Die meisten Erwachsenen unter uns, die vor oder um das Jahr 2000 herum das Teenager-Alter erreicht oder hinter sich gelassen haben, können nicht nur über besondere Lebensmomente erzählen, sondern auch besondere Fernsehmomente einbringen. Diese Momente sind zugleich Bestandteile einer Fernsehgeschichte aus Nutzersicht.

Ein Roman, der literarisch Fernsehen als Phänomen beleuchtet, heißt La télévision (deutscher Titel: Fernsehen).  Jean-Philippe Toussaint hat ihn 1997 veröffentlicht, bevor das Internet im großen Stil in Privathaushalten Einzug hielt und Flachbildschirme Standard wurden. Es war die Hoch-Zeit des linearen Fernsehens. Würde man eine Fernsehgeschichte aus der Perspektive der Literatur schreiben, käme man an diesem Text nicht vorbei.

Im Roman setzt der Erzähler in unterschiedlichen, nicht immer kongruenten Erzählhaltungen mehrere Brillen auf; sein kunsthistorischer Forschungsaufenthalt in Berlin wirkt nicht streng durchorganisiert, wohingegen die Betrachtungen rund ums Fernsehen neben anderen Inhalten vergleichsweise viel Raum in der Erzählung erhalten. Die sprunghafte Erzählfreude zeigt zugleich auch ein großes Talent, kleinste Ereignisse wie mit einer Lupe narrativ zu vergrößern. Das Langsam-Meditative erhält einen hohen Stellenwert.

Natalie Potok-Saaris, Forscherin an der  Harvard University, schreibt 2014 treffend:

La télévision” emphazises the slow, meditative aspects of narrative, stressing the very qualities that make literature distinct amid a background of fast-paced and fragmented information.

Im Zeitalter mobiler Endgeräte würde man vieles ähnlich formulieren, wobei die Abhängigkeit von Bildschirmen noch viel stärker ist, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Auf jeden Fall steigerte sich das Fragmentarische und das Temporeiche im Informationsfluss des Fernsehzeitalters spätestens mit dem Aufkommen des Privatfernsehens Anfang der 1980er Jahre.

Der Erzähler hat bei Toussaint mitunter einen wissenschaftlichen Anspruch, wenn es heißt:

La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoiqu’elle en ait toutes les apparences (en plus petit, dirais-je, je ne sais pas si vous avez déjà regardé la télévision), mais de sa représentation.

Ihm geht es darum, zu skizzieren, dass wir es mit einem „Schauspiel“ zu tun haben, und zwar „nicht der Realität, (…) sondern ihrer Darstellung“.  Der in Klammern gesetzte Einschub ist quasi ein Augenzwinkern, denn das Fernsehen gebe sich nun mal so aus, als ob es die Realität im „Mini-Format“ zeige. Ich stelle mir den Erzähler in einem Vortrag vor, der schon hier versucht, das Publikum mit rhetorischen Kniffen auf seine Seite zu ziehen.

Nachfolgend setzt der Erzähler die Fernsehkonsumenten-Brille auf:

Une des caractéristiques de la télévision, en effet, quand on ne la regarde pas, est de nous faire croire que quelque chose pourrait se passer si on l’allumait, que quelque chose pourrait arriver de plus fort et de plus inattendu que ce qui nous arrive d’ordinaire dans la vie.

Hier entlarvt er etwas, was der Handykonsum inzwischen mehr als bestätigt hat: Viele Nutzer schalten das Gerät öfter als gewöhnlich ein, weil wir nichts Wichtiges verpassen wollen – sei es eine wichtige Nachricht auf dem Handy oder früher eine Fernsehsendung, die als Fernsehereignis betrachtet werden kann.  Früher war beispielsweise Wetten, dass…? ein Fernsehereignis par excellence, von dem man noch Tage später mitunter mehr sprach als von einem realen Ausflug.  Paradox ist nur, dass wir heute dank der Mediatheken eigentlich nichts mehr verpassen können – und doch öfter aufs Smartphone schauen als ins Fernsehen. Der Glaube, dass etwas Besonderes im Fernsehen passiert, bestätigt sich oft nicht, doch allein die Möglichkeit, dass Fernsehen interessantere Bilder „produziert“ als wir körperlich-sinnlich einfangen können, rechtfertigt gerade beim Zappen den Griff zur Fernbedienung. Dabei steht fest: Die meisten Fernsehbilder sind eben nicht ereignishaft, sondern eher banal!

