Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Oktober 2023

Reiserelationen  – Über Sibylle Bergs „Die Fahrt“

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Hätte ich früher im Deutschunterricht Sibylle Bergs Die Fahrt gelesen und diskutiert, wäre ich wohl eher auf den Trichter gekommen, dass Literaturstudien auch nach der Schulzeit von großem Interesse sein können.

Sibylle Berg ist als Persönlichkeit und Schriftstellerin streitbar und sicher auch streitlustig:   sie hat sich für die Satire-Partei (mit dem blassen Namen Die Partei) im Europawahlkampf 2024 als Kandidatin aufstellen lassen. Ihre Werke fallen allgemein mit einem gewissen „pessimistisch-sarkastischem Ton“ auf, neben dem „formale Experimentierlust“ spürbar ist, wie die FAZ ihr Werk am Rande eines Interviews mit Edo Reents formulierte (Ausgabe vom 25.09.23). Nachdem ich am Silvesterabend 2021 im Maxi-Gorki-Theater von ihrem Stück Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden (u.a. mit Katja Riemann) mäßig begeistert war, wird mir Die Fahrt besser im Kopf bleiben. 

Dass unter anderem die Kulturstiftung Helvetia und das Globetrotter Reisebüro Bergs Romanprojekt unterstützt haben, wie man im Impressum erfahren kann, zeigt ein gewisses Engagement für die Sache, und die Sache heißt Literatur, für die gerade bei einer einschlägigen Thematik das Reisen essentiell ist.

Die Fahrt, zuerst erschienen 2007, erzählt von Reisenden, die sich untereinander mehr oder weniger gut kennen. Sie sind oder werden vor und während ihrer Reisen Bekannte. Insofern gibt der Romantext Reiserelationen in doppelter Hinsicht wieder: Personen und Orte werden miteinander so verknüpft, dass beide Kategorien zueinander eine Beziehung eingehen: Die Orte werden meist in Bezug von Relationen innerhalb von Städten oder Orten oder zwischen ihnen beschrieben, so dass die Wahrnehmung der Erzählstimme weniger das Wesentliche als das Flüchtige thematisiert, so dass das Erzählte mitunter grob-verzerrt herüberkommt. Sibylle Berg hat damit den Stempel ihrer Reisen auf die verschiedenen Charaktere aufgedrückt.

Zwei der gut zehn Figuren sollen als kleine Kostprobe dienen: Frank und Ruth. Während die ihm gewidmeten ersten drei Kapitel in Berlin und die letzten drei Kapitel in Reykjavík verortet sind, so begegnen wir Ruth in Franks erstem Berlin-Kapitel, bevor wir in sieben folgenden Kapiteln ihrer Reise bruchstückhaft folgen können: Drei Kapitel handeln in Tel-Aviv, drei weitere jeweils in Wien, Neu-Ulm und Paris, bevor wir sie im letzten Kapitel in Reykjavík wiederfinden.

Von Frank erfahren wir in sechs Kapiteln genau so viel, dass wir uns ihn als daheim in Berlin Dahinlebenden vorstellen können, der mit sich zufrieden ist, vielleicht deswegen, weil „eine Abwesenheit von Erwartungen“ vorherrscht:

Frank konnte heute verstehen, dass Berlin gemeinhin als wenig anziehend galt, denn die Stadt war definitiv eine äußerst hässliche Angelegenheit. Keiner hätte geglaubt, dass dieser Klumpen eingezäunten Drecks jemals wieder so etwas wie eine Metropole werden konnte. Nun war es eine, mit all den dazugehörigen Luxusläden, Kiezen, Parallelwelten, die sich nicht berührten. Es gab ein paar ästhetisch ansprechende Orte, doch hielten die sich immer so weit entfernt von einem selbst auf, dass man sie nie aufsuchte.  (…) So grenzten die Menschen mit zunehmendem Alter ihren Radius ein, gewöhnten sich an die Kneipen, Läden, Grünflecken in ihren Vierteln, die nicht größer waren als ein Dorf. Vermutlich sind Menschen von jeder Ansiedlung, die die Größe einer Kleinstadt überschreitet, überfordert.

