Inszenierung von maximaler Gereiztheit. Bei den bereisten Städten und Plätzen gibt es eigentlich auch nichts zu beklagen. Insofern steht der Humor hier an erster Stelle. Die Reime verknüpfen Reiseziele, die nicht zwangsläufig zusammengedacht werden, so dass hier die Klang-Kunst der sich reimenden Destinationen im Vordergrund steht. Man könnte diskutieren, inwiefern Brels Chanson hier parodiert wird. Beide Liedkompositionen könnten jedenfalls gewisse Parforce-Ritte ganz ohne Pferdeeinsatz nicht origineller besingen!

Eine sehr lesenswerte Kurzbiografie zu Jacques Brel, der aus dem Großraum Brüssel stammt und in Französisch-Polynesien begraben ist, findet sich hier. Die Chanson lässt sich hier in deutscher Übersetzung nachlesen. Zu einem Vergleich lädt der Original-Text ein.

Bild-Kontemplation: Über einen gläsernen Guten Hirten in Berlin

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Verkehrsumtost steht die evangelische Kirche Zum Guten Hirten am Rande der Bundesallee, einer der größten Nord-Süd-Ausfallschneisen Berlins auf dem Friedrich-Wilhelm Platz im Stadtteil Friedenau. Auch die direkt unterhalb der Kirche verlaufene Trasse der U9 ist mit ihren Erschütterungen wahrnehmbar. Die Kirche bietet gerade hier einen Rückzugsraum vom harten Alltag der Großstadt. An einem Sonntag ist die Kirche als Andachtsraum für das ganze Areal ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Im Advent 2022 fokussierte sich mein Blick während eines bunten Kindergottesdienstes auf das Glasmosaik, das unverkennbar einen Guten Hirten abbildet. Es grenzt sich von den üblichen Darstellungen ab, da ein Mosaik das Licht in vielen Farben wunderschön bricht und in der Form oberhalb des Altars ungewöhnlich ist. Auch das Antlitz des Guten Hirten hat etwas Entrücktes und zugleich etwas Nahbares an sich.  Die vier weiblich anmutenden Antlitze, die wie Himmelsrichtungen rund um den Hirten angeordnet sind, repräsentieren wahrscheinlich die Missionsschwestern, die im „Auftrag“ des Guten Hirten tätig waren. Der Kontext, der unter anderem auf die weltweit wirkende Gossner-Mission verweist, wurde hier verewigt.  Offensichtlich wurde, wenn man biografische Angaben berücksichtigt, die Künstlerin Eva-Maria Lokies zusammen mit ihrem Vater Hans vom Glaubenszeugnis indischer Christen derart geprägt, dass der abgebildete Hirte von dieser Erfahrung künden soll. Hans Lokies war lange Zeit „Direktor und Inspektor“ der Gossner Mission, die vor knapp 200 Jahren in Berlin von Pfarrer Johannes Evangelist Gossner gegründet wurde. Er war auch auf dem indischen Subkontinent präsent.

Rosette_Berlin_Friedenau
Glasmosaik nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies in der Evangelischen Kirche „Zum Guten Hirten“ in Berlin-Friedenau

Die Glasrosette wäre genauso wie die Missionsarbeit ohne die Heilige Schrift so nicht denkbar gewesen. Kirchen- und Kunstgeschichte beziehen sich seit jeher auf theologische Auslegungen, worin das Gehörte bzw. Gelesene in unterschiedlichen Materialien verewigt wird. Wer auch das einfallende Licht berücksichtigen wollte, konnte mit einer Glasmalerei besondere Effekte erlangen. Glas ist ein schwer herzustellender und zu verarbeitender Werkstoff, so dass bis in die Zeit der Hochindustrialisierung nur wenige Künstler in der Lage waren, damit zu arbeiten. Chor- und Altargestaltung bieten sich dafür verständlicherweise besonders an, um das Geheimnis des Glaubens an diesen Orten noch stärker hervortreten zu lassen.

Der Hirte ist ein oft verwendetes Motiv in der Bibel. Besonders eindrücklich wird es im Psalm 23, dem Hirtenpsalm mit dem bekannten ersten Vers „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.“, im Buch Ezechiel und im Johannes-Evangelium dargestellt. Gott, der Herr, ist im Alten Testament von den Hirten seiner „Schafe“ tief enttäuscht. Die Herde, das Volk Israel, hat bekanntlich harte Zeiten durchlebt, bevor es nach den Worten des Propheten Ezechiel vom Herrn gerettet wird:

Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollten nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein. (…) Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben. 

EZECHIEl 34, Verse 10-12

Jesus erweitert den Aspekt der Rettung vor Gefahren, wenn er im Johannes-Evangelium zusätzlich sein Wirken in der Analogie der Tür konkretisiert :

Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (…) Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. 

JOHANNES 10, Verse 7-9, 11

Die zweiteilige Rolle als Tür und als Hirte könnte so interpretiert werden, als dass der Sohn Gottes den Zugang zum Himmelreich ermöglicht und gleichzeitig sich für seine Nachkommenschaft hingibt.

Eva-Maria Lokies konnte sich auf einen hervoragenden Produzenten verlassen, ohne den eine solches groß angelegtes Werk kaum möglich gewesen wäre: Die Berliner Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Treptow hatte die Rosette im Jahr 1949 hergestellt und geliefert, nachdem Kriegseinwirkungen die Originalausstattung zerstört hatten. Sie ist mitsamt dem repräsentativen Firmensitz seit Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre von der Bildfläche verschwunden. Mehr als 150 Jahre, etwa von 1890 an, vor allem dank des Engagements des Kaufmanns August Wagner und des Ingenieurs Friedrich Puhl, hatte die Firma durch die wechselvollen Zeiten hindurch eine Monopolstellung für sämtliche Aufträge im Bereich Glasmosaikkunst inne. Mehr Weltruhm konnte man in diesem Metier kaum erlangen. Vor der Gründung der Firma waren Auftraggeber auf italienische Glasmosaik- und Glasmalerei-Werkstätten angewiesen gewesen.

Am Ostermontag 2023 sahen wir in der Dorfkirche Marzahn weitere Glasmosaiken von Eva-Maria Lokies: die vier Evangelisten und der gekreuzigte Christus sind ebenfalls unverwechselbar, nicht nur aufgrund der Farbwirkung.

Dorfkirche Alt-Marzahn: Glasfenster
Der Evangelist Markus: Glasfenster von Katharina Peschel nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies, Dorfkirche Marzahn, 1949/50

Lokies‘ Werk, vor dem Bau der Berliner Mauer fertiggestellt und installiert, hat die Zeit der Teilung überlebt und strahlt nun jeden Tag in der wiedervereinigten Stadt, je nach Wetter und Sonnenstand. Eine wiederholte Betrachtung lohnt sich daher zu jeder Witterung.

