Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

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Kunterbunte Episoden aus Schriftstücken, die mich beschäftigen und mitunter auch faszinieren. Unerhörtes, Unglaubliches; einfach nur zum Staunen.

Das verborgene Netz-Werk: Über ein Gemälde von Remedios Varo

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Den Namen der spanischen Künstlerin Remedios Varo (1908-1963) werde ich bestimmt nicht mehr vergessen. „Remedios“ – Heilmittel – als Vorname, und dann noch im Plural!  Das erscheint einzigartig, gerade wenn er von Geburt an vorlag.

Auf einem Streifzug durch die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne Ende Januar 2023, die im Potsdamer Museum Barberini gezeigt wurde, blieb mir unter anderen das Ölgemälde Tres destinos (Drei Schicksale) im Kopf. Varo malte es Mitte der 1950er Jahre und zeigt darin ihre Meisterschaft, die mich mehr anspricht als die eines Salvatore Dalí oder eines Max Ernst.

Tres destinos: Remedios Varo (1956)
Remedios Varo: Tres destinos (Drei Schicksale), 1956, Öl auf Masonit, Privatsammlung.

Im Ausstellungkatalog ist zu Remedios Varo besonders der Artikel „Okkulte Bildwelten. Leonora Carrington und Remedios Varo“ von Victoria Ferentinou auf den Seiten 215-237 lesenswert. Zum Gemälde Drei Schicksale,  auf der Seite 227 abgebildet, heißt es auf der Seite 219:

Im Vordergrund stehen drei hohe Türme mit spitz zulaufenden Dächern, die von mönchartigen Gestalten in weiten grünen Gewändern bewohnt werden. Während die Figuren in ihre spirituelle Arbeit versunken sind und vollkommen isoliert voneinander scheinen, symbolisieren transparent leuchtende Seile ihre kosmische Verbundenheit und deuten darauf hin, dass sich „ihre Lebenswege eines Tages kreuzen werden“, wie Varo selbst zu ihrem Bild vermerkte. Indem die Seile mit einem strahlenden Himmelskörper verbunden sind, weist die Ikonographie auf die Ambivalenz zwischen freiem Willen und göttlicher Vorsehung hin und greift zugleich den Gedanken einer Analogie zwischen Mensch und Universum, Mikro- und Makrokosmos auf.

Der bei Varo zu entdeckende Okkultismus „als eine Art Geheimwissenschaft, die sich mit vermeintlich übernatürlichen Kräften und Phänomenen befasst und eng mit dem Glauben an die Magie verbunden ist“ sowie die Magie als „eine Praxis, die darauf abzielt, übernatürliche Kräfte für menschliche Zwecke dienlich zu machen“ stehen mir eigentlich nicht nah. Mir scheint, dass es vor allem das Motiv ist, das mich in den Bann zog. Diese drei Schicksale, auf der Leinwand festgehalten, sind durch ein feines Netz-Werk miteinander verknüpft. Was in der Wirklichkeit oft als Netzwerk recht pauschal bezeichnet wird, erscheint hier auf unglaubliche Weise plastisch. Wir können nicht ergründen, was die drei abgebildeten Personen inhaltlich verbindet, doch es reicht, wenn Nähe und Distanz eine merkwürdige Symbiose eingehen: Einerseits diese Isolierung in den drei Hütten, andererseits das Zusammenspiel über das Gewebe. Der altmeistliche Farbauftrag  lässt nicht automatisch an das 20. Jahrhundert denken, ebensowenig wie die drei Figuren, die alles andere als flüchtig dargestellt sind. Geometrische Strukturen zeigen eine Welt zeitloser Präzisionsarbeit; und auch die Vorgänge in den drei Türmen lassen ein Zeugnis der geistigen Sammlung erkennen. Eine Feder, ein Pinsel und ein Glas sind als Werkzeuge sichtbar; schreiben, zeichnen, sinnieren sind meine Assoziationen zu diesen Objekten. Es entsteht vor dem inneren Auge ein Ruhepol, das zu kontemplativem Betrachten einlädt. Die Seile bilden einen Mechanismus ab, der keinen rationalen Erwägungen folgt und deswegen umso mehr faszinieren kann, ebenso wie eine Apparatur, die man nicht ganz in ihrer Funktionsweise durchschauen kann. Insofern kann jeder Betrachter hier auch über nicht vollständig erklärbare Vorgänge aus der realen Lebenswelt nachdenken.  Er fügt seine Erfahrungen als Bewohner ein, die auch von merkwürdigen Beziehungen zu anderen Menschen zeugen. Was verbindet Stadt-Menschen? Irgendein Werk, bei dem wir auf das Wirken anderer angewiesen sind, lässt eine Trennung zu anderen durch Mauerwerk weniger rigide erscheinen. Es lässt sich oft nicht genau ergründen, wer an einem bestimmten Ergebnis mitgewirkt hat, da die zuvor stattgefundenen Vorgänge nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So wie ein Ergebnis eigentlich mehrere Ergebnisse umfassen, besteht ein Vorgang aus Vorgängen. Das Ganzheitliche lässt sich nur mit dem Partiellen herleiten – so wie drei Schicksale an einem Strang, ausgehend von einer höheren Macht, ziehen (müssen).  

Die kurzen Zitate zu Magie und Okkultismus habe ich dem Glossar von Helen Bremm im Ausstellungkatalog entnommen, der im Prestel Verlag erschienen ist (auch eine englische Ausgabe liegt vor, da die Peggy Guggenheim Collection auch an der Ausstellung beteiligt war).

Immobilie ohne Mobiliar – Die renovierte Villa Grossmann in Ostrava

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Am Rande eines Erasmus+ – Aufenthaltes besuchte ich Anfang November die im April 2024 für Besucher eröffnete Vila Grossmann an einer wichtigen Ausfallstraße in Ostrava. Nur ein aufmerksamer Blick auf Google Maps verriet mir von deren Existenz:

 

Vila Grossmann
Außenansicht der Villa Grossmann im November 2024

Ganz allein wurde ich durch das imposante, von 1922 bis 1924 erbaute Gebäude geführt. Dort erzählte man mir, dass ich der erste Besucher sei, der sich für eine Führung auf Deutsch interessiere. Da ich nur drei Tage im Voraus die Führung gebucht hatte, schien das freundliche Personal nicht auf diese Herausforderung vorbereitet gewesen zu sein. Jedenfalls war die knapp sehr interessante 60-minütige Führung in zwei sprachliche Abschnitte aufgeteilt: Während der ersten Hälfte versuchte ich, die Erläuterungen in langsam vorgetragenem Tschechisch (inklusive mir eher vertrauten slowakischen Einsprengseln) zu verstehen, die zweite Hälfte spielte sich dann auf Deutsch ab, das den Mitarbeiter nicht allzu sehr herauszufordern schien (Vielleicht merkte er auch, dass ich ihn nicht mit Detailfragen herausfordern wollte…).

