Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Monat: Juni 2025

Ein doppelter Glücksmoment – Über die Pause als Prüfungsthema

Beitrag oben halten

An einem Wochenende im Frühjahr hörte ich das kurzweilige Deutschlandfunk-Feature von Andrea Gerk über Pausen. Der Titel „Über das große Glück der kleinen Unterbrechung“ ist ebenfalls thematisch hervorragend für anspruchsvolle Prüfungen, wie ich vorletzte Woche erleben durfte.  Ich inszenierte diese in Form einer 45-minütigen Gesprächsrunde, die nahezu optimal verlief. Ich musste nur zwei, dreimal Fragen einwerfen; ansonsten waren die Gesprächsbeiträge so gut aufeinander bezogen, dass das Zuhören trotz mancher sprachlicher Mängel ein Genuss war. Vermutlich lag es am Thema, das sowohl leicht verständlich als auch differenziert genug war. 

Den idealen Schlusspunkt setzte ein kamerunischer Gastdozent, nachdem wir über die unterschiedlichen Vorstellungen zu „Auszeit“ gesprochen hatten. Wörtlich sagte er: „Ich würde mich freuen, wenn die Auszeit in die Mentalität der Kameruner eingeführt würde.“ Zuvor war die Rede davon gewesen, dass nicht nur in Afrika, sondern auch in Mitteleuropa, zum Beispiel in Tschechien,  es unvorstellbar sei, das hiesige Konzept der Auszeit für sich in Anspruch zu nehmen, wenn es nicht in der sportlichen Verwendung (im Sinne von time-out) verwendet wird.  Wer von Auszeit spricht, muss im Grund ein distanziertes Verhältnis zum Faktor Zeit haben, vor allem zur Arbeitszeit. Denn Auszeit und Arbeitszeit stehen in einem gewissen Gegensatz zueinander. Der KI-Chat der Lernplattform fobizz antwortet mir Folgendes:

Dies (sic!) beschreibt eine Zeitspanne, in der jemand bewusst von der Arbeit oder alltäglichen Verpflichtungen pausiert, um sich zu erholen, zu entspannen oder persönlichen Interessen nachzugehen. Eine Auszeit kann kurz sein, wie eine Pause während des Arbeitstags, oder länger, wie ein Sabbatical.

Nun, so ganz glücklich bin ich mit dieser Antwort nicht, da hier wiederum die Unschärfe des Begriffs so aufscheint, das man kaum noch damit sinnvoll argumentieren kann. Während eine Arbeitspause in ihrem zeitlichen Umfang im Arbeitszeitgesetz vorgeschrieben ist, ist der englische Ausdruck „sabbatical“ wiederum eng mit einem „Sabbatjahr“ verbunden. Das Dazwischen in Form von Wochen und Monaten kommt hier zu kurz! Und genau deshalb braucht es unterschiedliche Perspektiven.

Enden möchte ich mit dem schönen Gedicht Der kleine Unterschied von Mascha Kaléko (ca. 1940 geschrieben):

Der kleine Unterschied

Es sprach zum Mister Goodwill
ein deutscher Emigrant:
„Gewiß, es bleibt dasselbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiss, ich bin sehr happy:
Doch glücklich bin ich nicht.“

(Aus: In meinem Herzen läutet es Sturm)

Ganz eindeutig wäre das Gedicht ohne die Exilerfahrung in den Vereinigten Staaten undenkbar. Doch ich frage mich, ob man auch bei einem längeren freiwilligen Auslandsaufenthalt zu einem ähnlichen Ergebnis kommen würde: Selbst wenn es Äquivalenz zwischen zwei Begriffen aus unterschiedlichen Sprachen gäbe (z.B. zwischen „happy“ und „glücklich“), würde man doch betonen können, dass das Glücklich-Sein sich nur dort einstellt, wo man „Heimat“ lokalisieren würde. Kaléko hat sicher nicht zufällig vier deutsche und vier englische Wörter in diesem Gedicht gegenübergestellt. In einer englischen Übertragung wurde „homeland“ durch „home“ ausgetauscht, was nicht verwundert, da auch „Heimat“ eines der emotional aufgeladendsten Wörter der deutschen Sprache ist: Das Ursprüngliche ist dort genauso enthalten wie das biografisch Bekannte in Verbindung mit dem Wohlfühlaspekt (Stichwort: Wahlheimat). Ohne Heimatgefühl, kein Glücksgefühl, sozusagen. So ist es leicher verständlich, warum man in Land A „happy“ und in Land „B“ glücklich sein kann.

