Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Oktober 2022

Liefer-Biene: Zum Mopedauto im Film “Sommer auf drei Rädern”

Möchte ein Regisseur in seinem Film gewisse Entwicklungsprozesse im Raum-Zeit-Kontinuum anschaulich machen, so scheint dafür eine Kombination aus Roadmovie und Coming-of-Age-Film geeignet. Ein wunderbares Beispiel dafür ist Sommer auf drei Rädern von Marc Schlegel, der vom SWR in Auftrag gegeben wurde. Einen genaueren Blick lohnt hier die Auswahl des Vehikels, das aufgrund seiner drei Räder auffällig ist. 

Drei mit unterschiedlichen Schicksalen konfrontierte Jugendliche fahren mit einem „Mopedauto“  mit drei Rädern auf zwei Achsen von Stuttgart in Richtung Bregenz am Bodensee. Vorgestellt wird sie im Film wie folgt: „Piaggio Ape Tm 703, Baujahr 1986, keine Airbags, kein ABS, dafür eine Ladefläche für extra viele Warmehalteboxen und sportliche 11 PS“.  Ape heißt zu deutsch Biene und kommt wie die weltberühmte Vespa (Wespe) aus dem Hause Piaggio. Die Biene wird wie die Vespa in verschiedenen Ausführungen seit den 1950er Jahren hergestellt. Wenn das keine Erfolgsgeschichte ist! Sie ist wohl einer der kleinste Kleintransporter und wird vor allem im Innenstadtbereich genutzt. Als Nutzfahrzeug ist sie den meisten vertraut, ohne wirklich Kult zu sein. In der Automobilstadt Zwickau nutzt das Fahrzeug ein Buchhändler, um seine Ware auszuliefern;  dank seiner Wendigkeit wurde es sogar im Sommer 2022 während der Aufführung der Oper L’elisir d’amore (Der Liebestrank) von Gaetano Dozinetti auf die Open-Air-Bühne in Plauen gefahren und diente dem Scharlatan Dulcamara als fahrbarer Untersatz.

Die drei folgenden Standbilder zeigen, wie wunderbar die Ape die Handlung in einem sehr gut fotografierten Roadmovie mitbestimmt:

Sommer auf drei Rädern - Halt an der Pizzeria
Nach dem kurzen Halt an einer Trattoria geht das Reiseabenteuer los –
Sommer auf drei Rädern, Regie: Marc Schlegel, Giganten Film, 2021, 28’19”.
Sommer auf drei Rädern - Abenteuer
An einer Weggabelung geht der Sprit aus; Zeit für ein neues Abenteuer –
Sommer auf drei Rädern, Regie: Marc Schlegel, Giganten Film, 2021, 30’12”.
Sommer auf drei Rädern - Abenteuer
Die Ape hat sich im Matsch festgefahren; und wieder gibt es ein Abenteuer – Sommer auf drei Rädern, Regie: Marc Schlegel, Giganten Film, 2021, 45’1”.

Eine Ape ist kein Fahrzeug, mit dem man glänzen kann. Es passt zu den drei Hauptcharakteren Flake, Kim und Philipp, die allesamt am Rande der Gesellschaft stehen. Die Selbstvorstellung der zentralen Hauptfigur ganz zu Beginn des Films haut sprichwörtlich rein:

Ich bin Flake. Was Flake für ein Name sein soll? Meine Eltern haben sich Ende der 90er Jahre auf einem Metalfestival kennengelernt und dachten, es wäre eine niedliche Idee, ihr erstes und einziges Kind nach dem stotternden Keyboarder einer Rockband zu benennen. Doch es war nicht nur der Name, der mich zum Außenseiter gemacht hat.

Flake ist ganz hin und weg von Leonie, die nach einem längeren Auslandsaufenthalt in seine Klasse kommt. Als Sitznachbarn tragen sie gemeinsam Referate vor; doch hat sowohl sie als auch Kim bereits einen Freund.  Flake opfert sich für Leonie auf:  Er kommt mit ihr auf der Abi-Party in Berührung mit Rauschgift, sie sitzt danach am Steuer, und Flake nimmt den Crash nach der Flucht bei einer Verkehrskontrolle auf seine Kappe, so dass Leonie unbehelligt bleibt. Beim kommunalen Lieferdienst „Essen auf Rädern“, wo er Sozialstunden ableisten muss, begegnet er Kim, die aufgrund von illegalem Drogenbesitz ebenfalls dazu verdonnert worden ist. Leonie macht derweil Urlaub mit ihrem Freund am Bodensee.