Vielen Dank an Pfarrer Peter Martins für die Bereitstellung von Informationsmaterialien zur Rosette in Berlin-Friedenau.

Originelle Kopie – Über „Cavaliere d’argento“ der Crucchi Gang

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Als sich Anfang der 1980er Jahre die Neue Deutsche Welle aufbaute, stand eine gewisse Leichtigkeit an erster Stelle. Die deutsche Sprache, weder leicht zu erlernen noch leicht im Umgang angesichts vieler tiefenscharfer, schwer oder unmöglich zu übersetzender Termini, konnte in musikalisch abgespeckter Termini brillieren, auch wenn dabei keine musikalischen Glanzleistungen herauskamen.

Joachim Witts Hit „Goldener Reiter“ aus dem Jahr 1980 (Single-Auskopplung 1981) ist sicher kein Glanzstück, doch irgendwie bleibt das Lied, das vage von einem von der Bahn abgekommenen Leben „am Rande der Stadt“ handelt, im Gedächtnis hängen – mir zumindest. Mehr als 40 Jahre später ist nun eine italienische Kopie entstanden, deren Titel Cavaliere d’argento den Reiter versilbert. Der Grund liegt ganz einfach darin, dass die Anzahl der Silben des deutschen Adjektivs mit denen im Worte „argento“ übereinstimmen. Musik hat Vorgang gegenüber treuer Übersetzerkunst. Insgesamt wirkt die Kopie viel geschmeidiger als das Original, was nicht nur am so schönen Klang des Italienischen liegt.

Francesco Wilking von der Band Die höchste Eisenbahn hat sich letztes Jahr zusammen mit der Crucchi Gang an diese Cover-Version gewagt. Das neue Gewand hat nun Italo-Pop-Charakter, wobei der dumpfe Gesang von Joachim Witt im Original mit einer neuen Klangfarbe übertönt wird. Felix Hooss sprach im September 2020 in Anbetracht des Debütalbums in der Sonntagszeitung der FAZ von einer „Lockerungsübung“, ohne vergessen zu erwähnen, dass Crucchi eine „hässliche Bezeichnung für Deutsche“ sind. Es lässt sich erahnen: Die Gang hat auch auch andere bekannte deutschsprachige Lieder ins Italienische übertragen, zum Beispiel „Bitte gib mir nur ein Wort“ von Wir sind Helden.

Das Video zu Cavaliere d’argento erinnert mich an ein Bühnenbild, das während des Songs auf- und abgebaut wird. Es zeichnet sich durch einen symmetrischen Aufbau aus, in dem bloß zwei Hände aktiv tätig sind. Die Bild-Konstante sind vier Leitern (im Originallied ist die Leiter als Reimwort auf Reiter unverzichtbar), die scheinbar mit dem Bühnenboden bzw.  der  Bühnenwand verwachsen sind, wodurch das Mehrdimensionale des Raums besonders zum Vorschein tritt. Der italienische Text gleitet darüber bzw. daneben in verschiedenen Richtungen hinweg. Diese Anordnung passt zum Begriff „tangenziale“ für „Ausfallstraße“, der ja auch das Geometrische mit dem Begriff „Tangente“ impliziert. In der italienischen Version taucht die Leiter mit „poi caddi giù“  („dann fiel er ab“) übrigens gar nicht auf.

„Manicomio“ entspricht im Original der „Nervenanstalt“,  „allarmi di sicurezza“ den „Sicherheitsnotsignalen“ und „micidiale schizofrenia“  der „lebensbedrohlichen Schizophrenie“, so dass hier recht nah übersetzt wurde. Die feminine Endung in „impazzita“ („verrückt“) ist sicher absichtlich gewählt, um mit der unpersönlichen Du-Anrede auch weibliche Personen einzubeziehen, da sonst „cavaliere“  ausschließlich männlich als „figlio della città“, also als „Kind dieser Stadt“ gezeichnet würde. Die Übersetzung ist hier auch positiver gestimmt, da es heißt, dass einem dort geholfen wird, falls man nicht schon verrückt geworden ist: „E se non sei già impazzita / lì certo qualcuno t’aiuterà.“  Joachim Witt nutzt den Komparativ „verrückter“ im Gedanken an eine Verschlimmerung: „Gehn Dir die Nerven durch / Wirst du noch verrückter gemacht.“

Die hinzukommenden zahlreichen floralen Elemente und ein Paar Damenschuhe – sicher eine Anspielung auf die Damenträume des Sängers im Originalvideo – ranken sich an die Leitern und werden dann im letzten Viertel des Liedes wieder entfernt, so dass wiederum das Ausgangsbild wiederhergestellt wird. Zwischen Bühnenauf- und -abbau wird zwischenzeitlich ein Vorhang zu- und aufgezogen, als von „vere cause de la malattia“ die Rede ist. Hier setzt das Lied auch kurz aus – es wirkt wie ein musikalisches Fragezeichen, um zu verdeutlichen, dass die wahren „Ursachen“ der Krankheit nicht bekämpft werden können (im Original wird das Wort „Krankheit ausgespart).

Cavaliere d'argento - Bild zum Text
Standbild aus dem Musikvideo zu Cavaliere d’argento von der Crucchi Gang (2’41“)

Die Blumen wirken wie eine Hommage an den silbernen Reiter, der  von der Lebensleiter gefallen ist. Das Lied heitert zusammen mit dem Video eindeutig auf, so dass der  düstere Text weniger Gewicht erhält. Das passt gut zu dem Gedanken, dass Musik auch befreiend und sogar heilsam wirken kann. Es tut gut, dass man sich von der Abbildung der besungenen Wirklichkeit entfernt und stattdessen eine artifizielle Bühnenwelt durch einen Vorhang geschlossen und wieder geöffnet wird. Statik und Dynamik erhalten zusammen mit der Symmetrie eindeutig Orientierung, was gerade dann von Bedeutung ist, wenn man von der Bahn abgekommen ist.

Bestellen kann man verschiedene Tonträger (Label: Vertigo Berlin) der Formation hier.

