Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Mai 2022

Kurzweilige Langeweile – Über den “Ennui” in einem Kunstlied von Francis Poulenc

Ein Liederabend, der motivisch das Wechselbad der Gefühle In Sachen Liebesbeziehungen vorführt, wird gegenüber Sturm-und-Drang-Augenblicken sowie romantischen Phasen noch dazu konträre Stimmungsbilder aufbieten müssen. Doch was ist eigentlich anti-romantisch? Einen Begriff dafür ist nicht leicht zu finden. Das Französische hat mit dem Wort „Ennui“ dafür einen wahren Volltreffer im Angebot.  Denn es bedeutet nicht nur „Langeweile“, sondern auch „Überdruss“ und auch „Ärgernis“. Im Deutschen ist der Begriff nicht nur in der Wissenschaftssprache, sondern auch gelegentlich in den Printmedien zu finden.

Am 20. März 2022 boten Christina Maria Heuel (Sopran) und André Gass (Bariton) einen seit langer Zeit konzipiertes und sehr kurzweiliges Abendprogramm im Zwickauer Gewandhaus. Ich war vor allem von einem Lied begeistert, dessen Text aus der Feder von Paul Valéry stammt und von Francis Poulenc im Jahre 1940 komponiert wurde. Zwischen Text und Musik vergingen gut 20 Jahre! Den Titel Colloque würde man in der Bedeutung „Kolloquium“ gar nicht verstehen. In ironischer Manier bezeichnet das Wort laut dem
französischen Wörterbuch Le Petit Robert auch eine Unterhaltung („conversation“, „entretien“) Ein akademisches Gespräch findet ja mitnichten statt. Und im Lied singt zuerst der Bariton und dann nachfolgend die Sopranistin. Das ist erklärungsbedürftig.

Valéry schrieb „pour deux flûtes“ als Untertitel in Klammern dazu. In der ersten Publikation 1939  (also vor der Vertonung) in der Nouvelle Revue Française ist von „Pièce ancienne, composée pour être en musique“ die Rede.  In einer weiteren Ausgabe 1942 erfolgte die Widmung an Francis Poulenc mit dem Zusatz: „qui a fait chanter ce colloque“.  Valery wünschte sich also eine Vertonung, wie auch immer sie umgesetzt würde.  Wie wohl die zwei Flöten geklungen hätten? Geheimnisumwittert sind Valérys Texte ganz gewiss – und hier ebenso faszinierend. 

Der Bariton soll „sec“  und „très insensiblement“ singen; er trägt das Gefühlslose in sich. In ihm macht sich ein ennui breit, die er ganz zu Beginn von einer sterbenden Rose auszugehen vermeint:

D’une rose mourante

L’ennui penche vers nous

Tu n’es pas différente 

Dans ton silence doux

De cette fleur mourante;

Elle se meurt pour nous…

Das stille Sterben einer Rose verkörpert das Gegenüber. Der ennui scheint geradezu die Schönheit der Blume zu ersetzen!  Im Liedblatt wurde ennui mit „Langeweile“ übersetzt, doch „Überdruss“ scheint mir passender zu sein. Peter Schwanz übersetzte es für die Valéry-Gesamtausgabe im Insel-Verlag gleichfalls mit „Überdruss“.  Im Le Petit Robert wird dieser Begriff mit den Stichworten „mélancolie vague“ und „lassitude morale“ erklärt, was gut beschreibt, einer Sache einfach überdrüssig zu sein.  Der Sänger vergleicht sein Gegenüber mit zwei anderen Geliebten, von denen die eine ihm nicht zuhört und die andere ihm ergeben ist. Für ihn sind sie allesamt „genauso“ (laut Liedblatt) bzw. „ähnlich“ laut der Gesamtausgabe („pareil“), was einen Überdruss nicht besser verdeutlichen könnte. Es gibt für ihn keine persönliche Differenzierung: Es werden nur Sinnesorgane (Mund, Ohr) genannt, die für die Reize stehen, jedoch nicht den Geist ansprechen.  Die Noten sprechen mehrfach eine deutliche „Sprache“, gleichen sie doch in ihrer Abfolge einem lieblosen Vortrag:

Ausschnitt aus dem Bariton-Part in Francis Poulencs Colloque (1940)

Dass eine Schnittblume „für uns“ stirbt, entspricht der Wirklichkeit, denn was gepflückt ist, kann nicht lange weiterleben. Sie opfert sich für uns, ohne dass hier etwas Leidenschaftliches zur Geltung kommt. Der ennui lässt die Passion im Keim ersticken. 

Die Sängerin erwidert, dass Liebe nur frisch und spontan möglich ist. Was bringen schon die Erinnerungen an längst Vergangenes? Das Notenblatt zeigt hier mit der Anweisung „très doux“ und den schnell wechselnden, teils zauberhaft klingenden Harmonien das Gegenteil von „ennui“.  Der Gesangsvortrag soll einschmeichelnd und zugleich originell sein:

Ausschnitt aus dem Sopran-Part in Francis Poulencs Colloque (1940)

Es gibt in diesem Gedicht keine Antwort mehr – zwei Positionen stehen sich gegenüber.

In seiner 1935 gehaltene Rede mit dem schönen Namen Bilanz der Intelligenz (bilan de l’intelligence), auf die Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren (Klett-Cotta, 2021) hingewiesen hat, stehen folgende Schlüsselsätze aus der bereits erwähnten deutschsprachigen Gesamtausgabe (S.105), von denen die Autorin die ersten zwei Sätze zitiert:

Sprunghaftigkeit, hastiges Unterbrechen, überraschende Ablenkung machen allenthalben unsere Daseinsbedingungen aus. Bei vielen Individuen ist geradezu eine Sucht danach entstanden, und sie nähren sich im Geistigen gewissermaßen nur mehr von plötzlichen Abschweifungen und ständig wechselnden Reizen. „Sensationell“ und „beeindruckend“ charakterisieren als Schlagworte die ganze Epoche. Wir ertragen keine Dauer mehr. Wir können die Langeweile nicht mehr fruchtbar machen.

Im Französischen heißt der letzte Satz des Zitats im Original: „On ne sait plus féconder l’ennui“.  Wie auch immer man hier Langeweile begreift, scheinen doch diese Sätze im Zeitalter des Smartphones gültiger denn je.  Was nicht reißerisch daher kommt, wird kaum noch beachtet.  Im Colloque wird ennui künstlerisch in Kürze dargestellt und gespiegelt. Ästhetisch und kulturphilosophisch höchst ansprechend.

In der älteren Insel-Gesamtausgabe (Paul Valéry: Werke) steht im 1. Band mit dem Untertitel „Dichtung und Prosa“ die zweisprachige Version des Colloque auf den Seiten 222-225. Hier eine CD-Aufnahme des Lieds aus dem Jahr 2018. Valérys erwähnter Aufsatz Bilanz der Intelligenz ist im 7. Band („Zeitgeschichte und Politik“) nachzulesen; im Original ist er online verfügbar. 2021 wurde die Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag neu aufgelegt. Das Originalgedicht lässt sich hier nachlesen. Die Noten sind über die Plattform IMSLP abrufbar.

Programmierte Partnerschaft – Über den Film „Ich bin Dein Mensch“

Kaum ist man als Bahnreisender in der Gegenwart Berlins am Hauptbahnhof eingetroffen, kann man wenige Hundert Meter entfernt gleich in die Zukunft einsteigen – und zwar im Futurium, dem kostenlos zugänglichen Informationsort zu unserer Gesellschaft von morgen, das sich laut Homepage wahrhaftig als das „Haus der Zukünfte“ bezeichnet.