Die Führung war fast zu Ende, als ich das tragische Ende von František Grossmann erfuhr. Er nahm sich durch einströmendes Gas im November 1933 in seiner eigenen Villa das Leben, als sein Bauunternehmen infolge einer Wirtschaftskrise überschuldet war. Seine Frau wollte im gleichen Zug Selbstmord begehen, doch das misslang, da sie im Krankenhaus wiederbelebt werden konnte. Ich meine verstanden zu haben, dass sie einen weiteren Selbstmordversuch (ebenfalls vor Ort) nicht überlebte. Ganz genau will und muss ich dies auch nicht wissen. Das Jahr 1933 muss ein tragisches Jahr gewesen sein, denn diese Aktion war sicher vorbereitet worden. So konnte ich die Vila Grossmann trotz ihrer Pracht nur betrübt verlassen.

Es gibt wohl (noch) keinen im Internet zugänglichen längeren Artikel zur Villa Grossmann in deutscher Sprache. Dieser Informationsmangel sollte von einem Architekturkenner in den nächsten Jahren behoben werden, gerade auch weil František Grossmann in seiner Doppelrolle als tschechischer Bauherr und Architekt noch einige andere interessante Bauwerke vor Ort entwarf, unter anderem das Wasserwerk, das an der gleichen Ausfallstraße wie sein Wohnhaus liegt. Außerdem ist die Villa mit einem repräsentativen Bürogebäude nebenan verbunden gewesen, das leider aufgrund von Privatbesitz nicht mit in die Renovierung einbezogen werden konnte.  

Die Recherchen zeigen, dass eine tschechische Webseite, die drei Lost Places in Ostrava dokumentierte, auch auf den Zustand der Villa vor der Renovierung explizit hinwies. Die Fotos belegen den tristen Zustand vor 2021.  Lange war die Villa im Besitz von Unternehmern, bis sie in den 1960er Jahren in städtischem Besitz zum Kindergarten umfunktioniert wurde. Seit 2005, also mehr als 15 Jahre, stand das Haus leer. Drei Jahre Rekonstruktion kosteten die Stadt umgerechnet mehr als 5 Millionen Euro. Das ist vergleichbar mit einem Neubau von zwei Wohnhäusern in einer mittleren Preislage irgendwo in Deutschland (z.B. in Chemnitz).

Eine tschechische Webseite, die sich auf regionale Bauprojekte spezialisiert hat, zeigt die Schönheit des restaurierten Zustands, vor allem die vielen dekorativen Elemente, die sicher auch für Kunsthistoriker interessant ist. Ein Mikrokosmos, der noch vollkommen unmöbliert ist. Das wird sich in der Zukunft womöglich ändern.  

Ich bin gespannt, welche Online-Artikel in den nächsten Jahren auf Deutsch, Englisch und Französisch entstehen werden. In diesem Jahr, also ziemlich genau 100 Jahre nach seiner Fertigstellung, ist die Quellenlage außerhalb des tschechischen Sprachgebietes noch äußerst dürftig. Auch diese Leerstelle wird sich auffüllen lassen. Und womöglich werden weitere historische Quellen noch ausgegraben und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Und wer einmal nach Ostrava kommt und die ganz besondere Industriekultur im Süden der Stadt besichtigen möchte, kommt, landläufig gesagt, an der Villa Grossmann nicht vorbei! Im Klartext müsste es heißen: Er sollte unbedingt unbedingt vorbeikommen!

Aktuelle Infos (auch auf Englisch) zur Villa Grossmann finden sich auf der Homepage.

Wohl bekomm’s: Zwei Wort-Cocktails der besonderen Art

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Es war in einem Kassenbüro, als ich von einer Kollegin folgenden Satz hörte:„Wir sind nicht auf der Buttermilch dahergeschwommen“.  Obwohl der Kontext klar war, konnte ich so gut wie nichts mit dieser Botschaft anfangen. Das Nachfragen dauerte ein wenig; und auch als mir die Bedeutung verraten wurde, nämlich einen Vorgang oder ein Verhalten zu durchschauen, war ich perplex, da es sich zudem bei der Wendung um eine Variante handelt. Im Online-Wörterbuch Wiktionary ist es die Brennsuppe, auf der man daherschwimmt. Und weitere Recherchen zeigten, dass auf dem Thüringer Schulportal die „Wurstsuppe“ durchschwimmbar ist. Der „MDR Jump Wortinspektor“ hat dazu einen kurzen  Podcast erstellt, der allerdings ausschließlich auf die „einfachen, ungebildeten Verhältnisse“ verweist, die mit dieser Redewendung sprachhistorisch ohne Negation in Verbindung stehen. Brennsuppe, Buttermilch und Wurstsuppe gehörten ja zu den sogenannten Arme-Leute-Mahlzeiten dazu. Auch dort, wo sich die „Genussregion Oberfranken“ vorstellt, ist von diesem Hintergrund die Rede:

„Der ist nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen“, gilt als sprichwörtliche Umschreibung einigermaßen solider Lebensverhältnisse. Auf der Brennsuppe schwamm demnach wohl derjenige, der sie auch aß, ein unbedeutender oder etwas beschränkter Mensch, der in relativ einfachen Verhältnissen lebte und sich mit einer schlichten Mehlsuppe zufrieden geben musste. Dennoch kann auch hier Schmalhans ein kreativer Küchenmeister sein und zaubert aus der schlichten Suppe einen schnell zubereiteten, würzigen Gaumengenuss.

Hier zeigt die Negation schön, dass der Sprecher bzw. die gemeinte Person sich in ein positives Licht stellen lässt. Und selbstverständlich kann dies auch in gutem Glauben an Personen ohne relativen Wohlstand gelten, wenn man sie zum Beispiel kochen lässt. Dass diese Wendung ebenfalls eine ausgereifte Interpretationsfähigkeit anzeigt, finde ich angesichts des sprachlichen Konstrukts höchst komplex. Denn es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Schlauheit bzw. spezifischen Erfahrungswerten. Offensichtlich gilt aber bei der Wendung: Wer zu mehr Wohlstand gekommen ist, besitzt auch eine höher entwickelte geistige Anlage.  

In Verbindung mit einem einfachen Getränk steht die komplexe Bezeichnung für ein Heilwasser der Marke Förstina, das ich kurz vor dem Totensonntag kaufte:

Das Förstina St. Maria-Brunnen Heilwasser enthält in seiner natürlichen Beschaffenheit pro Liter über 1.000 mg Kohlensäure und kann somit in Verbindung mit den weiteren Hauptbestandteilen als ein flouridhaltiger Calcium-Hydrogencarbonat-Sulfat-Säuerling bezeichnet werden.

