Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Autor: Thomas Edeling Seite 1 von 12

Genießer und Entdecker kleinerer und größerer unbekannter Gefilde. Vom Südrand des Ruhrgebiets stammend, aus dem Essener Süden, wo landschaftliche Reize und Industriekultur gleichermaßen in der Nähe sind. Im beruflichen Alltag Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. In der Freizeit gerne auf dem Rad, auf Langlauf-Skiern, auf der Vespa oder zu Fuß unterwegs.

Unwägbare Melancholie – Gedanken zu zwei Songs über eine hohe Regen-wahrscheinlichkeit

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Auf der Rückfahrt von einem sonnigen Winterspaziergang im Erzgebirge hörte ich im Autoradio das Lied Regenwahrscheinlichkeit 100% von Michel van Dyke, der schon fast 40 Jahre im Musikgeschäft tätig ist. Als Teenager kam er aus den Niederlanden nach Deutschland, wo er sich dann auch niederließ. Von ihm hatte ich noch etwas gehörteindeutig ein Versäumnis.  Sein Album Bossa Nova, bereits 2005 veröffentlicht, verrät das Genre dieses Liedes, das vom Text her nicht besonders leicht verständlich ist:

„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen muss“ als letzte Liedzeile bleibt neben dem Titel im Kopf. Die Melancholie des Liedes kann nur eine alles andere als romantische Stimmung widerspiegeln: „seltsam vertraut“, „irgendwie diffus“ sind Zuschreibungen, die eindeutig Ambivalenz ausdrücken.  Nähe und Distanz halten sich die Waage.  Immerhin hat die Liebesbeziehung, von der die Rede ist, eine tiefe Krise überstanden. Ob sie ein gutes Ende nehmen wird, bleibt natürlich offen. Die 100% drücken definitiv eine gewisse Sicherheit aus, was die Prognose anbetrifft. Mit anderen Worten: Vollkommen uneindeutig ist die Stimmung nicht.

Das vom Grafikdesigner mit dem Künstlernamen geboren thielsch gestaltete Album (ab den späten 90er Jahren bekannt unter dem Namen Walter Welke; davor unter Walter Thielsch) kann man jedenfalls ironisch betrachten, da auf dem Cover nichts auf Regenwahrscheinlichkeit hinweist. Auch hier halten sich das Artifizielle und das Natürliche die Waage: Das Motiv zog mich sofort in den Bann, auch weil das auf den ersten Blick außergewöhnliche Landschaftsmotiv, das ein bürgerlich eingerichtetes Wohnzimmer als Ausblick zu bieten hat, als starker Kontrast zum Interieur wirkt.  

Michel van Dyke: Bossa Nova
Albumcover von “Bossa Nova”, gestaltet von geboren thielsch; Interpret: Michel van Dyke

Es wird explizit auf der Internetseite des 2011 verstorbenen Grafikers auf den „Sound  der Sechziger“ verwiesen, der kreativ neu aufgesetzt wird. Man hat den Eindruck, dass hier ein digitales Hörerlebnis nicht ausreicht, sondern die Hardware, also das Album als Produkt zum besseren Einhören einfach dazugehört.  Ganz ohne (mentale) Bilder kommt diese feinfühlige Musik jedenfalls nicht aus.

Bei Bossa Nova als seit den 1960er Jahren verbreitetem brasilianischen Tanz, gekoppelt mit einem deutschsprachigen Text, empfiehlt sich ein genaueres Zuhören. Der 4/4 Takt (oder handelt es sich um eine andere Taktart?) wirkt schleppend, dazu dieser sperrige Titel, den man ansonsten nur von Wettervorhersagen kennt, mit der Betonung auf den Silben „re“, „schein“, „Hun“ und „zent“.

Zum Vergleich hat die mit Jan Josef Liefers liierte Schauspielerin und Sängerin Anna Loos 2023 einen Disko-Fox-Song mit dem Titel Regenwahrscheinlichkeit in ihrem Album Das Leben ist schön veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Loos van Dykes Song kennt, da dieser mit ihrem Ehemann zusammengearbeitet hat. Der Song ist recht konventionell komponiert, wobei der Inhalt ebenfalls auf den dunklen Kontext der Liebesbeziehung abzielt, dessen Botschaft im Refrain recht klar ist:

Wir haben uns verlaufen / Sind nass bis auf die Haut / An all den dunklen Tagen / Wächst die Regenwahrscheinlichkeit.