Den beiden wird vom Lieferdienst jenes Vehikel zu Verfügung gestellt. Es bietet eine doppelte Perspektive:  Da nur der Deal mit einem in Bregenz in einem teuren Hotel wohnhaften Koks-„Kunden“ ermöglichen kann, fällige Drogen-Rechnungen bezahlen zu können, nutzt Kim zusammen mit Flake ein Wochenende, um sich mit dem Mopedauto nach Süden zu begeben. Der führerscheinlose Flake, der üben möchte, wie er am besten zu Leonie Kontakt aufnimmt, soll als „Schlemihl“ für die Drogenübergabe eingespannt werden.  Der dritte im Bunde, Philipp, an den Rollstuhl gefesselt und in der Einrichtung wohnhaft, in der Flake ihn mit dem falschen Essen versorgt, kommt auf der Ape-Ladefläche mit auf die Reise, weil er aus seinem monotonen Betreuten-Wohnen-Status ausbrechen will. Er sorgt durch seine Kaltschnäuzigkeit für die eine oder andere zusätzliche Handlungsdynamik.

Das  mehrdeutige jiddische Wort „Schlemihl“ hat eine größere kulturhistorische Bedeutung und bedeutet allgemein „Pechvogel“, kann aber auch als „Schlitzohr“ bzw. Narr durchgehen. Im Film wird der Begriff von Kims Freund als „jemand Unauffälliges“, als „jemand, der die Übergabe macht , ohne zu wissen, dass da Drogen transportiert werden“ erklärt. Das Unauffällige macht ihn einerseits zum Opfer, aber andererseits auch zum Täter. Jakob Schmidt brilliert in dieser komplexen Rolle, in der er Schüchternheit mit einem gewissen Biss im richtigen Augenblick sehr gut kombiniert.  Dieser Plan der Schlemihl- Rolle zerschlägt sich zwar, doch die Übergabe gelingt, kurz vor der Verhaftung des nun im Drogenbesitz befindlichen Kunden und einem durchgeknallten Kaninchenzüchter, der schon während der Fahrt dem Trio das Leben schwer machte und von dem Koks-Deal Wind bekam. Just Flake kann dem Kunden im richtigen Augenblick das Geld abknöpfen, während die Polizei schon auf der Lauer ist.

Während des Roadmovies kommen sich Kim und Flake näher: Sie erkennen ihre Zuneigung zueinander, und Flake begreift, dass die Zuneigung für Leonie nur eine Schimäre ist. Das teilt er ihr auch ehrlich am Bodensee mit, so dass auch für ihn die Reise wertvoll ist. Nun ist der Weg frei für eine authentische Liebesbeziehung durch dick und dünn – das Außenseitertum hat ein Ende; der Weg raus aus dem Drogenmilieu ist geschafft. So gesehen hat das Mopedauto buchstäblich über Umwege zur Entwicklung der jungen Menschen beigetragen.

Der Film ist bis einschließlich 1. November in der Arte-Mediathek zugänglich; danach lohnt sich zumindest, den Trailer anzuschauen. Falls er Interesse wecken sollte, kann man nur dem Tag entgegenfiebern, an dem er bei einem Streaming-Anbieter oder auf DVD / Blue-Ray verfügbar sein wird. Das längere Zitat kommt bereits nach 46 Filmsekunden.

In geregelten Bahnen – Über eine kinetische Installation

Als Kind habe  ich – sicher aus rein ästhetischen Gründen – um kurz vor 20 Uhr des öfteren die Ziehung der Lottozahlen gesehen. Sie war lange (von 1965 bis 2013) vor der Tagesschau auf einem festen Sendeplatz in der ARD. Die „Lottofee“ Karin Tietze-Ludwig schien dafür die Idealbesetzung gewesen zu sein. Heute ist die Ziehung ins Internet-Fernsehen abgewandert.  Gab es früher während der Ziehung sanfte Combo-Musik oder auch mal Electro-Beats, wird heute regelrecht gelabert.  Das Kamerabild der im gläsernen Rund geschwenkten Lottozahl-Kugeln scheint mitsamt der einzeln hinauskatapultierten Kugeln nicht mehr Spannungsmoment genug zu sein.