Grauzone – Über „Graue Bienen“ von Andrej Kurkow

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Wer von Grauzonen spricht, hat oft nur eine unzureichende oder gar keine Vorstellung davon, welche Zone gemeint ist. Meist handelt es sich um keine geografischen Zonen. Der auf russisch schreibende, in Kiew aufgewachsene Schriftsteller Andrej Kurkow hat in seinem 2018 erschienenen Roman Graue Bienen (die deutsche Übersetzung folgte 2019) die Konfliktregion Donbass in der Ostukraine im Blick, die von 2014 bis 2022, also vor der Zeitenwende, trotz der immer wieder auflodernden Kampfhandlungen nur gelegentlich in den Nachrichten auftauchte. Die Hauptfigur Sergejitsch ist Einwohner der fiktiven Ortschaft Malaja Starogradowka als Bienenzüchter und auch Einwohner der „grauen Zone“, die politisches und militärisches Niemandsland bezeichnet, denn „Grau ist die Farbe des Übergangs und der Schattierung zwischen den Polen.“ 

In dieser Logik erfordern militärische Auseinandersetzungen zweier Kriegsparteien als „Pole“, die sich durch keine klare Offensive auszeichnen, ein schattiertes Gebiet, das quasi als Pufferzone für beide Kriegsparteien dient:

Die graue Zone überfiel niemanden! Deshalb war sie ja auch grau, weil sich nichts in ihr ereignete und sich fast niemand in ihr befand. Und da gingen nun beide Horizonte mit Waffengewalt gegen die graue Zone vor. Obwohl beiden die graue Zone völlig egal war, sie wollten durch sie hindurch den anderen treffen. Wenn die einen wie die anderen fortgingen, dann würde die graue Zone wieder zum Mutterland!

Sergejitsch  verlässt seine Heimat in Richtung Zentralukraine nur, um seine durch näherkommende Geschosse verschreckten Bienen in Freiheit ausfliegen zu lassen, damit sie endlich ihrer Arbeit nachgehen können. Er ist nach seiner Ansicht „nicht nur Herr des Bienenstandes, sondern auch gleichsam Vertreter der gesetzlichen Interessen der Bienen“. Auch wenn das Honigsammeln nicht explizit als gesetzlich verankertes (Tier-)Recht angesehen werden würde, so sind seit den 1990er Jahren EU-Tierschutzvorschriften in Kraft, in denen fünf Freiheiten für Tiere formuliert sind, unter anderem auch die „Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens“. In diesem Sinne ist die „Road Novel“, um einen Ausdruck von Sigrid Löffler auf Deutschlandfunkkultur aufzunehmen, ein Versuch, den für den Tiernutzen und damit auch für den Nutzen des Menschen wichtigen Aspekt der Freiheitssuche konkret darzustellen.  Wenn man bedenkt, dass Bienen für ein Glas Honig „rund 40000 mal ausfliegen und dabei 4 bis 7 Millionen Blüten besuchen“ müssen, wie man in Ralph Dutlis Kulturgeschichte der Bienen mit dem schönen Titel Das Lied vom Honig nachlesen kann, dann  ist der Begriff der Freiheit eng mit stofflichem Ertrag verknüpft.

Sergejitschs Reise führt in das Mutterland, wo keine Kriegshandlungen stattfinden. Im realen Dorf Wessele (ein buchstäblich fröhlicher Ort) kommt er auch näher mit einer Händlerin namens Galja in Kontakt und kann Honig zu Geld machen. Der soziale Friede ist auch dort brüchig, ein „traumatisierter Kriegsheimkehrer“ beschädigt sein Hab und Gut, unter anderem seine Bienenstöcke, die auch für den Imker als Bettstatt dienen. So beschließt Sergejitsch, Achtem, einen krimtatarischen Bienenzüchter-Freund  auf der schon damals russisch besetzten Krim-Halbinsel aufzusuchen.

Bei der Einreise auf die Halbinsel werden die Bienen an der Grenze einer gründlichen Inspektion unterzogen, während Journalisten genau den Ankommenden mit seinem beschädigten Besitz filmen und ihm „Blicke zuwarfen, in denen weder Interesse noch Mitleid lag“. Der Verdacht liegt nahe, dass sie mit dem Bildmaterial im wahrsten Sinne des Wortes eine prorussische Geschichte drehen.

Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass Achtem verschwunden ist.  Seine Familie, die keinen Minderheitenschutz genießt, weist Sergejitsch den Weg zu den verwaisten Bienenstöcken. Die angestellten Recherchen verheißen nichts Gutes; es gibt keine Hoffnung, dass Achtem noch am Leben ist. Nach dessen Begräbnis wird Achtems Sohn Bekir aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Sergejitsch wird zudem beim Honigschleudern vom Geheimdienst FSB mitten in der Natur aufgespürt. Ihm wird ein Bienenstock abgenommen, um eine „veterinärbehördliche Grenzkontrolle“ nachzuholen, da es möglich sei, dass Krankheiten von den Tieren übertragen werden. Auch wenn die Kontrolle ohne Beanstandungen verläuft, hat sich etwas bei den untersuchten Bienen verändert. Sie zeigen ein merkwürdiges Verhalten: Nur mit einer „Schwarmkiste mit Deckel“ und dem Beschweren der Flügel mit Hilfe von zerstäubtem Wasser kann Sergejitsch sie wieder einfangen. Die Zeit für die Rückkehr in die Ukraine ist gekommen: Er nimmt in seinem ramponierten Auto Achtems Tochter Ajsche mit an die russisch-ukrainische Grenze, von wo sie sich auf den Weg zu seiner Ex-Frau Witalina nach Winnyzja machen soll, um dort ein Studium aufzunehmen.

Auf der Reise wird Sergejitsch von Träumen geplagt, in denen seine Bienen sich „wie Aufklärer des Militärs“ verhielten und „grau waren, weil sie einen Tarnanzug trugen, vielleicht auch nur einen Regenumhang, auf jeden Fall etwas Militärisches“. Auch nach dem Aufwachen „wirkten sie grau auf ihn!“ Das Unheil scheint sich auf die Bienen übertragen zu haben.  Der Roman endet folglich tragisch damit, dass der „Herr des Bienenstandes“ sich seiner in einem der nicht kontrollierten Bienenstöcke überraschend wiederentdeckten Handgranate, die er vor seiner großen Reise daheim von einem Soldaten geschenkt bekommen und nachts im trunkenen Zustand in der Nähe seiner Bienen versteckt hatte, entledigen möchte, um nicht wegen Waffenbesitz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anstatt sie einfach explodieren zu lassen, nimmt er mutwillig in Kauf, den merkwürdigen, kontrollierten Bienenstock zu zerstören. Nur wenige „graue“ Bienen scheinen danach überlebt zu haben.

So handelt auch Sergewitsch schließlich irrational. Die Angst vor einer Manipulation der Bienen führt ihn zu dieser Tat, bevor er wieder zu Hause eintrifft. Das Graue steht hier für etwas Diffuses, das eher Schaden als Nutzen anrichtet. Der Alptraum hat auch Konsequenzen auf die erzählte Wirklichkeit: Die eigenen grauen Nutztiere genießen keinen Schutz vor Gewalteinwirkung mehr.