Selbst wenn dunkle Wolken aufziehen/ und uns das Wasser bis zum Hals steht / Dann soll es so sein /Es geht schon wieder vorbei / mit der Regenwahrscheinlichkeit.

Die erlebte und gefühlte Distanz zueinander soll überwunden und schließlich die „Wolkenwand“ durchbrochen werden. Die letzte Refrainzeile kann mich jedoch nicht überzeugen: Warum und wie sollte eine Regenwahrscheinlichkeit vorbei gehen? Wie kann ein Phänomen auf 0% gedrückt werden?

Allgemein freut es mich, dass Regenwahrscheinlichkeit als Begriff im Zeitalter von häufig abgerufenen Wetterradardaten Hitpotenzial hat. Oft ist auch die Wetterküche unvorhersehbar; und Regen kann nicht per se als negativ interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne in naher Zukunft wieder scheinen wird, liegt jedenfalls auch bei 100%.

Übrigens lohnt sich auch der Song Neu in dieser Stadt aus van Dykes Album. Hier wird mit einem eingängig komponierten Soundteppich die Melancholie auch ohne Präsenz des Textes vergegenwärtigt. Das Album ist in geringen Stückzahlen gebraucht auf verschiedenen Plattformen erhältlich, z.B. auf rebuy.

Das verborgene Netz-Werk: Über ein Gemälde von Remedios Varo

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Den Namen der spanischen Künstlerin Remedios Varo (1908-1963) werde ich bestimmt nicht mehr vergessen. „Remedios“ – Heilmittel – als Vorname, und dann noch im Plural!  Das erscheint einzigartig, gerade wenn er von Geburt an vorlag.

Auf einem Streifzug durch die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne Ende Januar 2023, die im Potsdamer Museum Barberini gezeigt wurde, blieb mir unter anderen das Ölgemälde Tres destinos (Drei Schicksale) im Kopf. Varo malte es Mitte der 1950er Jahre und zeigt darin ihre Meisterschaft, die mich mehr anspricht als die eines Salvatore Dalí oder eines Max Ernst.

Tres destinos: Remedios Varo (1956)
Remedios Varo: Tres destinos (Drei Schicksale), 1956, Öl auf Masonit, Privatsammlung.

Im Ausstellungkatalog ist zu Remedios Varo besonders der Artikel „Okkulte Bildwelten. Leonora Carrington und Remedios Varo“ von Victoria Ferentinou auf den Seiten 215-237 lesenswert. Zum Gemälde Drei Schicksale,  auf der Seite 227 abgebildet, heißt es auf der Seite 219:

Im Vordergrund stehen drei hohe Türme mit spitz zulaufenden Dächern, die von mönchartigen Gestalten in weiten grünen Gewändern bewohnt werden. Während die Figuren in ihre spirituelle Arbeit versunken sind und vollkommen isoliert voneinander scheinen, symbolisieren transparent leuchtende Seile ihre kosmische Verbundenheit und deuten darauf hin, dass sich „ihre Lebenswege eines Tages kreuzen werden“, wie Varo selbst zu ihrem Bild vermerkte. Indem die Seile mit einem strahlenden Himmelskörper verbunden sind, weist die Ikonographie auf die Ambivalenz zwischen freiem Willen und göttlicher Vorsehung hin und greift zugleich den Gedanken einer Analogie zwischen Mensch und Universum, Mikro- und Makrokosmos auf.