Heiter bis burlesk wird es, wenn der Erzähler wissenschaftlich-präzise und zugleich konsumkritisch, über eine Putzaktion des Fernsehbildschirms schreibt (fett markierte Ausdrucke werden auf Deutsch erwähnt):

Enfin, comme je m’apprêtais à quitter ma pièce avec mon pulvérisateur et ma bassine sous le bras, je jetai un coup d’œil sur le téleviseur et, remarquant qu’il était très poussiéreux lui aussi, je lui balançai distraitement une petite giclée de pulvérisateur, qui alla s’écraser en haut de l’écran en un petit amas de mousse blanchâtre effervescente, puis, pris d’un léger vertige où se mêlait sans doute le simple plaisir enfantin de continuer de tirer à une jouissance plus subtile, symbolique et intellectuelle, liée à la nature de l’objet que j’avais pris pour cible, je ne m’arrêtai plus et je vidai presque tout ce qui restait de produit dans le réservoir du pulvérisateur, continuant à tirer à bout pourtant sur le téléviseur, appuyant sur la détente et relâchant mon doigt, appuyant et relâchant, de plus en plus vite, partout, au hasard de l’écran, jusqu’à ce que toute sa surface fût recouverte d’une sorte de couche liquide mousseuse en mouvement qui commenca à glisser lentement vers le bas en filets réguliers de crasse et de poussière melêes, en lentes coulées onctueuses qui semblaient suinter de l’appareil comme des résidus d’émissions et de vieux programmes fondus et liquéfiés qui descendaient en vagues le long du verre, certaines, rapides, qui filaient d’un seul trait, tandis que d’autres, lentes et lourdes, arrivées au bas de l’écran, rebondissait et dégouttaient par terre, comme de la merde, ou comme du sang.  

Was für ein sprachlicher Aufwand, das Saubermachen in solch einen Monstersatz zu packen! Dieser Satz wird mir als Schilderung eines Mikro-Ereignisses im Gedächtnis bleiben, strukturell und inhaltlich. Der Erzähler bemerkt sein „kindliches Vergnügen am Schießen“ zusammen mit einem „subtileren, symbolischen und intellektuellen Genuss“: Das Fernsehen wird im wahrsten Sinne des Wortes zur „Zielscheibe“ für einen „Spritzer“ Spülmittel, wobei der „Hahn“ die „Patrone“ einer geladenen „Sprühpistole“ entleert.  Die „regelmäßigen Schlieren aus Fett und Staub“, die „in cremigen Strömen“ nach unten fließen, werden als „flüssig gewordene Reste von Sendungen, vermischt mit alten Programmen, die in Wellen den Schirm herunterrannen“, in eine äußerst treffsichere Analogie buchstäblich gegossen.  Das Abspülen oder auch Wegspülen kommt einem Entledigen gleich, parallel dazu wird Text produziert, der in seiner Fülle zu einem literarischen Ereignis wird. Denn in keinem anderen Medium ließe sich das Geschilderte so genüsslich synthetisieren wie im Roman.  Abstrakte Fernsehinhalte werden wie „Scheiße“ oder „Blut“ konkret weggewischt. Statt konventioneller Fernsehunterhaltung ist hier außergewöhnliche Romanunterhaltung am Werke!

Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Bernd Schwibs. Die deutsche Version lässt sich auch als E-Book-Version bei der Frankfurter Verlagsanstalt bestellen. Dort stehen die übersetzten Passagen auf den Seiten 5f, 33 und 36.Die französischen Zitate sind der Ausgabe des Verlags Editions de Minuit (2006) auf den Seiten 12, 94f und 100 entnommen. Der zitierte Aufsatz von Natalie Potok-Saaris ist 2014 in der Zeitschrift Paroles Gelées (Band 28, Nr.1; Zitat: S.46) erschienen.