Mit einem gewissen Augenzwinkern könnte man es als Jahrhundertereignis bezeichnen, dass die Chorfantasie von Ludwig von Beethoven 2020 eine neue, längere (acht statt sechs Strophen!) Textfassung erhielt. Und das von niemand geringerem als von Prof. Norbert Lammert, dem langjährigen Bundestagspräsidenten. Das ungewöhnliche Werk für Chor, Orchester und Klavier (Opus 80) hätte im Beethoven-Jahr 2020 mit dieser Fassung in der Essener Philharmonie Premiere gehabt; aufgrund der Pandemie wurde sie am 10. Juni 2023 innerhalb eines festlichen, gattungsübergreifenden und deshalb aus der Reihe fallenden Rahmens aufgeführt. Nur durch diese mehrjährige Verspätung kam ich in den Live-Genuss, da mein Vater seinen 75. Geburtstag mit diesem Beethoven-Abend krönte. Übrigens hatte eine Kammermusik-Version (für Chor und Klavier zu vier Händen) am 3. Oktober 2020 Premiere; selbstverständlich am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Lammert leitet.

Prof. Lammert äußert sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung er verweist auf seiner Homepage auf seinen Artikel zu dem ungewöhnlichen Arbeitsauftrag. Er erinnerte dabei daran, dass Beethoven „Rahmen aufgebrochen hat, ohne sie zu zerstören“. Die Chorfantasie und die Weiterentwicklung in eine Sinfonie, nämlich der Neunten, erwähnt Lammert als Beispiel für eben jenen aufgebrochenen Rahmen. Der Melodiekern der Vertonung von Schillers An die Freude findet sich nämlich schon in der außergewöhnlichen Chorfantasie.

Den ersten Text steuerte ebenfalls ein politisch Tätiger bei, nämlich der Dichter und „Geheime Staats- und Konferenzrat“ Christoph Kuffner (1780-1846) im Jahre 1808. Der „Dichter und Kulturminister“ der Deutschen Demokratischen Republik, Johannes Becher (1891-1958), textete 1951 die zweite Version. Also auch zumindest im weiteren Sinne ein Politiker.  Was liegt näher, die drei Textversionen der Chorfantasie miteinander zu vergleichen? Vorarbeit wurde schon geleistet: In der Zeitschrift Musik und Kirche werden in der sechsten Ausgabe des Jahres 2021 die drei Versionen gegenübergestellt. Der Autor Stephan Eisel betont in seinem Aufsatz (Titel: „‚vielleicht einen anderen Text’. Drei Texte für Beethovens Chorfantasie“) , dass der Frieden in allen drei Versionen thematisiert werde. Weitere inhaltliche Angaben macht er aber so gut wie nicht.

Kuffners Text wurde schon zu seinen Lebzeiten eher als mäßig beschrieben. In seiner dritten Strophe heißt es:

 Wenn der Töne Zauber walten

 Und des Wortes Weihe spricht

 Muss sich Herrliches gestalten

Nacht und Stürme werden Licht.

Wenn das keine Ode an die Kunst ist? Der Begriff ‚Schönheitssinn’ in der zweiten Liedzeile wird hier noch einmal in einer Überhöhung künstlerischer Gestaltung vor Augen geführt. Becher verändert nicht viel in seiner Version, doch eindeutig wird die Kunst in Zusammenhang mit einer friedfertigen, freiheitsliebenden Menschheit gebracht :

Wo sich Völker frei entfalten

Und des Friedens Stimme spricht

Muss sich Herrliches gestalten

Nacht und Träume werden Licht.  

Vor der künstlerischen Gestaltungsmacht ist also Frieden die Vorbedingung; die politische Dimension wird bereits deutlich spürbar. Bei Norbert Lammert wird der hohe Wert des Friedens innerhalb Europas Gesellschaften nun vollends in den Vordergrund gestellt, wenn wir in der fünften Strophe hören:

Traut dem Frieden, Europäer

Schätzt und schützt ihn allezeit

Glaubt den Aufgeklärten eher,

Als den Gegnern weit und breit.