Das Glück blitzt kurz auf, als er Ruth kennenlernt, als er einen aus seinem Nest gefallenen Vogel erstversorgt, mit ihr und einer Flasche Wein eine Nacht verbringt und anschließend das Leben des Vogels bei sich zu Hause für drei Tage verlängert. Eine Fernreise nach China bricht er ab, als er in einem startklaren Flugzeug sitzt; schließlich nutzt er einen dienstlichen Kontakt in Island aus, als er sich endlich einen Ruck heraus aus einem festgefahrenen Leben geben kann.  Lebensglück kehrt somit andernorts im Geiste der Gemeinschaft ein:

Am Abend war Frank so verabredet, wie man es in Island tat. Komm doch vorbei, sagte man, und dann kamen alle vorbei und hockten in Küchen, gingen später noch in eine Bar oder irgendeine andere Wohnung, um da herum-zuhocken. Dabei wurde immer nett geschwiegen, bis mehrere Isländer umfielen. Ohne Umfallen war der Abend kein gelungener. Frank, der nie ein Freund von Gesellschaft gewesen war, fühlte sich inmitten dieser merkwürdigen Menschen ausnehmend wohl. Vielleicht war es das Abhandensein von Eitelkeit, das die Atmosphäre so angenehm machte. Alle waren irgendwie verwandt, wer wollte da angeben?

Ruth lebt zu Anfang des Romans recht einsam als Übersetzerin ohne große Leidenschaft in Tel-Aviv. Statistiken übermitteln lakonisch-sarkastisch die Gefahren des Alltags, die leider im Oktober 2023 eine brutale Aktualität erfahren mussten: „Sie hatte gelernt, Autos mehr zu fürchten als Terroristen, es gab 6000 Verkehrstote jedes Jahr, dagegen nur 200 Terrortote.“ Wenige Abschnitte später heißt es : „3838 Terroranschläge gab es im letzten Jahr, täglich wurden 40 Attentatsversuche vereitelt. Alltag ging da nur mit Verdrängen.“ Zwei weitere Kapitel begleiten wir Ruth desillusioniert in Israel, bevor sie unfreiwillig auf der Rückkehr in die Heimat einen Kurzaufenthalt in einem Wiener Stundenhotel einlegt, ebenso unfreiwillig auf der Zugfahrt nach Berlin in Neu-Ulm strandet, zur Ablenkung ihre Sommerferien im brütend heißen Paris verbringt, wo sie zur ersehnten Abkühlung ein weiteres „Sommersonderangebot“ aufschnappt, nämlich zwei Wochen Island. In einem Reykjavíker Café trifft sie im fünftletzten Kapitel unverhofft Frank wieder. Sie erinnern sich an ihr erstes Zusammentreffen; in einem Leuchtturm verbringen sie gemeinsam eine romantische Nacht, als ihnen das Meer den Weg zum Festland versperrt. Einige Wochen herrscht das Glück in neuer Zweisamkeit vor, nachdem sie sich in das von Gunner zurückgelassene Haus eingemietet haben, der auch sein Todesort sein wird: Frank stirbt schließlich krebskrank „im Morphiumnebel“ im Beisein von Ruth.

Das letzte Kapitel knüpft an das erste Kapitel an, als von eben diesem Gunner die Rede war, der sein Haus nach der Trennung von seiner Freundin verlässt. Hier ist die Beziehung mit einer weiteren Figur also keine persönliche, sondern rein örtlich. Dadurch, dass die Reisen aller Charaktere flüchtig geschildert werden, festigen sich keine Konstellationen. Das Raum-Zeit-Kontinuum hat im Buch keine Relevanz, was eine aufmerksame Lektüre erfordert: Das Sprunghafte wird in diesem Roman zur erzählerischen Tugend: Wer das Buch ein zweites Mal liest, wird zuvor verborgene Bezüge auftun können.