Ralph Dutli schreibt: „Es gibt eine Nachtseite des Bienenwesens, Geschichten um Tod und Vernichtung“. Diesem Gedanken folgt der Roman, da er ja auch Ein- und Auswirkungen des damals schwelenden Krieges in der Ostukraine mit dem Schicksal von Tieren verknüpft. Diese Nachtseite ist bei Andrej Kurkow auch dem Verhalten von Menschen eigen, selbst vom harmlosen Bienenzüchter und Frührentner Sergej Sergejitsch.

Der Roman lässt sich bei Diogenes bestellen (auch als E-Book). Das lange Zitat steht auf Seite 164. Die übrigen Zitate sind den Seiten 228, 262, 276, 372, 412, 429 und 441 entnommen (in der Reihenfolge ihres Auftretens im Roman). Die beiden Zitate in Ralph Dutlis Kulturgeschichte stehen auf den Seiten 18 und 133.

Bildschirm-Text: Jean-Philippe Toussaints „Fernsehen“

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Die meisten Erwachsenen unter uns, die vor oder um das Jahr 2000 herum das Teenager-Alter erreicht oder hinter sich gelassen haben, können nicht nur über besondere Lebensmomente erzählen, sondern auch besondere Fernsehmomente einbringen. Diese Momente sind zugleich Bestandteile einer Fernsehgeschichte aus Nutzersicht.

Ein Roman, der literarisch Fernsehen als Phänomen beleuchtet, heißt La télévision (deutscher Titel: Fernsehen).  Jean-Philippe Toussaint hat ihn 1997 veröffentlicht, bevor das Internet im großen Stil in Privathaushalten Einzug hielt und Flachbildschirme Standard wurden. Es war die Hoch-Zeit des linearen Fernsehens. Würde man eine Fernsehgeschichte aus der Perspektive der Literatur schreiben, käme man an diesem Text nicht vorbei.

Im Roman setzt der Erzähler in unterschiedlichen, nicht immer kongruenten Erzählhaltungen mehrere Brillen auf; sein kunsthistorischer Forschungsaufenthalt in Berlin wirkt nicht streng durchorganisiert, wohingegen die Betrachtungen rund ums Fernsehen neben anderen Inhalten vergleichsweise viel Raum in der Erzählung erhalten. Die sprunghafte Erzählfreude zeigt zugleich auch ein großes Talent, kleinste Ereignisse wie mit einer Lupe narrativ zu vergrößern. Das Langsam-Meditative erhält einen hohen Stellenwert.

Natalie Potok-Saaris, Forscherin an der  Harvard University, schreibt 2014 treffend:

La télévision“ emphazises the slow, meditative aspects of narrative, stressing the very qualities that make literature distinct amid a background of fast-paced and fragmented information.

Im Zeitalter mobiler Endgeräte würde man vieles ähnlich formulieren, wobei die Abhängigkeit von Bildschirmen noch viel stärker ist, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Auf jeden Fall steigerte sich das Fragmentarische und das Temporeiche im Informationsfluss des Fernsehzeitalters spätestens mit dem Aufkommen des Privatfernsehens Anfang der 1980er Jahre.

Der Erzähler hat bei Toussaint mitunter einen wissenschaftlichen Anspruch, wenn es heißt:

La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoiqu’elle en ait toutes les apparences (en plus petit, dirais-je, je ne sais pas si vous avez déjà regardé la télévision), mais de sa représentation.

Ihm geht es darum, zu skizzieren, dass wir es mit einem „Schauspiel“ zu tun haben, und zwar „nicht der Realität, (…) sondern ihrer Darstellung“.  Der in Klammern gesetzte Einschub ist quasi ein Augenzwinkern, denn das Fernsehen gebe sich nun mal so aus, als ob es die Realität im „Mini-Format“ zeige. Ich stelle mir den Erzähler in einem Vortrag vor, der schon hier versucht, das Publikum mit rhetorischen Kniffen auf seine Seite zu ziehen.

Nachfolgend setzt der Erzähler die Fernsehkonsumenten-Brille auf:

Une des caractéristiques de la télévision, en effet, quand on ne la regarde pas, est de nous faire croire que quelque chose pourrait se passer si on l’allumait, que quelque chose pourrait arriver de plus fort et de plus inattendu que ce qui nous arrive d’ordinaire dans la vie.

Hier entlarvt er etwas, was der Handykonsum inzwischen mehr als bestätigt hat: Viele Nutzer schalten das Gerät öfter als gewöhnlich ein, weil wir nichts Wichtiges verpassen wollen – sei es eine wichtige Nachricht auf dem Handy oder früher eine Fernsehsendung, die als Fernsehereignis betrachtet werden kann.  Früher war beispielsweise Wetten, dass…? ein Fernsehereignis par excellence, von dem man noch Tage später mitunter mehr sprach als von einem realen Ausflug.  Paradox ist nur, dass wir heute dank der Mediatheken eigentlich nichts mehr verpassen können – und doch öfter aufs Smartphone schauen als ins Fernsehen. Der Glaube, dass etwas Besonderes im Fernsehen passiert, bestätigt sich oft nicht, doch allein die Möglichkeit, dass Fernsehen interessantere Bilder „produziert“ als wir körperlich-sinnlich einfangen können, rechtfertigt gerade beim Zappen den Griff zur Fernbedienung. Dabei steht fest: Die meisten Fernsehbilder sind eben nicht ereignishaft, sondern eher banal!

Heiter bis burlesk wird es, wenn der Erzähler wissenschaftlich-präzise und zugleich konsumkritisch, über eine Putzaktion des Fernsehbildschirms schreibt (fett markierte Ausdrucke werden auf Deutsch erwähnt):

Enfin, comme je m’apprêtais à quitter ma pièce avec mon pulvérisateur et ma bassine sous le bras, je jetai un coup d’œil sur le téleviseur et, remarquant qu’il était très poussiéreux lui aussi, je lui balançai distraitement une petite giclée de pulvérisateur, qui alla s’écraser en haut de l’écran en un petit amas de mousse blanchâtre effervescente, puis, pris d’un léger vertige où se mêlait sans doute le simple plaisir enfantin de continuer de tirer à une jouissance plus subtile, symbolique et intellectuelle, liée à la nature de l’objet que j’avais pris pour cible, je ne m’arrêtai plus et je vidai presque tout ce qui restait de produit dans le réservoir du pulvérisateur, continuant à tirer à bout pourtant sur le téléviseur, appuyant sur la détente et relâchant mon doigt, appuyant et relâchant, de plus en plus vite, partout, au hasard de l’écran, jusqu’à ce que toute sa surface fût recouverte d’une sorte de couche liquide mousseuse en mouvement qui commenca à glisser lentement vers le bas en filets réguliers de crasse et de poussière melêes, en lentes coulées onctueuses qui semblaient suinter de l’appareil comme des résidus d’émissions et de vieux programmes fondus et liquéfiés qui descendaient en vagues le long du verre, certaines, rapides, qui filaient d’un seul trait, tandis que d’autres, lentes et lourdes, arrivées au bas de l’écran, rebondissait et dégouttaient par terre, comme de la merde, ou comme du sang.  

Was für ein sprachlicher Aufwand, das Saubermachen in solch einen Monstersatz zu packen! Dieser Satz wird mir als Schilderung eines Mikro-Ereignisses im Gedächtnis bleiben, strukturell und inhaltlich. Der Erzähler bemerkt sein „kindliches Vergnügen am Schießen“ zusammen mit einem „subtileren, symbolischen und intellektuellen Genuss“: Das Fernsehen wird im wahrsten Sinne des Wortes zur „Zielscheibe“ für einen „Spritzer“ Spülmittel, wobei der „Hahn“ die „Patrone“ einer geladenen „Sprühpistole“ entleert.  Die „regelmäßigen Schlieren aus Fett und Staub“, die „in cremigen Strömen“ nach unten fließen, werden als „flüssig gewordene Reste von Sendungen, vermischt mit alten Programmen, die in Wellen den Schirm herunterrannen“, in eine äußerst treffsichere Analogie buchstäblich gegossen.  Das Abspülen oder auch Wegspülen kommt einem Entledigen gleich, parallel dazu wird Text produziert, der in seiner Fülle zu einem literarischen Ereignis wird. Denn in keinem anderen Medium ließe sich das Geschilderte so genüsslich synthetisieren wie im Roman.  Abstrakte Fernsehinhalte werden wie „Scheiße“ oder „Blut“ konkret weggewischt. Statt konventioneller Fernsehunterhaltung ist hier außergewöhnliche Romanunterhaltung am Werke!

Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Bernd Schwibs. Die deutsche Version lässt sich auch als E-Book-Version bei der Frankfurter Verlagsanstalt bestellen. Dort stehen die übersetzten Passagen auf den Seiten 5f, 33 und 36.Die französischen Zitate sind der Ausgabe des Verlags Editions de Minuit (2006) auf den Seiten 12, 94f und 100 entnommen. Der zitierte Aufsatz von Natalie Potok-Saaris ist 2014 in der Zeitschrift Paroles Gelées (Band 28, Nr.1; Zitat: S.46) erschienen.

Kokusnuss-Kokolores? – Über ein Gedanken-„Imperium“

Am Abend des 15.01.23, im ruhig dahingleitenden ICE von Berlin nach Leipzig, begann ich den Lektüre-Endspurt von Christian Krachts vor gut zehn Jahren erschienenem Roman Imperium. Auf der anderen Seite des Gangs saßen zwei junge Damen, deren schweres Gepäck unter anderem ein Kamerastativ umfasste. Viel imponierender für mich waren bloße zwei Wörter, die ich aufschnappte, als kurz die Rede von einem Freund war, der sich auf Martinique in einer „Kajüte“ in der Nähe eines „Vulkans“ aufhalte. Mehr konnte und wollte ich nicht in Erfahrung bringen; mir reichten diese Wortschnipsel für meine Lektüre, die sogleich surreal wirkte, denn in jenem gerade begonnenen elften Kapitel ist tatsächlich die Rede von einem „rauchenden Kegel des Vulkans“ und von einer „Kapitänskajüte“. In Leipzig Hauptbahnhof zeigte ich den kurz als Beleg für diese unglaubliche Koinzidenz das Buchcover vor, bevor ich mich schnellen Schrittes vom Bahnsteig entfernte. Ich bereue fast, dass ich nicht eins, zwei Minuten länger die eine oder andere Frage zum Südsee-Abenteuer stellte, doch ein S-Bahn-Anschluss wollte und sollte erreicht werden.

Nun, Imperium ist umfangreich rezensiert worden – eine weitere Besprechung wäre hier unangebracht. Was mich erstaunte, ist die Tatsache, dass ich den Roman zunächst ohne Quellenrecherche gelesen habe und ich bis Schluss dachte, die geschilderten Sachverhalte seien von Christian Kracht erfunden worden. So ließ ich mich durch einen fiktionalen Text unbewusst auf historisches Verbürgtes ein. Die Biografie von August Engelhardt (1875 – 1919) ist etwa ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts im doppelten Sinne abwegig. Ab 1902 siedelte er auf einer Insel namens Kabakon, die zum heutigen Papua-Neuguinea gehört und noch nicht einmal einen Quadratkilometer groß ist.

Für mich lehrreich ist bei aller Absurdität des Lebensreformskonzepts der Hauptfigur August Engelhardt, der mit seinem allen Ernstes erdachten Kokovorismus elend auf der Südseeinsel Kabakon Schiffbruch erlitt und dort kurz nach Ende des ersten Weltkrieges verstarb, die Kraft der Symbolik. Im Roman wird diese Kraft auf die Spitze getrieben und verpufft, doch ist das Symbol der Kokosnuss im Hinduismus präsent, wie man in einem religionswissenschaftlichen Blog nachlesen kann. Während die Schale das Körperliche beschreibt, steht das Fruchtfleisch für unser Fühlen, Denken und Handeln, „für das Anhaften an der illusorischen Wirklichkeit“.  So lassen sich abstrakte Zusammenhänge in etwas Fassbares transportieren, analog zu einem Granatapfel, dessen Frucht in der jüdisch-christlichen Tradition Fruchtbarkeit symbolisiert.

Der Roman – der Titel spielt darauf an – entlarvt imperiales Gedankengut, in dem Allmachtsphantasien nicht unmittelbar in einen politischen Kontext gestellt werden. Auch auf die heutige Zeit könnte folgende Kostprobe anspielen:

Engelhardt war, nachdem er durch einen Eliminierungsprozess alle anderen Nahrungsmittel für unrein befunden hatte, unvermittelt auf die Frucht der Kokospalme gestoßen. Es gab gar keine andere Möglichkeit; cocos nucifera war, so hatte Engelhardt für sich erkannt, die sprichwörtliche Krone der Schöpfung, sie war die Frucht des Weltenbaumes Yggdrasil. Sie wuchs an höchster Stelle der Palme, der Sonne und dem lichten Herrgott zugewandt; sie schenkte uns Wasser, Milch, Kokosfett und nahrhaftes Fruchtfleisch; sie lieferte, einzigartig in der Natur, dem Menschen das Element Selen, aus ihren Fasern wob man Matten, Dächer und Seile, aus ihrem Stamm baute man Möbel und ganze Häuser; aus ihrem Kern produzierte man Öl, um die Dunkelheit zu vertreiben und die Haut zu salben; selbst die ausgehöhlte, leere Nussschale lieferte noch ein ausgezeichnetes Gefäß, aus dem man Schalen, Löffel, Krüge, ja sogar Knöpfe herstellen konnte; die Verbrennung der leeren Schale war nicht nur jener herkömmlichen Brennholzes bei weitem überlegen, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel, um kraft ihres Rauches Mücken und Fliegen fernzuhalten, kurz, die Kokosnuss war vollkommen. Wer sich ausschließlich von ihr ernährte, würde gottgleich, würde unsterblich werden. August Engelhardts sehnlichster Wunsch, ja seine Bestimmung war es, eine Kolonie der Kokovoren zu erschaffen, als Prophet sah er sich und als Missionar zugleich.