Die Kunst wird in der dritten Version nicht noch einmal neu besungen – an ihrem hohen Wert gibt es keinen Zweifel. Doch wir haben gelernt, dass das Schätzen und Schützen von Werten, also auch dem Frieden, einer gewissen Anstrengung bedarf. Diese beiden wichtigen Verben, die phonetisch nur ein Umlaut unterscheidet, kann man in der Chorfantasie deutlich heraushören. Die Botschaft beinhaltet auch, dass es auf der Welt noch zu viele Friedensgegner gibt.

Die Vorstellung des Aufgeklärt-Seins bezieht sich hier weniger auf das Jahrhundert der Aufklärung, sondern mehr auf das Verständnis von Frieden und dessen Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander, das sich im europäischen Geist als Friedensethik ausformulieren lässt.

Lammert sprach im Sommer 2017 vor dem serbischen Parlament und erläuterte dabei, inwieweit ein Demokratieverständnis konstitutiv (also wie eine Verfassung) diesen europäischen Geist prägt:

Aus der Diktaturerfahrung und der Wahrnehmung einer entsetzlichen historischen Schuld, die wir auch und gerade gegenüber unseren europäischen Nachbarn eingegangen sind, ist ein neues Verständnis von Demokratie und Verfassung gewachsen, auch ein neues Verständnis vom notwendigen Umgang von Demokraten miteinander: ein anderes Verständnis von der notwendigen Balance zwischen Konkurrenz und Konsens, zwischen Konflikt und Kompromiss, zwischen Interessen und Überzeugungen. […]

Europa ist nicht nur ein großes Versprechen, es ist auch eine große wechselseitige Verpflichtung und nur mit der Erfüllung dieser freiwillig eingegangenen Verpflichtungen lässt sich das große Versprechen einlösen.

Ich persönlich höre nach Lammerts Text die Chorfantaise und ebenso Beethovens 9. Sinfonie anders als vorher. „Freude schöner Götterfunken“ klingt poetisch-erhaben, doch kann ich mich mit diesem Text nicht vollkommen identifizieren. Euphorie mag sich für mich bei diesen Worten und Klängen nicht einstellen. Ich finde es zugänglicher, Elemente der (problematischen) Wirklichkeit in einen Gesangstext aufzunehmen. Denn so werden Herausforderungen akzentuiert und nicht nur ferne, unerreichbare Höhen, die nur im Augenblick einen Klang-Rausch erzeugen können. Lammerts Worte dringen tiefer ein, auch wenn andere meinen könnten, dass bei ihm ästhetisch-klangvolles Vokabular ein wenig zu kurz kommt. Das mag sein, doch das haben Kuffner, Becher und natürlich auch Schiller in seiner Ode An die Freude schon geleistet. Die Appellfunktion ist nun stärker denn je; und das ist der Ruf des Augenblicks. Der Konzertsaal ist die eine Bühne, das europäische Parlament die andere Wirkungsstätte. Und wenn ich beide Orte zusammen denke, so erscheint mir die Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version mit eigenständiger Akzentsetzung wie eine musikalische Klammer, die es auch nach Brüssel zur Aufführung schaffen sollte. Vielleicht hört dann der eine oder andere EU-Parlamentarier zu; natürlich sollte die Textversion auch in alle im Parlament vertretenen Sprachen übertragen werden. Ob dann noch jemand an die Vokabel „feuertrunken“ (das Reimwort zu Götterfunken) denkt?

Ein Mitschnitt der Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version findet sich online noch nicht. Deswegen kommt hier ein Mitschnitt mit der Kuffner’schen Textversion aus dem Jahr 2014 (Solist: Frank Dupree). Und hier noch einmal das ungewöhnliche Programm mit dem Titel Ewig uns in der Essener Philharmonie am 10.06.23, bei dem auch Frank Dupree mitwirkte.