Dieser „Säuerling“ mit drei vorgeschalteten Substantiven sowie Adjektiv scheint ein zu lang geratender Fachbegriff zu sein. Dem ist aber nicht so, wie mir mein Bruder telefonisch erklärte. Es ist ein „Trivialname“, was angesichts der Wortlänge erst einmal merkwürdig erscheint. Doch wer sich als Kunde mit Mineralwasser auskennt, der kann durch die angegebenen wesentlichen Bestandteile (natürlich im gelösten Zustand) die stoffliche Zusammensetzung gut einordnen und mit anderen Heilwasserprodukten vergleichen. Bei einem etablierten Fachbegriff wäre das womöglich nicht der Fall. Dass das Wasser schwach sauer ist, daran besteht angesichts des „Säuerlings“ kein Zweifel. Dass Wasser mit dem Suffix „-ling“ in Verbindung gebracht wird, finde ich nach wie vor amüsant: ‚Winzling’, ‚Fremdling’, ‚Neuling’, ‚Findling’ sind ja auffällige Gestalten bzw. Objekte, die sich vor dem Auge auftun. Wasser ist prinzipiell unauffällig und schwer zu charakterisieren.

Ganz sicher: Ich werde in der Zukunft kein Lebensmittel mehr zu Hause haben, das mit so einem Wortungetüm in Verbindung gebracht werden kann.  Hingegen nehme ich beide Wort-Cocktails gerne in meinen Wortschatz auf, in der Gewissheit, dass ich so schnell nicht wieder auf sie stoßen werde. Sollte ich von ihnen noch einmal hören, werde ich noch am gleichen Tag darauf anstoßen, am liebsten mit demjenigen, der diesen Wort-Cocktail wieder aufgetischt hat!

Abenteuerliche Lektüre – Zu einem Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch

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Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.

Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:

Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.

Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt). 

Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle  Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte.  Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping –  verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen!  Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.

Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).

Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:

Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.

Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??

Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:

Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.

Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.  

Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden.  Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.

Erscheinungsbilder: Gedanken zu Otl Aichers Werk

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‚Erscheinungsbild’ ist ein wunderbares Wort, das meiner Großmutter noch wenige Monate vor ihrem Tod über die Lippen ging, als sie mich kaum noch erkannte. Uns erscheinen ja auch mentale Bilder, erst recht im Traum.

Zum Jahreswechsel 2022 / 2023 besuchte ich in der Städtischen Galerie Lüdenscheid eine Ausstellung mit dem schönen Titel „Ökonomie der Gestaltung“ zu Otls Aichers Werk, das sich nicht einfach in einem Museum präsentieren lässt. Es gab keine großen Grafiken oder Gemälde anzuschauen, vielmehr Logos, Piktogramme und auch Design-Formen. Viel gibt dies auf den ersten Blick nicht her, doch wenn man sich einen Kunstband aus dem Prestel-Verlag besorgt und dazu noch Aufsätze von einer hervorragenden Homepage zu Gemüte führt, dann wird klar, dass Otl Aicher (1922-1991) die Designgeschichte in Westdeutschland entscheidend mitgestaltet hat. Die Piktogramme zu den Olympischen Spielen in München 1972 und das ZDF-Erscheinungsbild von den frühen 1970er Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende stammen aus der Denk-Fabrik von Otl Aicher im schönen Allgäu, genauer gesagt aus dem Weiler Rotis, wo er auch die gleichnamige Schrift entwickelte. Akademisch wirkte Aicher an der Hochschule für Gestaltung in Ulm als deren Gründungsmitglied (u.a. zusammen mit seiner Ehefrau Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Sophie Scholl) von 1953 bis zur Auflösung der Hochschule 1968.  Den aus den Vereinigten Staaten stammenden Begriff ‚Visuelle Kommunikation’ nutzte Aicher in Deutschland als einer der ersten, vielleicht sogar als allererster. Tragischerweise verstarb Aicher 1991 an den Folgen eines Unfalls, der sich auf der Straße nach Rotis am Rande seines Grundstücks ereignete.

Wenn sich Großveranstaltungen und ein Fernsehsender auf ein gewisses Erscheinungsbild einigen, dann ist der Umsetzungsprozess eindeutig vielschichtiger als nur die Entwicklung eines „Corporate Design“. Schließlich geht es ja um mehr als eine Bildmarke und eine einheitliche Schriftart. Zwei Gedanken dazu mögen erhellend sein. Sie zeigen, dass es hier wirklich auch um etwas Brauchbares geht.

Der eine Gedanke stammt von aus dem ersten Aufsatz im Prestel-Kunstband, verfasst vom Herausgeber Wilhelm Vossenkuhl:

„‚Welt entwerfen’ bedeutet, sich über das Zusammenspiel der vielen sperrigen Faktoren Gebrauchsfähigkeit, technische Perfektion und Innovation, ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Verwertbarkeit, anspruchsvolle und attraktive Form Gedanken zu machen und sie in einem Produkt auf den Punkt zu bringen. So wird jedes Produkt exemplarisch für ein Ganzes. Jedes so entworfene Exemplar wird zum Teil eines Ganzen, das es davor noch nicht gegeben hat. Das Ganze entsteht erst durch und im Entwerfen.“  

Ich stelle mir den Gebrauchswert von Piktogrammen vor. Sie schaffen Ordnung und Übersicht gerade in einem vielsprachigen Umfeld. In einem Olympia-Ort fing diese Art der Bildersprache spätestens ab den Spielen in Tokio 1964 an, wie ich aus einem kurzen Video-Beitrag erfuhr, der sich nur mit der Geschichte des Olympia-Design befasst.  Was viele Menschen aus der ganzen Welt richtig interpretieren sollen, muss gut durchdacht sein. Und da ein Piktogramm allein wenig Gebrauchswert hätte, müssen die Bildzeichen als Ganzes überzeugen, also nicht nur die dargestellten Sportarten, sondern auch der Verweis auf wichtige Dienstleistungen und Anlaufstellen. Näheres dazu hat der Designer Marc Holt für die bereits erwähnte Homepage geschrieben und zahlreiche aufschlussreiche Dokumente aufgeführt.

Ein weiterer zentraler Gedanke betrifft die Farbwahl: Aicher setzte bei seiner Arbeit für das ZDF auf ein „Farbklima“ anstatt auf ein „Farbprofil“, wie aus dem reich bebilderten Online-Artikel des Verlegers und Kommunikationsdesigners Jens Müller hervorgeht. Damit wird auch das breite Angebot an Sendungen gewürdigt.  Standards gelten, doch nicht in strenger Einheitlichkeit, wie Müller schreibt:  

Entsprechend wurde die Schrift mit ihren vier Schnitten zum zentralen Gestaltungselement der neuen Identität. Sie kam bei sämtlichen Bildschirmanwendungen zum Einsatz und fungierte gleichzeitig als prägende Displayschrift bei Drucksachen und Beschriftungen. Nahezu drei Jahrzehnte war sie im Einsatz und gehörte damit zu den ersten Beispielen von wirklich konsequent und medienübergreifend eingesetzter „Corporate Typography“.

Faszinierend, dass grafisch für die leicht abgerundete Mattscheibe und nicht für das Papier optimiert wurde.  Subtil gab es also einen Zusammenhang zwischen der heute-Sendung und dem Aktuellen Sportstudio, auch wenn die Studiokulisse auf den ersten Blick eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten offenbarten. Und doch wird jedem treuen Fernsehzuschauer das Signet der beiden Sendungen geholfen haben, diese sofort zu identifizieren, unabhängig davon, wer gerade moderierte.