Leider kommen die beigefügten Fotografien in der rororo-Taschenbuchausgabe (Rowohlt Verlag) qualitativ nicht gut weg. In der Ausgabe von Kiepenheuer & Witsch (Kiwi) entfalten sie eine deutlich bessere Wirkung. Sie geben dem Erlebten buchstäblich noch eine größere Dimension, da mit ihnen die beschriebenen Orte noch präsenter wirken. Die Lust zu fabulieren  macht aus diesen Schnappschüssen zusammen mit präzisen, meist skurrilen Reisebeobachtungen an kaum zu überblickenden Orten eine zeitlose, rasante Erzähl-Fahrt,  gleichsam ein literarisches Fahrtenbuch. Die vielleicht vorhandene Reisekostenabrechnung von Sibylle Berg wäre im Literaturmuseum Marbach sicher gut aufgehoben!

Lieferbar ist die KiWi-Ausgabe direkt beim Verlag. Die längeren Zitate befinden sich in der rororo-Ausgabe auf den Seiten 15 und 311, die kürzeren auf den Seiten 36f.

In die Tiefe der Sprach-Maschine – Über den halbautomatischen Zugang zu einem spanischen Popsong

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Deep-L ist mittlerweile zu einem recht bewährten Werkzeug geworden, mit dem sich nicht nur gut übersetzen, sondern auch zusammenfassen lässt. Das Potenzial ist gewaltig.

Als ich im Studium Spanisch lernte, kam die poetische Kraft der Sprache eindeutig zu kurz. Doch als ich Ende August auf Deutschlandfunk Kultur den ruhigen Popsong Ámbar – zu deutsch: bernsteinfarben – von Calavera hörte, dachte ich mir, wie schön es wäre, nicht nur einige Brocken im Audioradio aufzuschnappen, sondern auch den ganzen Liedtext zu durchdringen. Außerdem hilft es, wenn man dank der kostenlosen Version von Deep-L eine schnelle Übersetzung ins Deutsche erhält (und dazu auch kurze Zusammenfassung des Liedtextes). Zweimal – am 04.09. und am 28.09. – bemühte ich das Tool: Während die beiden gelieferten Übersetzungen so gut wie übereinstimmen, sind die Zusammenfassungen komplett verschieden. Als mögliches Unterrichtsthema wäre es nun sinnvoll, diese beiden Version miteinander zu vergleichen. Während der erste Versuch sehr stark am Liedtext klebt, ist der zweite deutlich freier und vor allem auch abstrakter formuliert, so dass hier das Interpretatorische stärker hervorkommt. Genau das ist ja wichtig, um sich von dem Modus des Beschreibens zu lösen und Bedeutungen herauszufiltern, ohne dabei besondere Ausdrücke aus dem Blick zu verlieren:

Am 04.09. hieß es:

Der Text handelt von einer Person, die von einem Zug springt und sich plötzlich alleine fühlt. Sie sehnt sich nach der Anwesenheit einer anderen Person und vermisst deren Fußabdrücke. (…) Sie braucht diese Person mehr als andere und wenn diese nicht in ihrer Nähe ist, verliert sie sich immer wieder in der Stadt.

Am 28.09. las es sich ganz anders:

Der Text handelt von einem Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit in einer Stadt. Die Protagonistin erinnert sich an eine vergangene Beziehung und sehnt sich nach der Anwesenheit der Person. (…) Die Stadt symbolisiert dabei ihre eigene innere Leere. (…) Dieses Verlieren in der Stadt symbolisiert auch das Verlieren von sich selbst und einer Identität ohne die besagte Person.

Das klingt deutlich überzeugender, wenngleich es voreilig ist, die Stadt als Symbol zu sehen.  In ihr ist die Einsamkeit zu beobachten, doch wird  sie nicht beschreibend  einbezogen. Im Refrain heißt es:

Sigo perdiéndome en la ciudad

Si ya no tengo a dónde ir

Te necesito más que a los demás

Sigo perdiéndome en la ciudad

Si no te tengo junto a mí

Es que prefiero recordarte así

Como una luz en la oscuridad

Die deutsche Übersetzung gibt den Text fehlerfrei wieder:

Ich verliere mich immer wieder in der Stadt

Wenn ich nirgendwo anders hingehen kann

Ich brauche dich mehr als die anderen

Verliere ich mich immer wieder in der Stadt

Wenn ich dich nicht neben mir habe

Ich würde mich lieber so an dich erinnern

Wie ein Licht in der Dunkelheit

Diese gute Übersetzungsleistung reicht jedoch nicht aus, um gänzlich richtige Schlüsse daraus zu ziehen. Beziehungsverlust führt letztlich oft zu Einsamkeit, doch was kann in diesem Kontext die Stadt dafür?