Beim Begriff Auszeit kapitulieren Übersetzungstools wie deep-l; sie schlagen in vielen Sprachen nur time-out vor, das ja das Anhalten der Spielzeit vorsieht. Auszeit steht eben mit „Glücklich-Sein“ in keinem direkten Zusammenhang; außerdem steht dazu die Frage im Raum, warum das Lebensglück nicht mit der gewöhnlichen Zeit in Bezug gesetzt werden kann… Bevor es allzu philosophisch wird, breche ich hier lieber ab.

Nun, in der anstehenden Urlaubszeit lässt sich mit dem Begriff „Auszeit“ jonglieren, damit wir „in time“ wieder mit Freude und Elan der mehr oder weniger geliebten Arbeit frönen!

Kalékos Gedichtsammlung lässt sich einfach bei dtv bestellen.

Politik aus Beratersicht – Über die französische Komödie “Alice oder Die Bescheidenheit”

Beitrag oben halten

Endlich habe ich einen Film entdeckt, der eindrucksvoll Lyon bebildert: Alice et le maire (dt. Titel: Alice oder Die Bescheidenheit) ist eine Polit(tragi)komödie par excellence und zugleich auch eine Möglichkeit, mich in einen Stoff an einem Ort hineinzuversetzen, an dem ich gerne Anfang 2002 knapp drei Monate gelebt habe.

Die Alice Heimann  verkörpernde Anaïs Demoustier hat zurecht den César Anfang 2020 gewonnen. Zusammen mit dem ebenso überzeugenden Fabrice Luchini harmoniert sie bestens. Das ist auch entscheidend, denn im Film soll sie, anders als bei ihrer Einstellung in die Stadtverwaltung vorgesehen, dem schwächelnden Bürgermeister Lyons zu neuem Schwung verhelfen. Sie führt das amtsmüde Stadtoberhaupt hinein in die herausfordernde Bewerbung zum sozialistischen Kandidaten für die französische Staatspräsidentschaft. Schließlich bietet der Film kein „happy end“, sondern ein realistisches Szenario eines letztlich scheiternden Politikers, dessen Karriere aber auch stillschweigend Erfolgssträhnen aufwies.

Wer sich für Politik interessiert, wird hier auf seine Kosten kommen. Zwei große Aspekte möchte ich herausgreifen:

  • Aspekt 1: Ideen-Arbeit

Paul Théraneau, Bürgermeister von Lyon, gibt gegenüber Alice in seinem Büro offen zu, dass er keine Ideen mehr habe. So heißt für Alice die Devise: „travailler aux idées“. Seine Gesprächspartnerin möchte zurecht wissen, was er unter „Ideen“ verstehe, und beruft sich dabei auf die verschiedenen Definitionen, die Philosophen dazu geliefert hätten. Paul weist darauf hin, dass ihm bereits ein Coach sowie eine psychotherapeutische Beratung angeboten wurden, er aber die Philosophie bevorzuge. Er vergleicht sich recht ausschweifend mit einem Rennwagen ohne Sprit, der nur aufgrund dessen Trägheit noch in Bewegung sei.

Doch so einfach ist das Zusammenspiel nicht: Pauls Büroleiterin Isabelle Leinsdorf (sehr überzeugend kühl gespielt von Léonie Simaga), signalisiert Alice, dass ihre Anmerkungen dem Stadtoberhaupt den Geist verdüsterten („obscurcir l’esprit“), was auf den Konflikt zwischen Intellektuellen und den sogenannten Machern hinweist. Doch ein Abendessen mit Pauls Ex-Frau löst diese Bedenken auf. Paul begreift, dass er mit der Intellektuellen Alice mehr Gemeinsamkeiten aufweist als gedacht.

Man merkt recht schnell, dass der Film die Kategorien „links“ und „rechts“ gegenüberstellen will, die gerade in Frankreich eine zentrale politische Funktion haben. Selbst die Kameraführung hat darauf geachtet; wie kommunizierende Röhren stehen sich die Kategorien gegenüber:

Links - rechts (gauche - droite)
Wie kommunizierende Röhren: Links (Gauche) und Rechts (Droite) als politische Kategorien – Screenshot aus Alice oder Die Bescheidenheit; Regie: Nicolas Pariser, 1h07min16sek.