Es fällt nicht schwer, hier die Kokosnuss als universales Produkt angepriesen zu sehen, auf dem kommerzielle Interessen beruhen. Halbwahres  (Stichwort: Selen als nicht nur in Nüssen vorhandenes  Spurenelement)  wird mit pseudoreligiösem Popanz und germanischen Sagenwelten (Stichwort: Yggdrasil) kombiniert und dabei Exklusivität als Heilsbringer mit Hilfe von konsumistischer Werbesprache ad absurdum geführt.  Bitterböse wird hier auch auf zeitgenössische Geschäfts- und Lebenspraktiken – Stichwort ‚Allheilmittel’ geschaut. 

Das Ende von meiner Lektüre-Geschichte ist – die Ironie muss sein – auch mir als Konsumenten anheimgestellt. Am Abend des 02.02.23 griff ich beim Einkaufen ungeplant zu einem Produkt, dass „Kokosblütenzucker“ enthält – und kaufte es. Als ob sich da noch eine Spur von August Engelhardt darin verloren hätte….

Exemplarisch folgen hier die Rezensionen im Politik-Magazin Cicero, in der (leider 2020 eingestellte) Zeitschrift Der literarische Monat sowie in der Neuen Zürcher Zeitung. Auch ein Blog, der sich zentral mit der der Kokosnuss befasst, besprach den Roman genauso wie das einschlägige Forum literaturkritik.de.  Die handliche Fischer-Taschenbuch-Ausgabe kann u.a. bei Weltbild bestellt werden. Das lange Zitat befindet sich dort auf den Seite 21 und 22.  Einige Fotos und Dokumente aus der Südsee hat Der Spiegel zur Verfügung gestellt.

Sprachliche Eskapaden: Über einige Werbebotschaften der Berliner Verkehrsbetriebe

Wenn man einen Deutschkurs mit der etwas sperrigen Bezeichnung „Marketing unter interlingualem Aspekt“ unterrichtet, dann sollten sprachliche Finessen unter die Lupe genommen werden. Im Dezember 2022 beschäftigte ich mich im Kurs mit dem Auftritt der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in den Sozialen Medien. Mir waren schon vorher Plakate an Berliner Haltestellen aufgefallen, die großen Wert auf das Spiel mit der Sprache legen. Und eine längere Recherche auf Instagram bestätigte dies. Besonders ausführlich kam folgendes Plakat zur Geltung, das angeblich ein ungestelltes Foto aus dem Jahr 2013 enthielt. Es kursierte danach auch im Internet (spätestens seit Januar 2015 auf einem tumblr-Fotoblog zu Berlin) und wurde am 18.01.2016 von der BVG auf Facebook mit dem Kommentar „Schon wieder Fashion Week. Da tragen wir doch einfach noch mal die alten Plakate auf.“ hochgeladen:

BVG-Plakat
Plakat der BVG am U-Bahnhof Hermannplatz, fotografiert um 2015

Das Plakat setzt geschickt Bild und Text aus dem realen Leben in Szene und regt zum Schmunzeln an, da der ungewöhnliche Ausdruck „den Stil hochfahren“ auf einen wohl älteren Herren trifft, der zum einen wortwörtlich eine Rolltreppe in einer Berliner U-Bahnstation der U1 (vermutlich Nollendorfplatz) hochfährt und – ästhetisch gesehen – als ungewollte Werbe-Figur herhält. Seine sommerliche Kleidung vermittelt einen casual look, der ins Auge sticht. Wer sich für Mode interessiert, wird das Stechen aufgrund des ausgereizten Karo- Formspektrums von Hemd und Shorts zusammen mit den weißen Strümpfen unangenehmer und intensiver empfinden als jemand, der auf praktische Freizeitkleidung steht. Insofern könnte man gut das „Hochfahren“ als Vorschlag deuten, die Fashion Week zum Anlass für etwas stylishere, höherwertigere Kleidung zu nehmen, die sich auch für höhere Anlässe eignen. Auf jeden Fall wird hier ein kommunikativer Zusammenhang zwischen einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Fahrgast und einer Veranstaltung hergestellt, denn natürlich ist es denkbar (wenngleich nicht gerade wahrscheinlich), dass die abgebildete Person die halbjährlich stattfindende Fashion Week besuchen möchte. In diesem Kontext ließe sich auch der augenscheinliche Fahrgast in ein positives Licht rücken, denn er nutzt die öffentlichen Verkehrsmittel  in einem lässigen, luftigen Look – und die Verbindung zur Fashion Show evoziert einen aktiven „Lifestyle“. Dieser wohlwollende Ansatz stammt von mehreren Studenten aus meinem Marketing-Seminar aus China / Taiwan, von denen einer seine Gedanken auch schriftlich festhielt. Ich zitiere:

Die ersten Gedanken, wenn man an den Begriff „Fashion“ denkt, sind für viele Menschen Bekleidung und damit in Verbindung die jüngere Generation. Fashion befasst sich jedoch nicht nur mit Bekleidung, sondern auch mit einem Lebensgefühl und -stil, dem sogenannten Lifestyle. Sich wieder jung und modisch zu fühlen, bedeutet nicht, dass man sich sehr schick oder trendbewusst anziehen muss. Die ältere Generation hat ebenfalls die Möglichkeit an diesem Trend teilzunehmen und sich wieder jung zu fühlen, indem sie wie früher mit der Bahn fährt.

Diese Deutung ist sicher ebenfalls im Sinne der BVG und auch des Veranstalters der Fashion Show – Stichwort Zielgruppenerweiterung. Darauf komme ich noch einmal zurück.

Spielerisch-ironisch ist auch ein Instagram-Post vom 13.10.2022 anlässlich eines Backstreet-Boys-Konzerts gemeint, bei dem man ja auch von einer Show sprechen kann. Die BVG kommentiert ihn folgendermaßen: „Für alle, die es nicht kennen: Das sind die Elevator Boys der 90er.”