Otl Aicher hat also die Design-Geschichte in (West-)Deutschland geprägt. Nicht zu vergessen ist, dass er auch das Erscheinungsbild von Unternehmen (mit-)gestaltet hat, wie zum Beispiel der Lufthansa, deren Logo er mit dem Kreis rund um den Kranich entscheidend veränderte. Und das Sparkassen-S stammt auch von ihm!  Im Online-Beitrag von Dagmar Rinker erfährt man zudem auch, dass Aicher dezidiert einen Artikel mit dem Titel „erscheinungsbild“ aus dem Sterbejahr 1991 verfasste. Rinker zitiert dessen Begriffsbestimmung: Der Schlüsselbegriff meine eine „form des vorstellungsbildes, seine konkretisierung in gebärden, verhalten, haltungen, profilen, linien, stilen, in farben und figuren, in handlungen und leistungen, in produkten und objekten.“

Ganzheitliches Denken heißt hier das Stichwort. An diesem Zitat wird indirekt deutlich, dass Aicher an philosophischen und moralischen Prinzipien während seines Schaffens sehr interessiert war. Kein Wunder also, dass Unternehmen und Philosophie wortschöpferisch zusammengefunden haben. Immer wenn ich Zukunft an Unternehmensphilosophie denke, wird mir Otl Aichers Schaffen über den Gedanken-Weg laufen!

Der erwähnte Aufsatz von Wilhelm Vossenkuhl heißt „Denken und Machen“; das Zitat steht auf der Seite 20 des Prestel-Kunstbandes mit dem Titel Otl Aicher. Designer. Typograf.Denker . Weitere sehr interessante Informationen zu Otl Aichers Biografie sind in einem Feature des Bayrischen Rundfunks enthalten. Herzlichen Dank auch an Frau Dr. Susanne Conzen, die die Aicher-Ausstellung in Lüdenscheid kuratierte und sie aufschlussreich mit dem Schaffen von Gerd Arntz (1900-1988) kombinierte, der schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine „piktogrammartige Figurensprache“ schuf.

Film-Bar: Daniel Brühls „Nebenan“ als Nachbarschaftsdrama 

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Spionagethriller gibt es en masse, doch wie es sieht es filmisch im zwischenmenschlichen Abhör-Bereich aus? Man würde hier wohl von Psycho-Drama sprechen.

Zu DDR-Zeiten spionierte man mit ausgebufften Abhörmethoden, die der Oscar-prämierte Film Das Leben der anderen (2006) eindrucksvoll zeigt. Und im 21. Jahrhundert findet besonders dank offener digitaler Kanäle das Beschatten wohl mehr denn je statt. Neudeutsch spricht ja auch von Stalking. Wie das sich kammerspielartig darstellt, vermittelt der Film Nebenan, in dem Daniel Brühl zum ersten Mal als Regisseur hinter den Kulissen und als Hauptdarsteller vor der Kamera in Erscheinung tritt. Der gefeierte Schriftsteller Daniel Kehlmann verfasste das Drehbuch, das es in sich hat.

Brühl spielt in seinen Teilen sich selbst – einen Schauspieler namens Daniel, der seinem wichtigsten Gesprächspartner im Film, dem Nachbarn Bruno gegenüber überheblich und auf den ersten Blick desinteressiert auftritt. Handlungsort ist die Kneipe Zur Brust irgendwo im Prenzlauer Berg.

Bevor er zu einem Casting in Großbritannien aufbricht, möchte er sich noch kurz in jener Stammkneipe auf den Termin vorbereiten, doch er kommt aufgrund von Bruno nicht von diesem Ort los: Sein Nachbar, der ihm eigentlich zuvor in seiner Unscheinbarkeit über die Hinterhof-Distanz nichts bedeutete, führt ihm sein eigenes verruchtes Privatleben vor die Augen. Dabei ist Bruno alles andere als ein Spion, denn er muss sich größtenteils gar nicht bemühen, die Dialoge zwischen Daniel und seiner Partnerin Clara mitzuhören. Eine bizarre Wissensasymmetrie wird offenbar: Während Daniel nichts über Brunos Leben vorher wusste, kann Bruno genaustens über Daniels Filmschaffen und über seine Machenschaften Auskunft geben.

Was mich an dem Film (erst im Nachhinein) begeistert, ist das Ausloten von Nähe und Distanz. Nachbarschaft erlaubt einerseits das Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen, ohne dass sich das Gefühl der Freundschaft oder der Sympathie einstellt. Peter Kurth spielt diese ambivalente Figur äußerst gekonnt. Mehrheitlich fokussieren sich die Dialoge auf die Problematik zweier ganz verschiedener Lebenssituationen, die sich im Schlagwort ‚Gentrifizierung’ (der Begriff fällt auch im Film) widerspiegeln. Der erfolgsverwöhnte und abgehobene Schauspieler auf der einen Seite aus dem Westen der Republik, auf der anderen Seite der ausgebildete Programmierer als Call-Center-Agent, der in einem „Help Center“ arbeitet, zu DDR-Seiten in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde, und dessen Vater vor der Jahrtausendwende aus der Altbauwohnung von einem Spekulanten für billiges Geld „herausgekauft“ wurde, bevor man sie in eine schicke Maisonette-Wohnung umbaute, in die sich Daniel einquartieren sollte. Das Psycho-Drama wird stellenweise zum Sozialdrama, en miniature auch zum Nachbarschaftsdrama.

Bruno kann dank seines Berufs die Kontobewegungen von Daniels Partnerin Clara bestens durchleuchten und kann von ihren Seitensprüngen berichten. Dabei schwirrt im Film eine Fliege zuerst auf Brunos Stirn und dann auf den mitgebrachten Kontoauszug; sogleich wird sie von Daniel gekillt. Auf dem zahlenlastigen Dokument hinterlässt diese Todes-Spur etwas Morbides; gleichsam wie die Auflistung der Umsätze, die eigentlich nur pralles Leben vorspiegeln:

Rechnung_Nebenan
Fliege mitten auf der durchleuchteten Rechnung – Aus dem Film Nebenan (Regie: Daniel Brühl), 54min27sek

Insgesamt wirken die Kneipen-Gäste einsam, was die folgende Einstellung eindrucksvoll zeigt:

Einsamkeit im Film "Nebenan"
Solitäre in der Kneipe “Zur Brust” – Aus dem Film Nebenan – Regie: Daniel Brühl, 1h08min22sek

Die weiten Abstände zwischen den Akteuren erinnert an die Pandemiezeit, in der der Film entstand, ohne dass davon die Rede wäre. Jegliches Handeln scheint für wenige Sekunden stillzustehen.  

Neben den Kontoauszügen bekam Bruno dank eines Blumengieß-Jobs Zutritt zu Daniels Wohnung und damit zu dessen I-Pad, auf dem er dessen schmutzige Online-Techtelmechtel mit einer gewisse Denise nachlesen kann. Das I-Pad als enthüllendes Speichermedium gibt er dann im verschlossenen Umschlag in der Kneipe über einen Kinder-Boten, der ein Fan von Daniel ist und als Verwandter der Kneipenbesitzerin den Handlungsort aufsucht, gegen geldwerte Belohnung an Klara weiter. Auch hier kann man von einem schmutzigen Geschäft sprechen.

So spielt der Schauspieler Daniel in seinem Privatleben gleichzeitig eine Täter- und eine Opferrolle, die man auch Bruno zuschreiben könnte. Sein Agieren als Beschaffer von indiskreten Informationen ist überdies zweideutig, da er ja trotz seiner kriminellen Energie Licht ins Dunkel bringt und Lebenslügen im wahrsten Sinne des Wortes auftischt. Dabei verheimlicht er nicht, dass auch er Opfer eines Betrugsfalls geworden ist (nämlich von seiner Frau).

Am Filmende erfahren wir als Schlusspointe, dass Daniel mit seiner Familie nicht mehr in der schicken Maisonette-Wohnung lebt. Stattdessen ist es eine Schauspielerin: Brunos Vorhang öffnet sich nun in eine neue Wohn-Welt:

Fenster_Nebenan
Brunos Sicht-Fenster – Aus dem Film Nebenan – Regie: Daniel Brühl, 1h26min40sek.

Der Film konzentriert sich auf die Macht der Sprache, die über ausschweifend geführten Dialoge an einem Handlungsort Lug und Betrug enthüllt und dabei verborgene Lebenswelten aufdeckt. Zusammen mit der subtilen Zusammenführung deutsch-deutscher Lebensgeschichten ist dieses Kammerspiel mitten in Berlin ein ganz wichtiges Zeit-Zeugnis gut zwei Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende.

Ein Interview mit Daniel Brühl bietet Wissenswertes zur Filmidee. Eine ausführliche Kritik findet sich bei in der Online-Zeitschrift epd film. Der Film kann hier über verschiedene Anbieter heruntergeladen werden. Noch ein wichtiges Detail: 2022 wurde die Theaterfassung am Wiener Burgtheater uraufgeführt.

Der interkontinentale Film – Gedanken zu „Paris kann warten“

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Paris kann warten (engl.: Paris can wait) ist ein zweitklassiger Film, auch wenn in der Süddeutschen Zeitung Rainer Gansera in seiner Besprechung zurecht von einem zauberhaften Road-Trip“ und einer „Feier des Lebens“ spricht. Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, dass Anne, die Frau des Produzenten Michael mit dessen Geschäftspartner Jacques die französische Provinz erkundet – und erst ganz zum Schluss in Paris eintrifft, wo sie sich entscheidend näherkommen. Daher rührt der Titel. In dieser Reise-Zeit weilt der Ehemann weit ab in Budapest, wo er dringend gebraucht wird.

Eleanor Coppola, die 2024 verstorbene Ehefrau des berühmten Regisseurs Francis Ford Coppola, bietet in ihrem ersten Spielfilm (Debüt mit über 80!) mit dem Schauspieler Alec Baldwin (Michael) mindestens einen Hochkaräter auf, doch der glänzt im Film ja eher durch Abwesenheit. Die anderen beiden Hauptdarsteller (Diane Lane und Arnaud Viard) spielen ihre konventionellen Rollen ohne Glanz  – sie blieben für mich also eher blass. Die gezeigten Orte sprechen für sich; dabei sind die Dialoge eher Beiwerk. Laut einem Spiegel-Artikel hatte Coppola eine ähnliche Route einmal selbst zurückgelegt.

Zwei Szenen bleiben für mich in Erinnerung. Einmal die Vorführung des legendären Bergmassivs Sainte-Victoire bei Aix-en-Provence, die mehr ist als eine Vermittlung zwischen einer Amerikanerin und einem Europäer: Der Dialog könnte genausogut zwischen Reiseführer und Touristen entstehen:

-Oh, you see that mountain over there? It’s Sainte-Victoire.

– A-ha. (…)

– It’s a major landmark of this region and a favorite subject for many writers and artists. Cézanne captured it perfectly. I saw a beautiful exhibition of his work last year in Aix-en-Provence.

-Oh, that’s great.

-Yeah.

-It must have been incredible to see Cézannes paintings here in this light. Yeah. Ha. The ones that I know at the MET in New York, they look a little sad, you know, as if they don’t really want to be there.

Was den Dialog besonders macht, ist die Verknüpfung von sprachlichem Inhalt und realen Ansichten sowie der gemalten Sicht, die auch den Filmzuschauern die Besonderheit des Abgleichens ermöglicht. Auf der Autofahrt wird erst die relativ unspektakuläre, nicht von Cézanne auf Leinwand gebannte Sicht von Osten auf die Sainte-Victoire gezeigt. 20 Sekunden später folgt jenes berühmte Gemälde von Paul Cézanne, die das Motiv von Südwesten her in Szene setzt (La Montagne Sainte-Victoire, 1887, Standort: The Courtauld Gallery in London), bevor weitere 20 Sekunden später die reale Perspektive, die dem Gemälde zugrunde liegt, aus dem Auto heraus gefilmt wird:

Ansicht_Sainte_Victoire
Blick auf das Sainte-Victoire-Gebirge im Film Paris kann warten (2016), 13min38sek.
Cezanne: La Montagne Sainte-Victoire
Einblendung des Gemäldes La Montagne Sainte-Victoire (1887) von Paul Cézanne, 13min57sek.
2. Blick auf die Sainte-Victoire
Das reale Sainte-Victoire-Gebirge aus dem Auto in Paris kann warten gesehen, 14min17sek.

Sprachlich noch interessanter ist die Wahl der Speisekarte, die zum Abendessen nach dem ersten Reisetag gereicht wird:

Speisekarte: Paris kann warten
Speisekarte von Les Jardins d’Epicure im Film Paris kann warten, 23min2sek.

Es kann kein Zufall sein, dass dieses Dokument nicht aussschließlich französische Wörter bereithält. Die Sprache der Kulinarik, ganz ohne Angabe von Preisen, so soll recht eindrucksvoll vermittelt werden, ist eben mehrsprachig: „pickles de carottes” kombiniert Französisch und Englisch, „à la plancha” für eine spezielle Grill-Auflage kombiniert Französisch und Spanisch und „à la caponata” (sizilianisches Gericht mit Auberginen) sowie „risotto léger” kombiniert Französisch und Italienisch. Es wäre wirklich interessant, den Autoren dieser Speisekarte zu ermitteln. Es ist schade, dass sie im Film nur etwa zwei Sekunden eingeblendet wird und auch im Gespräch mit der Bedienung nur von „agneau de lait avec mini-carottes et mini-oignons“ bzw. „veau de lait“  die Rede ist, die in der Speisekarte nicht (sichtbar) auftauchen. In der Synchronfassung wird der auf Französische gehaltene Dialog zwischen Jacques und dem Kellner übrigens nicht übersetzt, ebenso wenig wie in der englischen Originalfassung. Nur wird kurz vor dem Dialog der „Milchlammbraten“ erwähnt, für den der Küchenchef bekannt sei. Jacques bestellt schließlich für zwei eine „dorade royale” als Vorspeise sowie das Lamm- und das Kalbsgericht („carré d’agneau“ et „côte de veau“), dazu einen Wein aus dem Örtchen Condrieu, einen aus dem Weinbaugebiet Côte-Rôtie sowie einen Hermitage vom Weingut Jean Michel, die allesamt aus dem Rhône-Tal stammen.

Im Abspann wird das Hotel Belles rives in Juan-les-Pins bei Antibes als realer Handlungsort dieses Abendessens erwähnt. Warum im Film der Name Les Jardins d’Epicure aufwartet, der mitten in der Provinz (im Weiler Bray et Lû) nordwestlich von Paris lokalisierbar ist, wäre auch eine interessante Frage. Denn dorthin konnte die Route bei bestem Willen nicht hinführen – dann wäre das Duett über wahrlich über das Reiseziel Paris hinausgeschossen. So wird hier ein realer Restaurant-Ort mit einem realen Restaurant-Namen extra für diesen Film kombiniert.

Anschließend folgt ein Dialog zur Blumendekoration im Restaurant, den Anne eröffnet:

-Why do the flowers smell so much better in France than they do in the U.S.?

-Because we are in France. In America they look lovely but they smell like a refrigerator.

-It’s true. I love roses.

-But their scent mustn’t intrude on the aroma of the wine.

Diesen Dialog kann man eigentlich nur ein US-Amerikaner lustig finden, oder eben einfach nur danaben. Wie soll man sich einen Kühlschrank-Geruch vorstellen? Immerhin geht es ja in erster Linie um die Schönheit der Rose, die nicht automatisch mit dem Duft gekoppelt wird. Wird hier etwa auf die Herkunft der Rosen (Garten vs. Treibhaus) abgezielt?

Offensichtlich wird, dass ein zu starker Rosen-Duft eben nicht zu einem guten Wein passt. Die Wein-Nase möchte nämlich gerne ohne olfaktorische Ablenkung bleiben….Worauf es hier ankommt, ist einfach der gute Tropfen, der eben besonders in Frankreich gerne zelebriert wird: Jacques bestellt ohne Abstimmung mit seiner Gefährtin gleich drei verschiedene Weine.

Ohne Käseauswahl und ohne schokoladiges Dessert ist das Menü natürlich nicht komplett:

Screenshot aus dem Film "Paris kann warten"
Riesige Käseauswahl, nur für Anne und Jacques, im Film Paris kann warten – 30min42sek.

Jacques betont, dass der Käse aus Rohmilch („unpasteurized milk“) hergestellt und sehr gesund und „alive“ sei, während der US-amerikanische Käse aus pasteurisierten Milch tot sei und im Magen wie ein Fettkloß („ball of fat“) landen würde. Er bejaht Annes Frage, ob deswegen Franzosen nicht zulegen würden, woraufhin Jacques sie ebenso als „more romantic“ charakterisiert. Der Gesprächsstoff in diesem interkontinentalen Setting kommt eben ohne Polemik nicht aus; und wer weiß, wie viel Wahrheitswert in dieser verbalen Schwarz-Weiß-Malerei steckt….

Im Film werden passend zu den jeweiligen Sequenzen zudem die Gemälde Le Déjeuner sur L’Herbe (1883) von Edouard Manet und Danse à Bougival (1883) von Pierre -Auguste Renoir eingeblendet. Hier war die Regisseurin ziemlich kulturbeflissen!

Im Film fiel mir außerdem auf, dass die gezeigten Orte (zumindest partiell) nicht den tatsächlichen Verlauf einer (möglichen) Reiseroute beachten.  Der Stopp am Aquädukt Pont-du-Gard, das nach dem Vorbeifahren an der Sainte-Victoire gezeigt wird, entspräche einer Route, doch dass direkt im Anschluss der Zuschauer den Peugeot-Oldtimer in einer Allée in Le Tholonet (bei Aix-en-Provence) vorbeifahren sieht, kann nur der schönen Kulisse geschuldet sein, die ich 10 Monate lang 2006-2007 genießen durfte. Sonst wäre mir diese Allee überhaupt nicht aufgefallen.

Noch kurz zu weiteren ungewöhnlichen Kultur-Orten im Film:  Anne wird durch das schöne Musée des Frères Lumières in Lyon geführt, so dass auch über die Anfänge der Filmgeschichte berichtet wird. Das bunte Markttreiben wird in Lyon ebenso eingefangen wie ein Besuch in einem Lyoner Traditionsrestaurant (einem bouchon) und im Textilmuseum (Musée des Tissus et des Arts Décoratifs). Dort wird Anne beim unerlaubten Fotografien erwischt, woraufhin Jacques dem Sicherheitspersonal ein paar Geldscheine zusteckt, um den Ärger schnell im Keim zu ersticken. Auf einem weiteren Stopp wird im Kerzenschein die Kathedrale in Vézelay im Burgund (Jacques erinnert an Richard Löwenherz’ Startpunkt für seinen Kreuzzug im Jahre 1190) als Besichtigungsort inszeniert. Ein besonderer Kamera-Blick liegt auf den kunstvoll gestalteten Säulen. Die meditative Ruhe, während der Anne über ihr verlorenes Kind spricht, gehört zu den gelungensten Momenten im Film. Insofern lohnt sich der Streifen von der ersten bis zur letzten Minute. Ich bin froh, das er mit über den Weg gelaufen ist; denn so konnte ich Frankreich auf der Grundlage von Erfahrungen wieder mit Hilfe einer ausgeklügelten Bildregie neu entdecken.

Die zitierten Dialoge kommen im Film zwischen 13min38sek und 14min16 sek sowie zwischen 26mi55sek und 27min10sek vor. U.a. bei jpc kann der Film erworben werden.

Bahn-(Rad)-Fahren: Über ein lohnenswertes Unterfangen

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Im September 2012 wurde ich am Bahnhof Kinding rechtens aus einem Regionalexpress geworfen. Der Grund war ganz simpel: Es fehlte der Fahrradwagen, so dass mein Drahtesel im Wege stand und damit der Sicherheit an Bord nicht zuträglich war. Mein Ticket (Fahrradtransfer inklusive) half hier auch nicht weiter. Pech gehabt! Der schnellste RE Deutschlands, auf einer ICE-Schnellstrecke unterwegs, erwies sich an diesem Tag als vollkommen unbrauchbar für mich!
Mein Ziel Ingolstadt habe ich schließlich ohne Probleme erreicht: Wie gut, dass wie gerufen am Bahnhof eine gut 80-jährige Frau mit ihrem Kleinwagen stand und mich sehr freundlich das Altmühltal hoch bis nach Denkendorf mitnahm. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Ziel. Eine wirklich ganz besondere und daher auch unvergessliche Hilfestellung, gerade mit meinem Fahrrad, der den Kofferraum und die Rückbank gut ausfüllte.

Mitte Mai diesen Jahres musste ich wieder an diese Begebenheit denken, als ich einen Artikel in der Freien Presse las (Zwickauer Ausgabe vom 14. Mai 2024), in dem „fünf typische Szenarien beim Reisen mit Fahrrad“ aufgeführt waren, die din unserem Alltag allesamt realistisch sind. Ob es dann noch „Szenarien“ sind, die ja vom Begriff her auf eine schwer vorherbare Zukunft verweisen sollten?? Jedenfalls ist in der Folge die Rede von Szenen, was besser klingt.

Eine fehlende Anstellmöglichkeit für Fahrräder wurde nicht erwähnt, weil die meisten Regionalbahnen heute über eine recht begrenzte Anzahl von Fahrradstellplätzen im Großraumbereich am Zuganfang oder am Zugende verfügen. Szene 3 und Szene 4 passen jedoch gut in die Kategorie Kapazitätsmangel. Die Autorin Hanna Gersmann gab sich Mühe, diese auch möglichst lebendig zu formulieren:


Ein schöner sommerlicher Sonntag, warum nicht einen Ausflug ins Grüne unternehmen? Das dachten sich viele, nun stehen Menschen ratlos vor dem Zug. Alle Abstellplätze für Räder sind bereits belegt.


Hier haben wir die passive, langweiligere Variante, wenn es um die nicht vorhandene „Mitnahmegarantie“ geht. Deutlich spannender ist die 4. Szene, die aber im Grund auf das gleiche Phänomen hinausläuft: „‚Los, jetzt lassen Sie mich doch rein, das passt doch noch’: Jemand fängt an zu drängeln und zu schieben“.

Während die Szene 3 besonders die Reservierungspflicht für Fahrräder in Fernzügen thematisiert, die nicht online möglich ist, geht die Szene 4 auf die teilweise ausgewiesene „Maximalanzahl mitzunehmender Räder“ ein-
Dass David Koßmann als Experte vom Branchennetzwerk Pressedienst Fahrrad zitiert wird, zeigt, dass man auch hier Tipps gut gebraucht kann. Koßmann verweist in Szene 3 auf „Übersichtsseiten, welche Züge an welchen Wochentagen als überlastet gelten“. In Szene 4 rät er, zum Platzsparen „Fahrräder möglichst eng, versetzt oder mit entgegengesetzten Lenkern abzustellen“.

Es gibt in meinen Augen zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema: Entweder man probiert den Radtransport gar nicht erst aus, weil einfach nicht zu viel Unwägbarkeiten drohen; oder man nimmt sein Rad einfach mit, in der Annahme, dass die Mitnahme meist problemlos möglich ist.
Nach meiner Erfahrung ist das auch so. Natürlich kann es manchmal hektisch werden (vgl. Szene 1), wenn das Radabteil nicht dort ist, wo man es erwartet, zum Beispiel am vorderen Ende des Zuges. Es handelt sich hierbei allerdings nur um ein paar Sekunden, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordern. Leider ist die Regelung bei Zusatztickets für Fahrräder sehr uneinheitlich geregelt (vgl. Szene 2). Es hängt vom Verkehrsverbund und teilweise auch vom Eisenbahnunternehmen ab, ob Räder gratis mitgenommen werden können: Während beispielsweise die Mitteldeutsche Regiobahn (MRB) innerhalb eines Verkehrsverbundes Räder kostenlos befördert, ist das bei der S-Bahn Mitteldeutschland nicht der Fall. Und dass Tandems oder Liegeräder nicht genommen werden dürfen (vgl. Szene 5), ist nicht überraschend. Wie so oft ist das Kleingedruckte hier alles andere als unwichtig.

Seit den frühen 2000er Jahren hatte ich kaum Probleme mit dem Radtransport im Bahnsystem. Der geschilderte Zwischenfall blieb bisher einmalig. Erfahrungswerte sind oftmals buchstäblich wertvoller als Empfehlungen , die nur im Optimalfall wirklich helfen, selbst wenn sie gut gemeint sind. Unwägbarkeiten gehören einfach dazu. Und manchmal hilft einfach der gesunder Menschenverstand: Wenn mal ein Engpass vorliegen sollte, dann wird sich auch daraus wieder eine neue Erfahrung herausgeschält haben, die in eine erzählreife Szene passen könnte. Im Zweifelfall sollte der Lebensoptimismus die Oberhand behalten!

In der Chemnitzer Ausgabe der Freien Presse erschien der Artikel bereits am 11.05.24 (Seite 24).

Standortwechsel: Gedanken zu einem Möbeltransfer

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Es war der 20. Juni 2018, als ich in Schlettau im Erzgebirge auf dem allerletzten Meter gegen ein Regendach prallte. Und dann noch mit einem geliehenen Kastenwagen, der für den zu transportierenden Inhalt, ein Korbsofa sowie ein Korbstuhl mitsamt einem kleinen runden Korbtisch (und einer Glasplatte als Auflage) viel zu groß geraten war. Der Schaden war größer als der Kaufwert, so dass meine Laune an jenem Tag trotz der hochwertigen, gebrauchten Möbel bescheiden war. In Anbetracht der Kostenbeteiligung wurde ich durch mein nervöses Auftreten gegenüber den Privatverkäufern als Fremdling gehalten, zumindest nicht als deutscher Staatsbürger. Erst der Schaden am Fahrzeug, dann die Zitterpartie, als sich die Frage stellte,  ob das Korbsofa über einen  Flaschenzug heil aus dem dritten Stock nach unten befördert werden würde. Hochspannung pur! In dem Augenblick bewunderte ich das ältere Ehepaar für ihr Vermögen, eine so eine waghalsige Transportanlage aus dem Stand einzurichten. Und dann wähnte ich mich noch unsicher, ob das Sofa auch noch durch meine Wohnungstür passen würde. Es passte zum Glück!

Korbmobiliar in Schlettau
Korbsofa-Seilzug im Juni 2018 in Schlettau

Fast sechs Jahre bereicherte mein Zwickauer Wohnzimmer diese Möbelkombination, bevor ich sie letzten Februar wegen eines neuerlichen Umzugs nach Chemnitz aus den Händen gab. Auch dieses Mal war das Heraushieven aus der Wohnung kein Kinderspiel (wie zu erwarten war!), doch lief die Verladung auf einen Pritschenwagen umso einfacher. Der kurze Frischlufttransfer zum Haus Abendfrieden, einem Seniorenheim der Diakonie in Werdau, war wiederum etwas Besonderes. Schließlich – und das ist mich die schönste Entdeckung – ist der neue und vielleicht letzte Standort dieses Möbel-Trios eine Café-Ecke, in der räumlich und farblich kaum andere Sitzobjekte stimmiger sein könnten.

Korbmobiliar in Werdau
Seit Februar 2024 steht das Korbmobiliar im Haus Abendfrieden in Werdau

Ende April traf ich mich mit der Einrichtungsleiterin Dorothea Floß. Sie zeigte mir die weiträumige Anlage, in der viele Orte zum Verweilen einladen. Das nasskalte Wetter war wie geschaffen, anschließend drinnen in der besagten Café-Ecke bei einem Kaffee ein ausführliches Gespräch zu führen, um den Ort zu würdigen. Genau das ist ja der Zweck der Korbmöbel. Sie eignen sich nicht besonders gut zum Fernsehen und auch nicht zum Schlafen. Sie dienen der Unterhaltung und füllen erst dann ihre Funktion optimal aus, wenn mindestens zwei Personen am Korbtisch Platz nehmen. Ohne den Stuhl wäre der Raum weniger schön ausgefüllt, doch gerade weil ein Runder Tisch eben Sitzmöbel auf der gegenüberliegenden Seite wünschenswert erscheinen lässt. Diese Geschmackssache ist natürlich wiederum raumabhängig….

Wenn so viel in unserer Zeit über Nachhaltigkeit gesprochen wird, dann jedoch weniger zur sozialen Komponente. Mir scheint, dass das Korbmobiliar genau diese Komponente berücksichtigt: Der geldlose Transfer sorgt für keinen ökonomischen Mehrwert, wohl aber für eine Wertsteigerung im sozialen Bereich. Sitzmobiliar ist nur dann sinnvoll, wenn es nicht nur Raumfüller sind.  Ich habe den wunderbaren Eindruck gewonnen, dass nicht nur ästhetisch der Ort zum Objekt passt, sondern auch sozial: Wenn angeblich diesen Möbelstücken ein Urlaubsgefühl und gleichzeitig ein Zuhause-Gefühl anheimgestellt wird, wie Frau Floß zu berichten wusste, dann erfüllen sie Raum und Zweck vollkommen!

Vielen Dank an Michaela Rusch für den Tipp, die Diakonie Westsachsen wegen des Mobiliars zu kontaktieren, und natürlich für Dorothea Floß für die Führung über das Diakonie-Gelände und das tiefsinnige Gespräch am neuen Möbel-Standort. Es wird in guter Erinnerung bleiben!

Alles nur ein Abklatsch?! Über eine besondere Verfahrenstechnik

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Ein Streifzug durch ein Museum verspricht Überraschendes. Etwas, das dem Besucher sonst verborgen bliebe. Und es kann sogar sein, dass das Werk erst durch den Werktitel nähere Aufmerksamkeit erhält.

So gesehen bzw. geschehen Ende Oktober 2023. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg unweit von Schloss  Charlottenburg in Berlin ist für Surrealismus-Fans eine Schatztruhe voller Zauber, ohne den diese Kunstströmung weniger reizvoll wäre.

Und nun das Zauberwort: Decalcomanía! Der mir zuvor unbekannte Künstler Oscar Dominguez (1906-1957) schuf sie 1935. Auf Deutsch wird die verwendete Technik nicht weniger reizvoll: „Gouache im Abklatschverfahren.“ Im Spanischen wird etwas Wahnsinniges denkbar, denn das Lexem manía bedeutet allein Manie bzw. Wahn. Also wird dabei etwas Verrücktes evoziert.  Das Wortteil „Decalco“ lässt mich abschweifen und mich fälschlicherweise ans Entkalken denken, das ohne chemische Reaktion(en) nicht denk- und ausführbar wäre.

Manuela Bethke hat mir dankenswerterweise einen Bestandskatalog-Eintrag der Sammlung Scharf-Gerstenberg zukommen lassen. Darin heißt es zutreffend:

Fantastische Welten eröffnet „Decalcomanía“. Submarine oder kosmische Landschaften entstehen, organische und tote Formen, Gesteine und Korallen scheinen sich abzuwechseln. Der Vorstellung des Betrachters sind keine Grenzen gesetzt, durch das Hineinsehen entstehen immer neue Bilder.

Es lohnt sich also ein näherer Blick auf das Werk, gerade mit einer digitalen Lupe, auf der sehr guten Internet-Seite bildindex.de, die sich als Verbunddatenbank bezeichnet. Gerade in der Vergrößerung (unten links ansteuerbar) wird schön sichtbar, wie sich eine fiktive Landschaft herausbildet. Man könnte an Riffe inmitten eines unübersichtlichen Systems von Wasserläufen denken, so dass als Höhen und Tiefen interpretierte Konturen Dreidimensionalität schaffen. Im unteren Bilddrittel zerfällt jedoch diese Struktur, so dass Analogien, die aus physisch erlebbaren Topographien erzeugt werden, nur bedingt aufrecht erhalten werden können. Für den Betrachter ist das Abgebildete nur schwer begreifbar, gleichsam wie in einer Tropfsteinhöhle, wo Kalkabbauprozesse auch eine kaum erfassbare Landschaft im Erdinnern formen. So passt der nicht übersetzte Titel Decalcomanía auch so gut. Noch einmal sei daran erinnert, dass im französischen Original „décalcomanie“, aus dem das spanische „decalcomanía“ abgeleitet ist, keinesfalls Kalk eine Rolle spielt. „Calque“ bedeutet im Französischen eine Ebene bzw. eine Schicht und auch eine Nachbildung, was ja im konventionellen, negativ konnotierten Sinn ein Abklatsch ist; in der Sprachwissenschaft bezeichnet es auch ein Lehnwort, so dass hier auch ein Transfer (von einer zur anderen Sprache) eine Rolle spielt.  Ein „papier calque“ ist ein Pergament- oder Pauspapier, womit hier das Material und das Verfahren im Zusammenhang mit einer Bastelarbeit durchscheint, die natürlich auch künstlerisch wertvoll sein kann. Eine Nachbildung ist also hier ein Abklatsch im schöpferischen, also kreativen Sinn!

Domínguez beschäftigte sich in den 1930er Jahren intensiv mit klassischen Abklatschverfahren, bevor Max Ernst diese Technik in andere integrierte. Ein Abklatsch hingegen ist auch in der Standardsprache ein Phänomen, das ja von der Kunsttechnik herrühren muss, jedoch mit dem Zauberhaften wenig bis gar nichts gemeinsam hat: Eine „(schlechte) Nachbildung eines Originals“, wie es im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt, hat oft einen negativen Beigeschmack, was wiederum durch das Verb „klatschen“ für „schallend schlagen“ aufgewertet und durch das Substantiv „Klatsch“ in Verbindung mit Tratsch wiederum negativ verdreht wird. In der Wortgeschichte wurde der Klatsch (heute eher als Kaffeeklatsch verwendet) als Gerede spätestens im 18. Jahrhundert salonfähig.

Im Katalog las ich außerdem von einem „Abziehbild“ als Ergebnis des Abklatschverfahrens, was auch in der Drucktechnik als Probedruck eine wichtige Funktion hat, ohne dass hier surrealistisches Gedankengut mit im Spiel wäre. Da ein Probedruck früher unvollkommen war, weil er ohne die Druckerpresse, sondern nur durch Bürstenschläge erzeugt wurde, kann dem Abklatsch in der herkömmlichen Tradierung kein Zauber innewohnen.

Im Grunde ist das unplanbare Ergebnis ohne eindeutiges Motiv der Kern des Zauberhaften, weil diese Wirklichkeiten unbestimmbar und unbeherrschbar scheinen. Und das wirkt förmlich sehr real!

Wenige Informationen über den spanischen Surrealisten Óscar Domínguez sind online verfügbar. Immerhin hat eine Londoner Galerie eine Kurzbiografie angelegt, in der auch auch das Zauberwort decalcomanía vorkommt.

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