In der Konschthal von Esch-sur-Alzette dachte ich sicher noch nicht an die Ziehung der Lottozahlen, als ich mir auf mehreren Stockwerken die kinetische Installation Distance von Jeppe Hein anschaute.  Hier sind es mit Hilfe eines Startknopfs vom Ausstellungbesucher in Gang gesetzte weiße Kugeln (etwa in Bowling-Größe), die scheinbar unendlich lang in buchstäblich geregelten Bahnen rollen und wiederholt über Hebelifte auf ein höheres Energielevel gehoben werden. Die Langsamkeit des Rollens ist beeindruckend. Mitunter ist mal ist ein Looping eingebaut, mal geht es rasant abwärts. Man folgt der Kugel, was Aufmerksamkeit erfordert: Das Aus-den-Augen-Verlieren ist möglich, wenn mehrere Kugeln im Umlauf sind. Das Scheppern als Nebeneffekt vermittelt das Ungeschönte, Materielle. Die Gesetze der Physik soll man eben auch als Geräuschkulisse erfassen können. 

Wenig ist im Internet über die Installation geschrieben worden. Liegt es daran, dass sie kaum erklärungsbedürftig ist? Oder dass  man sie mit den eigenen Sinnen eingefangen haben muss? Ein Foto und ein sehr kurzes Video zeigen mich beim Betrachten der Installation. Dabei wird deutlich, dass der Unterschied zwischen den Medien im Kinetischen und Akustischen liegt: Das Foto kann die Dynamik und das Atmosphärische, wozu auch die Tonkulisse beiträgt, einfach nicht einfangen:

Distance von Jeppe Hein
Distance von Jeppe Hein
( Besichtigung am 21.08.2022 in der Konschthal Esch-sur-Alzette )
Distance von Jeppe Hein
(Besichtigung am 21.08.2022 in der Konschthal Esch-sur-Alzette)

Die Installation kann man gut nutzen, um physikalische Prozesse zu illustrieren. Ebenso lässt sich damit ein System als Konstrukt beleuchten. Wenn nur ein Bauteil defekt ist,  dann ist das ganze System lahmgelegt. Oft ist das nur abstrakt vorstellbar, doch in dem ehemaligen Möbelhaus, der heutigen Konschthal, merkt der Betrachter, wie stark es auf die Konzeption des Ganzen und auch auf jedes einzelne Element ankommt.  Die Wahrnehmung wird auf das Wesentliche gerichtet, nämlich auf den Ablauf.  So wie jeder Ausstellungsbesuch einen gewissen Ablauf hat, so wird hier deutlich, wie Wege vorgezeichnet und dann mit räumlichen Besonderheiten in Einklang gebracht werden. Man könnte hierbei auch an Lebenswege gehen, die auch energetisch gesteuert werden, Stichwort: „Lebensenergie“. In dieser Erkenntnis hat für mich die Installation auch etwas Modellhaftes. Distance steht für etwas Abstraktes, schwer zu Begreifendes. Ein Systemtheoretiker könnte hierzu Stellung nehmen.  

Meist nimmt ein Modell die Gestalt einer Miniatur an. Davon kann bei Jeppe Hein nicht die Rede sein. Ich würde von einer monumentalen Installation sprechen. Wir fühlen uns eher vom Spektakel übermannt. Das wäre beispielsweise bei einer Modelleisenbahn-Anlage nicht der Fall. Die kaum zu überschauenden Wahrnehmungsreize entsprechen auch eher unserer Erfahrungswelt. Die recht unbekannte Kulturhauptstadt – immerhin die zweitgrößte Stadt Luxemburgs – hat in zentraler Lage diese unsere Welt bereichert. Dafür sind wir ihr als Besucher dankbar.

Hier noch ein weiterer, kurzer Blogartikel mit einem unkommentierten, in Saint-Nazaire 2014 gedrehten Video zur Installation des 1974 in Kopenhagen geborenen Jeppe Hein. Distance war bereits an mehreren Orten ausgestellt. Das Bild und das kurze Video stellte mir freundlicherweise Cindy Unterrainer zur Verfügung.

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