Dazu liefert der 2021 herausgekommene und bereits mit vier Lolas prämierte Film Ich bin Dein Mensch passendes Begleitmaterial. Maria Schrader hat überzeugend Regie geführt und die Protagonisten Alma (Maren Eggert) und Tom (Dan Stevens) glänzend in Szene gesetzt: Einerseits die etwas spröde wirkende Alma als Anthropologin im Pergamonmuseum, andererseits den humanoiden Roboter Tom, der, so sagt es das Drehbuch, auf den ersten Blick wie ein „Arme Leute Travolta“ daherkommt. Auf Bitten von Roger, einem Universitätsdekan, der als Mitglied einer Ethik-Kommission über das Wesen von künstlichen Kreaturen berichten soll, nimmt Alma an einer Studie teil, die das mehrwöchige Zusammenleben mit einer solchen Kreatur testen soll. Als Dankeschön dafür stehen dann Forschungsgelder für sie in Aussicht. Die nicht mehr allzu fern erscheinende Zukunft wird im Film buchstäblich durchgespielt.

Die erste Begegnung findet in einem „Berliner Tanzlokal aus der Nachkriegszeit“ statt. Die Mitarbeiterin der Firma Terrareca (aalglatt gespielt von Sandra Hüller) weiht Alma in den noch nicht ganz zuverlässig handelnden Roboter ein, den sie auch als Produkt vermarktet.   

Sie glauben nicht, wie kompliziert es ist, einen Flirt zu programmieren. Eine falsche Bewegung, ein falscher Blick, ein unbedachtes Wort, schon ist die ganze Romantik dahin, oder etwa nicht?

Im Interieur der Firma ist es leuchtend weiß: Zusammen mit dem Slogan „Dreams are our reality“, wird von Beginn an die mit Argwohn zu betrachtende traumhafte Wirklichkeit mit ganz besonderen ästhetischen Kameraeinstellungen konstruiert:

Terrareca ("Ich bin Dein Mensch")
In der Firma “Terrareca” (Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch, Regie: Maria Schrader, Letterbox Filmproduktion, 2021, 5’55”)

Die Mitarbeiterin vermeidet jegliche Romantisierung der Testsituation:

Ich weiß, dass Sie das alles mit einer gewissen emotionalen Distanz betrachten, und als Testperson sollen Sie das auch. Ich kann Ihnen aber nur empfehlen, sich auf diese Erfahrung ganz einzulassen. (…) Morgen ist es soweit.  Dann ist alles konfiguriert und Sie können Tom mit nach Hause nehmen.

Alma nimmt gegenüber ihrem Vorgesetzten das zukunftsträchtige Wort „mindfiles“ in den Mund, mit denen die Roboter gefüttert werden, damit sie überhaupt adäquat auf menschliche Äußerungen reagieren oder Erklärungsversuche geben können, wenn man selbst emotional arg belastet ist. Das ist dann der Fall, als Alma getröstet werden muss, weil eine argentinische Forscherin bereits die Forschungsfrage rund um eine antike Keilschrift, die Alma beschäftigt, beantwortet hat. Daten-Input reicht jedoch nicht aus: Jenseits davon soll auch ein Teil der Lebenswirklichkeit konstruiert werden, um mehr Gemeinsamkeit zu schaffen:

Wir empfehlen, an einer gemeinsamen Vergangenheit zu arbeiten. Eine Geschichte zu erfinden, wie man sich kennen gelernt hat. Nur wer eine Vergangenheit hat, hat auch eine Zukunft.

So kommt es, dass die beiden konstruieren, dass sie sich am Rande einer Forschungsreise in Kopenhagen kennengelernt hätten, einer Reise, die Alma noch bevorsteht. Auch werden Almas Urlaubsreisen an die dänische Ostseeküste in der Kindheit zu einem Bezugspunkt. Am Ende des Films sucht sie diesen Kindheitsort wieder auf, nachdem Tom die Koffer gepackt hat. Ihm begegnet sie dort wundersam wieder, ohne jegliche Emotion. Denn für Alma war der Abschied vom Roboter an der Zeit:

Er ist programmiert zur Simulation einer Empfindung, aber unfähig zu einer wirklichen Empfindung.(…) Tom ist eigentlich nur eine Ausstülpung meines Ichs!