Die erste Strophe mag als Beispiel dafür dienen, wie im Original eine bestimmte Verlust-Stimmung einer geliebten Person beschrieben wird:

Bajé de un salto

De tu tren en marcha

Rodé sobre la escarcha en el asfalto

Sentí tu falta

Y ahora me asaltas

Y ya no queda ni rastro de tus huellas descalzas

Im Deutschen wird dies auf Deep-L folgendermaßen (nach einem groben wiederholten grammatischen Fehler in den September-Versionen) am 05.10. übersetzt:

Ich sprang hinunter von deinem fahrenden Zug

Ich rollte über den Frost auf dem Asphalt

Ich fühlte deine Abwesenheit und jetzt überfällst du mich

Und es gibt keine Spur mehr von deinen barfußigen Fußabdrücken

„Barfußige Fußabdrücke“ klingt mit insgesamt acht Silben wenig elegant; „rollen“ wäre besser freier mit „schlittern“ oder „sich treiben“ übersetzt, wodurch die kreisende Vorstellung des Ausgangsverbs verloren geht. „Escarcha“ ist mehr der (funkelnde) Raureif als bloßer Frost. Gänzlich falsch wurde das Verb „asaltas“ (Infinitiv: asaltar) am 04.09. und am 28.09. im Imperativ als eine Art Aufforderung mit „überfallen“ übersetzt. Warum eigentlich? Es handelt sich ja um den Indikativ, was in der Oktober-Übersetzung (endlich!) grammatisch richtig gestellt wurde.  Auf Deutsch lässt sich das nur ungut wiedergeben; man könnte hier vielleicht mit „Nun komme ich nicht von dir los“ übersetzen.  Im Spanischen dürfte die Verknüpfung des Springens, nämlich des Absprungs mit „bajé de un salto“ (Zeile 1 – Infinitiv: bajar de un salto) und des mentalen Aufspringens mit „asaltas“ (Zeile 5 – Infinitiv: asaltar) möglich sein, wenn man sich jeweils einen (Beziehungs-)Zug dazudenkt. Von einem fahrenden Zug zu springen lässt sich als Trennung ohne eindeutiges Motiv verstehen; nun ist die physische Abwesenheit und die gedankliche Anwesenheit des Gegenübers stark ausgeprägt: Inhaltlich kann es ja demnach beim Aufspringen nur um ein mentales Belagern, nicht um ein Überfallen gehen (Stichwort: Spurenlosigkeit).  Hier merkt man, wie schwierig es für die KI immer noch ist, die richtige Bedeutung des Verbs aus dem besungenen Kontext  herauszulesen.

Kurz noch zum Musikalischen: Dieser Song ist raffiniert psychedelisch komponiert. Besonders gelungen finde ich die harmonischen Wechsel auf den Endsilben „tí“, „ir“ und „mí“, der nach meinem Eindruck einen Ton-Sprung wiedergibt, der den Original-Text  gut illustriert.  So passt der Titel „bernsteinfarben“ sehr gut, der sich zumindest im Songvideo auf ein blinkendes Ampellicht bezieht. Wer nun glaubt, dass dieses Licht im Reich der Poesie verbleibt, irrt: Auf der Homepage der Stadt Mainz wird sogar für den Einsatz dieser Farbe für Beleuchtungszwecke geworben: „Sogenannte Amber-LED-Leuchten strahlen langwelliges, bernsteinfarbenes Licht ab und haben sich als sehr umweltfreundlich erwiesen.“ Bezogen auf Calveras Song poetischer formuliert: Ámbar ist im wahrsten Sinne ein Glanzlicht!

Das Lied kann hier (in Verknüpfung mit einem Musikvideo) nachgehört und der Songtext nachgelesen werden.

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