Viel Zeit nimmt sich der Film für die wohl schwierigste Mission von Alice, nämlich für Paul die „Rede seines Lebens“ zu schreiben, als er sich um das wichtigste französische Amt bemüht. Das Feilen am Redemanuskript mündet am Ende auch in die Einblendung dieses Dokuments, in dem ganz am Ende auch der Ruf nach Bescheidenheit („modestie“) und nach Bildung sowie nach einer einfacher und gerechter organisierten Gesellschaft und Wirtschaft geäußert wird (wie auch immer das genau aussehen mag). Die Sprache und die politischen Ambitionen legen den Akzent jedoch eher auf das Großspurige, Radikale so dass „die Bescheidenheit“, wie im deutschsprachigen Filmtitel thematisiert, den Hunger nach Macht unterstreicht. Wie das Bedürfnis nach Redekunst im Schlussteil des Films inszeniert wird, ist eindrucksvoll. Sogar die über tausende Kilometer auseinander liegende Produktion von Joghurtbechern und Joghurt in der Vergangenheit wird explizit thematisiert (hier fehlt allerdings der Faktencheck!!):

Redemanuskript
Pauls Redemanuskript; Screenshot aus Alice oder Die Bescheidenheit; Regie: Nicolas Pariser, 1h33min33sek.

Es würde den Rahmen sprengen, hier die vielen indirekten Textzitate aus mehreren philosophischen Werken genauer anzuschauen.

  • Aspekt 2: Stadt-Ideen

Die ersten drei Minuten des Films reichen im Grunde aus, um die Stadt topografisch zu erfassen. Die Treppen, die Alice vom Viertel Croix-Rousse hin zum Rathaus hinabsteigt, bleiben im Gedächtnis. Damals fehlte mir das Interesse, sie zu abzulichten; heute weiß ich, dass eine Stadt mit vielen Treppen reizvoll aufgrund der Perspektivik ist. Im Film kann der Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes in die Handlung eintauchen, die an Alices neuem Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe zur Personalabteilung der Stadtverwaltung einsetzt:

Die Treppen in Lyon
Charakteristische Treppen in Lyon – Screenshot aus Alice oder Die Bescheidenheit; Regie: Nicolas Pariser; 1min35sek

Alice wird bei den Beratungen eines „comités de réflexion“ zu einer Vision für Lyon 2500 eingespannt, um die 2500 Jahre alte Geschichte der Stadt zu ihren Gunsten als Trumph zu vermarkten und  zu zeigen, dass die Stadt anders als die Bevölkerung „links“, also progressiv ist. Substanziell kommt dabei wenig heraus, meist sind es großspurige Wünsche, gerade von einem fragwürdigen und blassen Berater namens Patrick Brac. Der Widerspruch bleibt unauflöslich: Die Stadtgeschichte soll für die Zukunft(sforschung) herhalten (im Film ist häufiger von „prospective“ die Rede). Alice merkt schnell, dass ihr wichtigster Kritikpunkt vom Stadtoberhaupt ernst genommen wird: Es fehlt gerade bei diesem Projekt an Bescheidenheit, die durch die Betonung der begrenzten Ressourcen in der Welt wieder erlangt werden könnte. Der linke Bürgermeister, der traditionell an den sozialen und kulturellen Fortschritt der Gesellschaft glaubt, kann sich jedoch nicht damit abfinden, Ressourcenknappheit zu verwalten.

Die unergiebigen Absprachen und Dialoge zeigen sich vor und nach einem Opernabend: Die ganze Entourage von Alice schaut sich mit ihr in der berühmten Oper (gebaut von Jean Nouvel) Richard Wagners Das Rheingold an; sichtbar werden die Aufführungsplakate mit dem Titel Un ring für die vier Ring-Opern Wagners gezeigt. Dabei rückt der Opernstoff komplett in den Hintergrund; Alice hat eigentlich ein Date mit einem Intellektuellen, der an einer Podiumsdiskussion zu Lyon 2500 teilgenommen hat, doch kann sie sich nicht von ihrer beruflichen Umgebung befreien.

So ist kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie ein Film entstanden, der ohne die Bezugnahme auf Social Media das Wesen und das Unwesen von politischem Gestaltungswillen inszeniert. Teils komisch und im wahrsten Sinne des Worte leichtfüßig (Paul Théraneau gibt sich auch als Fan von Birkenstock-Sandalen zu erkennen!), teils nachdenklich und leise, so dass die Titelmusik, das Siciliano für Klavier (BWV 1031), einen glänzend ruhigen Ton vorgibt. Das Unspektakuläre schafft in diesem Film den ausreichenden Tiefgang.    

Der Film ist leider in der deutschen Version im Internet nicht zu finden. Auch die französische DVD (Produzent ist das Unternehmen bizibi), bestellbar bei der Fnac, hat keine mehrsprachige Version  zu bieten. Über Privatanbieter lässt sie sich am einfachsten beziehen. Zur Info noch eine weitere Rezension zum Film. Deutlich positiver berichtete das Schweizer Fernsehen zum Film.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén