In der Oberstufe konnte ich wenig mit Georg Büchners Woyzeck anfangen. Nun habe ich mir Alban Bergs Oper Wozzeck vorgenommen, um den Stoff noch einmal zu ergründen. Dabei wird mir ein Gemälde von Wilhelm Joseph Heine (1813-1839) aus dem Jahre 1838 helfen, das ich Anfang des Jahres im Museum der bildenden Künste in Leipzig gesehen habe.  Allein der Titel Gottesdienst in der Zuchthauskirche ist alles andere als gewöhnlich: 

Wilhelm Joseph Heine: Gottesdienst in der Zuchthauskirche
Wilhelm Joseph Heine: Gottesdienst in der Zuchthauskirche (1838); Herkunft/Rechte: Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Andres Kilger

Es handelt sich um ein „politisches Zeitzeugnis der deutschen Kunst des Vormärz“; dabei ist die „kultivierte  Farb- und Lichtgestaltung“ ein besonderer Hingucker. Der revolutionäre Geist des Bildes ist bereits in der Perspektive wahrnehmbar, da der Blick des Betrachters eben nicht in Richtung Altar gerichtet ist und kirchliche Insignien weitgehend fehlen. Man kann nicht umhin, sich auf die Antlitze der Insassen zu konzentrieren, die in ein ganz intensives Licht getaucht sind. Natürlich kommt das Licht von oben, also vom Himmel herab, so dass man es auch als göttliches Licht interpretieren könnte. Entscheidender finde ich, dass Individuen auch mental in ihrem Geiste erleuchtet werden, um damit politische Überzeugungstäter zu verkörpern. Das Licht-Symbol steht auch für irdische Erkenntnisse, mit denen Gesellschaften mehr und mehr demokratisiert worden sind. Hierin liegt die Brisanz des Gemäldes, denn die Abgebildeten sind ja hauptsächlich wegen ihrer unliebsamen Gesinnungen an dem Ort zu finden.

Der geschulte Kunsthistoriker-Blick mag auch erkennen, dass Heine „zum Zeichen der Verbundenheit“ vor allem in die Figur des neben den Bewachern stehenden Mannes mit verächtlicher Miene „selbstbildnishafte Züge“ eingearbeitet habe. Er trägt einen „Weberkittel“, was einem Betrachter wie mir auch nicht aufgefallen ist. Für den Laien ist sofort ersichtlich, dass Gespräche und Buchlektüren im hinteren Kirchenbereich damals nichts Ungewöhnliches waren. Insofern erscheint das heutige Kirchenvolk geradezu aufmerksam, wenngleich sich natürlich die Kirchenbesuche seitdem deutlich verringert haben.

In den gemalten Figuren kommen nach meiner Lesart individuelle Gesichtszüge klar zur Geltung. Man kann Charaktereigenschaften hier quasi aufleuchten sehen.  Der junge Mann, der recht entspannt gegen die mächtige Säule lehnt, ist ebenfalls ins besonders helle Licht gerückt und richtet selbstbewusst, wenn nicht gar trotzig als einer der wenigen den Blick nach vorne. Ob er den Gottesdienst zur Klage gegen sein Unheil nutzt?

In jedem Fall hat der früh verstorbene Künstler hier einen unglaublich tiefsinnigen Einblick in Gemüter mit einer revolutionären Gesinnung gewährt. Was wohl zeitgenössische Betrachter gedacht haben mussten? 

Angesichts der harten Lebensumstände in einer Anstalt muss ein Gottesdienst eine vorübergehende Erholung vom Alltag gewesen sein. Man konnte besser als sonst mit seinen Gedanken eine Verbindung zu seinen Mitmenschen und natürlich zu Gott aufbauen, wenn man das Bedürfnis dazu spürte.

Soziale Begegnungen waren ja nicht selbstverständlich während der Haftzeit. Es hat den Anschein, als ob hier die Gespräche frei und ohne stärkere Überwachung ablaufen konnten. Der Besuch in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt und heutigen Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im April 2023 hat mir erneut gezeigt, dass psychologische Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts auch zur drastischen Verschärfung von Haftbedingungen führen konnten. Dort waren die Häftlinge sich keinesfalls darüber im Klaren, wo sie sich genau befanden. Begegnungen mit Gleichgesinnten waren ausgeschlossen. Insofern ist Heines Gemäldes auch ein Bild, in dem gedankliche Freiheit als Momentaufnahme erspürt werden kann. Auch in Haftzeiten kann man sich gegenseitig zur mentalen Befreiung Gedankengut näherbringen.

Das Bild ist im Kleinformat mit den zugehörigen Erläuterungen von Birgit Verwiebe oder in vergrößerter Einstellung zu bestaunen.