Der bei Varo zu entdeckende Okkultismus „als eine Art Geheimwissenschaft, die sich mit vermeintlich übernatürlichen Kräften und Phänomenen befasst und eng mit dem Glauben an die Magie verbunden ist“ sowie die Magie als „eine Praxis, die darauf abzielt, übernatürliche Kräfte für menschliche Zwecke dienlich zu machen“ stehen mir eigentlich nicht nah. Mir scheint, dass es vor allem das Motiv ist, das mich in den Bann zog. Diese drei Schicksale, auf der Leinwand festgehalten, sind durch ein feines Netz-Werk miteinander verknüpft. Was in der Wirklichkeit oft als Netzwerk recht pauschal bezeichnet wird, erscheint hier auf unglaubliche Weise plastisch. Wir können nicht ergründen, was die drei abgebildeten Personen inhaltlich verbindet, doch es reicht, wenn Nähe und Distanz eine merkwürdige Symbiose eingehen: Einerseits diese Isolierung in den drei Hütten, andererseits das Zusammenspiel über das Gewebe. Der altmeistliche Farbauftrag  lässt nicht automatisch an das 20. Jahrhundert denken, ebensowenig wie die drei Figuren, die alles andere als flüchtig dargestellt sind. Geometrische Strukturen zeigen eine Welt zeitloser Präzisionsarbeit; und auch die Vorgänge in den drei Türmen lassen ein Zeugnis der geistigen Sammlung erkennen. Eine Feder, ein Pinsel und ein Glas sind als Werkzeuge sichtbar; schreiben, zeichnen, sinnieren sind meine Assoziationen zu diesen Objekten. Es entsteht vor dem inneren Auge ein Ruhepol, das zu kontemplativem Betrachten einlädt. Die Seile bilden einen Mechanismus ab, der keinen rationalen Erwägungen folgt und deswegen umso mehr faszinieren kann, ebenso wie eine Apparatur, die man nicht ganz in ihrer Funktionsweise durchschauen kann. Insofern kann jeder Betrachter hier auch über nicht vollständig erklärbare Vorgänge aus der realen Lebenswelt nachdenken.  Er fügt seine Erfahrungen als Bewohner ein, die auch von merkwürdigen Beziehungen zu anderen Menschen zeugen. Was verbindet Stadt-Menschen? Irgendein Werk, bei dem wir auf das Wirken anderer angewiesen sind, lässt eine Trennung zu anderen durch Mauerwerk weniger rigide erscheinen. Es lässt sich oft nicht genau ergründen, wer an einem bestimmten Ergebnis mitgewirkt hat, da die zuvor stattgefundenen Vorgänge nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So wie ein Ergebnis eigentlich mehrere Ergebnisse umfassen, besteht ein Vorgang aus Vorgängen. Das Ganzheitliche lässt sich nur mit dem Partiellen herleiten – so wie drei Schicksale an einem Strang, ausgehend von einer höheren Macht, ziehen (müssen).  

Die kurzen Zitate zu Magie und Okkultismus habe ich dem Glossar von Helen Bremm im Ausstellungkatalog entnommen, der im Prestel Verlag erschienen ist (auch eine englische Ausgabe liegt vor, da die Peggy Guggenheim Collection auch an der Ausstellung beteiligt war).

Immobilie ohne Mobiliar – Die renovierte Villa Grossmann in Ostrava

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Am Rande eines Erasmus+ – Aufenthaltes besuchte ich Anfang November die im April 2024 für Besucher eröffnete Vila Grossmann an einer wichtigen Ausfallstraße in Ostrava. Nur ein aufmerksamer Blick auf Google Maps verriet mir von deren Existenz:

 

Vila Grossmann
Außenansicht der Villa Grossmann im November 2024

Ganz allein wurde ich durch das imposante, von 1922 bis 1924 erbaute Gebäude geführt. Dort erzählte man mir, dass ich der erste Besucher sei, der sich für eine Führung auf Deutsch interessiere. Da ich nur drei Tage im Voraus die Führung gebucht hatte, schien das freundliche Personal nicht auf diese Herausforderung vorbereitet gewesen zu sein. Jedenfalls war die knapp sehr interessante 60-minütige Führung in zwei sprachliche Abschnitte aufgeteilt: Während der ersten Hälfte versuchte ich, die Erläuterungen in langsam vorgetragenem Tschechisch (inklusive mir eher vertrauten slowakischen Einsprengseln) zu verstehen, die zweite Hälfte spielte sich dann auf Deutsch ab, das den Mitarbeiter nicht allzu sehr herauszufordern schien (Vielleicht merkte er auch, dass ich ihn nicht mit Detailfragen herausfordern wollte…).