Die Betonung liegt auf dem Ich, da an der Studie verständlicherweise nur Alleinstehende teilnehmen können. Der Umgang zwischen Alma und Tom zeigt eindrucksvoll, dass ein Roboter, mag er noch nur gut konfiguriert sein, keinen wirklichen Partner ersetzen kann. Es fehlt die Reibungsfläche zwischen dem Ich und dem Anderen. Die Ausstülpung steigert sogar noch die Ich-Bezogenheit; die Wahrnehmung von Andersheit bzw. Andersartigkeit findet nicht statt. Auch wenn es keinen inhaltlichen Konflikt zwischen Alma und Tom gibt, so findet doch eine Auseinandersetzung statt, für die Tom nicht verantwortlich sein kann, sondern nur Pate steht. Eindrucksvoller als Dan Stevens als Tom kann man diese Patenschaft kaum spielen. Der Wunsch nach Romantik im Badezimmer ist einer bei Tom einprogrammierten Statistik entnommen, nach der angeblich 93% der deutschen Frauen dies so wünschen. Nach eigenen Worten gehört Alma nicht dazu (wirklich nicht??), so dass Toms Mühen, Alma zu imponieren, keine Früchte tragen:

Romantik (Screenshot aus "Ich bin Dein Mensch)
Romantik im Badezimmer (Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch , Regie: Maria Schrader), Letterbox Filmproduktion, 2021, 29’33”)

Im Café mitten in Berlin ‚parkt’ Alma Tom, so dass er selber mitbekommt, wie sich die meisten Besucher in virtuellen Welten bewegen:

Blood Good Café (Ich bin Dein Mensch)
Im Bloody Good Café(Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch; Regie: Maria Schrader, Letterbox Filmproduktion, 2021, 25’34”)

Am Ende erhält der Film ein seminaristisches Fazit, als Alma ihre Erfahrungswerte in einem Gutachten auf Wunsch des Dekans darlegt und sich kritisch zu Toms Spezies äußert:

Doch ist der Mensch wirklich gemacht für eine Befriedigung seiner Bedürfnisse, die per Bestellung zu haben ist? Sind gerade die unerfüllte Sehnsucht, die Phantasie und das Streben nach Glück die Quelle dessen, was uns zu Menschen macht?  Wenn wir die Humanoiden als Ehepartner zulassen, schaffen wir eine Gesellschaft der Abhängigen, satt und müde von der permanenten Erfüllung ihrer Bedürfnisse und der abrufbaren Bestätigung ihrer eigenen Person. Was wäre dann noch der Antrieb, sich mit herkömmlichen Lebewesen zu konfrontieren, sich selbst hinterfragen zu müssen, Konflikte auszuhalten, sich zu verändern?

Mit dieser Frage entlässt der Film die Zuschauer. Im Futurium kann man ihr weiter nachgehen; dort wird der Film zusammen mit seiner feinsinnigen Musik, die sehr schön den Kammerton zum Schwingen bringt, womöglich noch länger nachwirken als im heimischen Wohnzimmer. In den eigenen vier Wänden wäre eine Gestalt wie Tom eher eine gruselige Vorstellung; als distanzierterer Betreuer an Lernorten fände ich ihn deutlich besser aufgehoben.

Der Film basiert auf der Erzählung „Ich bin Dein Mensch“ von Emma Braslavsky, die im Sammelband 2029 – Geschichten von morgen erschienen ist. Der Film ist noch bis Ende Juni in der ard mediathek verfügbar und als DVD bei vielen Anbietern erhältlich. Das Drehbuch ist bei der Deutschen Filmakademie in guten Händen.

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