BVG - Backstreet Boys
Instagram-Post der BVG am 13.10.2022 anlässlich des Backstreet-Boys-Konzerts in Berlin

So mancher Boygroup-Fan könnte hier sicher die Rolle des Telefonjokers übernehmen, der alle Songtitel korrekt nennen kann. Bis auf den letzten Titel hatte ich alle parat – natürlich kein großes Kunststück, wenn man die 90er Jahre als Teenager erlebt hat (und ich bislang die Elevator Boys überhaupt nicht kannte). Da ich oft mit der U5 fahre, ist natürlich für mich die Verballhornung des Titels Larger than life großartig, wenn man bei englischer Aussprache sich einen Reim aus „life” und „U5” macht! Die deutsche Übersetzung von „get down” ist in Verbindung „You’re the one for me” im Original bzw. „the Maskenpflicht’s still around” überhaupt nicht trivial: dank von Nachschlagehilfen fände ich die Übersetzung „Merke Dir!” nicht schlecht (im Original-Refrain heißt es „and move it all around”). Diese Bedeutung war mir zuvor unbekannt.

Ein weiterer, sehr auffälliger Instagram-Post, ebenfalls aus dem Oktober 2022, wirbt mit dem 29-Euro-Ticket, indem es ganz auf Jugendsprache setzt:

Jugendsprache bei der BVG
Instagram-Post der BVG am 25.10.2022 zur Einführung des 29-Euro-Tickets

Ich gebe zu, dass ich hier ohne weitere Informationen chancenlos wäre und delegiere eine gute Übersetzung dem kreativen Leser, der auch mehr mit gommemode (super stark) bzw. flexen (mit seinem Verhalten angeben) und smashen (eine intime Beziehung eingehen) etwas anzufangen weiß. Nun kann keiner sich mehr darüber beklagen, dass gewisse sprachliche Register nicht bedient würden. Aus dem BVG-Kommentar wird diese sprachliche Stilblüte bewusst ironisch verzerrt: „Unser Arbeitskreis BVG 30+ präsentiert seine neueste Arbeit zum Thema ‚Tagesaktuelle Zielgruppen-erweiterungsmaßnahmen’”. 30+? Die (An-)Sprache soll für die gedacht sein, die noch die 1990er Jahre erlebt haben??

Kompliment an die Kreativität der Werbetreibenden, die hier Plakatkunst in die virtuelle Welt verlagern. Hierfür brauchen wir in Zukunft keine Museen, wohl aber gut gesicherte digitale Archive, damit wir noch 2030 und später wissen, dass 2022 smashen (Smash ist das Jugendwort des Jahres 2022!) und cringe (peinlich) als Jugendwort 2021 salonfähig geworden sind!

Die BVG-Imagekampagne Weil wir Dich lieben wurde von der Agentur GUD.berlin GmbH entwickelt und läuft seit 2015. Sie ist ein gutes Beispiel für das sogenannte Content Marketing.

Angriffslustig: Zu einem höchst kurzweiligen Klaviertrio

Ich musste mir einen Ruck geben, von Zwickau zu einem Kammerkonzert nach Bayreuth zu fahren. Auch wenn dies dank der guten Autobahnverbindung  in ca. 75 Minuten zu bewältigen ist, so klingt es merkwürdig, für einen Konzertabend von Westsachsen nach Oberfranken den Weg auf sich zu nehmen. Bis in die 1990er Jahre, also bis zur Fertigstellung der Elstertalbrücke der A72, muss dieser Weg auch noch nach der Wiedervereinigung zäh gewesen sein – und bis zum heutigen Tag hat man so gut wie keine Chance, angemessen mit der Bahn in den späten Abendstunden diesen Weg zurückzulegen. Die Gefahr des Strandens in Hof ist nicht gerade niedrig. 

Doch weil ich unbedingt einmal den renovierten Veranstaltungsort „Das Zentrum“ wiedersehen wollte, den ich im Festspielsommer 2004 so oft als Praktikant des Festival Junger Künstlers aufsuchte, hatte ich einen Grund mehr, mich nach der Arbeit ins Auto zu setzen. Dass während der Konzertpause von zwei Konzertbesucherinnen abfällig über diesen, etwas spröden Ort gesprochen wurde, konnte und wollte ich nicht hinnehmen, denn ein Jugendkulturzentrum sollte kein prachtvoller Ort sein. Es steht für neuartige Formate zur Verfügung, was das Publikum  auch anzuerkennen wusste:  Das schöne Wort „extravagant“ schnappte ich als Kommentar zum Programm auf. Der Ort schafft letztlich den Rahmen für dieses positive Urteil!    

Mich reizte besonders ein hervorragend zusammengestelltes Konzertprogramm, das als „Trios des femmes“ betitelt war. Die Kulturfreunde Bayreuth luden dazu Ende November 2022 das junge Trio Lilium (Silvia Rozas Ramallai, Flöte; Max Vogler, Oboe; Knut Hanßen, Klavier) ein. Ausschließlich wurden Werke von Komponistinnen aufgeführt, von denen ich zuvor nur Clara Schumann und Lili Boulanger zuordnen konnte. Vor allem reizte mich das zuletzt gespielte Trio der aus London stammenden Madeleine Dring (1923-1977), das anders als die zuvor gespielten Trios von Germaine Tailleferre und Mélanie Hélène Bonis für die Originalbesetzung Flöte, Oboe und Klavier komponiert worden war.

Zu Beginn  des Neuen Jahres könnte keine Spielanweisung besser passen als „with attack, but not too heavily“. Sie steht am Anfang des Trios aus dem bewegten Jahre 1968. Dieses strahlende C-Dur-Harmonie ist zusammen mit dem ausgeklügelten Rhythmus unverwechselbar. Das Notenbild zeigt die vielen Taktwechsel, die mich an einen Schwank erinnern, wobei im Wort ja auch das Schwankende, Wechselhafte steckt. Humor, Witz und Freude lassen sich kaum besser instrumentieren:

Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 1 – 10.
Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 11-22.

Was mich beeindruckt, ist die lebensnahe Charekteristik dieser Musik, die sich auch im schlichten zweiten Satz, der Ohrwurmpotenzial hat, und dem teils anmutigen („gracioso“), teils virtuosen („brillante“) dritten Satz zu hören ist. Sonst hätte auch nicht die Intendanz der Bielefelder Philharmoniker ein kleines (Appetizer-) Video mit dem schönen Titel Der Klang der Stadt gedreht , in dem der erste Satz von Drings Trio vom Trio Tastenwind interpretiert wird, wobei hier die Oboe durch die Klarinette ersetzt wurde.

Im Programmheft, das das Trio Lilium ausdrücklich vor dem Konzert als gut recherchiert lobte, steht zu Madeleine Dring:

Dring strebte danach, in ihren Kompositionen Neuheiten und überraschende Momente zu präsentieren in der Hoffnung, dass ihre Musik einerseits ein klein wenig schockierend wirkte, andererseits aber den Hörer auch zum Schmunzeln brachte.

Der Pianist Knut Hanßen vergaß nicht zu erwähnen, dass Drings Ehemann ein Oboist gewesen ist, was sich sicher förderlich für die Komposition auswirkte. Darüber hinaus steckt in dieser Musik so viel Bühnenreifes, dass es nicht verwundert, wenn ich lese, dass Dring „Musik für Revuen, für Theaterstücke und für Fernsehproduktionen von Bühnenstücken“ schrieb. Mit diesem Schaffen ist es nicht leicht, bekannt zu werden, weil es sicherlich keine großen, opulenten Werke sind. Das ist bei vielen Komponisten nicht anders – nur die wenigsten werden wirklich bekannt.  Umso wichtiger, sich regelmäßig Kompositionen zu widmen, die einem womöglich nur einmal im Leben live begegnen. Dem Trio Lilium bin ich genauso dankbar wie den Kulturfreunden Bayreuth.

Das Konzertprogramm findet sich hier. Die Noten des Trios lassen sich über die Seiten der Pianistin Caecilia Boschman finden. Auf Youtube gibt es eine gute Aufnahme mit Jeanne Baxtresser (Flöte), Joseph Robinson (Oboe), und Pedja Muzijevic (Klavier).

Besonders wachsam: Wenn es in den Ohren klingelt

Ende November hatte ich das Vergnügen, zum wiederholten Mal einen Künstler in seinem Atelier in der Nähe des sächsischen Waldenburg aufzusuchen, der durch seine Lebensgeschichte und seine Gemälde mich stets im positiven Sinne herausfordert. Frithjof Herrmann ist in einschlägigen Kreisen kein Unbekannter – zumindest nicht im Umkreis seiner Geburtsstadt Zwickau. Ich lernte sein Werk in einer Ausstellung in Meerane bei Glauchau kennen und war sofort von seinen Farbkompositionen in den Bann gezogen. An weiterführenden Schulen hat er sein künstlerisches Wissen über Jahrzehnte vermittelt; bis zum heutigen Tag unterrichtet er das eine oder andere junge Talent.

Atelier von Frithjof Herrmann
Das Atelier von Frithjof Herrmann in Niederwiera bei Waldenburg; November 2022.

Nachfolgend geht es um ein einziges Wort, das Frithjof aussprach und in meinen Ohren klingelte. Im leicht sächsisch gefärbtem Dialekt hörte ich so etwas wie „fischilant“; nur wenige Augenblicke später sprach ich ihn auf das Wort an, das er als „vigilant“ bestätigte und es im Kontext sicher auch korrekt für seine Selbstbeschreibung verwendete. Es war mir noch nie im Deutschen zu Ohren gekommen; dank des Französischen, das es neben dem Englischen in gleicher Schreibweise kennt, war mir klar, was er meinte. Nur dachte Frithjof, dass das Wort (weiterhin) recht geläufig sei. Da musste ich Zweifel anmelden. Und siehe da: Der Zusatz „veraltet“ wird bei wortbedeutung.info der Worterklärung vorangestellt. Als vigilant gilt bzw. galt jemand, der „eine hohe Intelligenz mit scharfem Verstand“ aufweist. Auf Frithjof Herrmann trifft das zu, denn er hat sein langes Leben auch dank dieser Eigenschaft eindrucksvoll gemeistert. Im Englischen und Französischen ist die Bedeutung etwas anders: Hier geht es darum, „mit Sorge und Hingabe“ auf etwas zu achten. Das trifft auch auf meine Erfahrungen mit diesem Wort in Frankreich zu: „Restez vigilants!“ kann man leicht mit „Bleiben Sie wachsam!“ übersetzen. Hierfür sollte man selbst Sorge tragen; mit Scharfsinn hat das weniger zu tun.

Seit den 1970er Jahren ist in unserem Nachbarland der „Plan Vigipirate“ in Kraft. Durch Museums- und Theaterbesuche ist mir der Begriff seit den 2000er Jahren vertraut, obwohl ich die eigentliche Bedeutung bislang nie recherchiert hatte.  Ich muss dabei stets an einen Piraten denken, auch wenn, wie ich kürzlich erfuhr, der Begriff ein vollständiges Akronym ist. „Vigi“ steht dabei für „vigilance“ (Wachsamkeit) und „pirate“ für „protection des installations contre les risques d’attentats terroristes à l’explosif“. Hier wird deutlich, dass das Französische auch bei sehr ernst zu nehmenden politischen Maßnahmen quasi spielerisch mit Sprache umgeht. Denn es liegt auf der Hand, dass sich gedanklich der Angesprochene  wachsam gegen Piraten verhalten sollte, auch wenn der Piratenbegriff eigentlich für Straftäter auf hoher See vorbehalten ist, wo nicht schnell staatliche Gewalt eingreifen kann. Würde man in Deutschland nicht lang darüber diskutieren, ob hier nicht Missverständnisse zu erwarten seien? Man könnte ja auch denken, dass man selbst zum Piraten wird – seit dem Aufkommen der Piratenpartei in den 2010er Jahren liegt dies nicht ausschließlich im Bereich der Fantasie.  Übrigens wird der Begriff „Vigilanz“ im Deutschen in der Neurologie  verwendet und bezeichnet einen Zustand der Wachheit bzw. Aufmerksamkeit, mit der der Mensch gewisse Leistungen absolvieren kann. Sowohl Wachsamkeit als auch Scharfsinnigkeit kommen hier als menschliche Grundfähigkeiten ins Spiel. 

Auch die Bibel erinnert uns öfter an unsre Wachsamkeit, am prominentesten im 24. Kapitel des Matthäus-Evangeliums: 

Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, zu welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht.

Dieses Gleichnis vom „wachsamen Hausherrn“ appelliert an das, was Frithjof Herrmann als „vigilant“ bezeichnete.  Man weiß ebenso wenig vorher, wann die Gefahren lauern und wann Christus uns begegnet. Man könnte sogar sagen: „Im Begriff der Wachsamkeit sind alle moralischen Einzelforderungen zusammengefasst.“ Jedenfalls hat mich wachsames Zuhören zu diesem Artikel geführt, der ohne das Schlüssel-Wort aus dem Mund eines  „vigilanten“  Künstlers nicht entstanden wäre…

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