Die Führung war fast zu Ende, als ich das tragische Ende von František Grossmann erfuhr. Er nahm sich durch einströmendes Gas im November 1933 in seiner eigenen Villa das Leben, als sein Bauunternehmen infolge einer Wirtschaftskrise überschuldet war. Seine Frau wollte im gleichen Zug Selbstmord begehen, doch das misslang, da sie im Krankenhaus wiederbelebt werden konnte. Ich meine verstanden zu haben, dass sie einen weiteren Selbstmordversuch (ebenfalls vor Ort) nicht überlebte. Ganz genau will und muss ich dies auch nicht wissen. Das Jahr 1933 muss ein tragisches Jahr gewesen sein, denn diese Aktion war sicher vorbereitet worden. So konnte ich die Vila Grossmann trotz ihrer Pracht nur betrübt verlassen.

Es gibt wohl (noch) keinen im Internet zugänglichen längeren Artikel zur Villa Grossmann in deutscher Sprache. Dieser Informationsmangel sollte von einem Architekturkenner in den nächsten Jahren behoben werden, gerade auch weil František Grossmann in seiner Doppelrolle als tschechischer Bauherr und Architekt noch einige andere interessante Bauwerke vor Ort entwarf, unter anderem das Wasserwerk, das an der gleichen Ausfallstraße wie sein Wohnhaus liegt. Außerdem ist die Villa mit einem repräsentativen Bürogebäude nebenan verbunden gewesen, das leider aufgrund von Privatbesitz nicht mit in die Renovierung einbezogen werden konnte.  

Die Recherchen zeigen, dass eine tschechische Webseite, die drei Lost Places in Ostrava dokumentierte, auch auf den Zustand der Villa vor der Renovierung explizit hinwies. Die Fotos belegen den tristen Zustand vor 2021.  Lange war die Villa im Besitz von Unternehmern, bis sie in den 1960er Jahren in städtischem Besitz zum Kindergarten umfunktioniert wurde. Seit 2005, also mehr als 15 Jahre, stand das Haus leer. Drei Jahre Rekonstruktion kosteten die Stadt umgerechnet mehr als 5 Millionen Euro. Das ist vergleichbar mit einem Neubau von zwei Wohnhäusern in einer mittleren Preislage irgendwo in Deutschland (z.B. in Chemnitz).

Eine tschechische Webseite, die sich auf regionale Bauprojekte spezialisiert hat, zeigt die Schönheit des restaurierten Zustands, vor allem die vielen dekorativen Elemente, die sicher auch für Kunsthistoriker interessant ist. Ein Mikrokosmos, der noch vollkommen unmöbliert ist. Das wird sich in der Zukunft womöglich ändern.  

Ich bin gespannt, welche Online-Artikel in den nächsten Jahren auf Deutsch, Englisch und Französisch entstehen werden. In diesem Jahr, also ziemlich genau 100 Jahre nach seiner Fertigstellung, ist die Quellenlage außerhalb des tschechischen Sprachgebietes noch äußerst dürftig. Auch diese Leerstelle wird sich auffüllen lassen. Und womöglich werden weitere historische Quellen noch ausgegraben und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Und wer einmal nach Ostrava kommt und die ganz besondere Industriekultur im Süden der Stadt besichtigen möchte, kommt, landläufig gesagt, an der Villa Grossmann nicht vorbei! Im Klartext müsste es heißen: Er sollte unbedingt unbedingt vorbeikommen!

Aktuelle Infos (auch auf Englisch) zur Villa Grossmann finden sich auf der Homepage.

Wohl bekomm’s: Zwei Wort-Cocktails der besonderen Art

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Es war in einem Kassenbüro, als ich von einer Kollegin folgenden Satz hörte:„Wir sind nicht auf der Buttermilch dahergeschwommen“.  Obwohl der Kontext klar war, konnte ich so gut wie nichts mit dieser Botschaft anfangen. Das Nachfragen dauerte ein wenig; und auch als mir die Bedeutung verraten wurde, nämlich einen Vorgang oder ein Verhalten zu durchschauen, war ich perplex, da es sich zudem bei der Wendung um eine Variante handelt. Im Online-Wörterbuch Wiktionary ist es die Brennsuppe, auf der man daherschwimmt. Und weitere Recherchen zeigten, dass auf dem Thüringer Schulportal die „Wurstsuppe“ durchschwimmbar ist. Der „MDR Jump Wortinspektor“ hat dazu einen kurzen  Podcast erstellt, der allerdings ausschließlich auf die „einfachen, ungebildeten Verhältnisse“ verweist, die mit dieser Redewendung sprachhistorisch ohne Negation in Verbindung stehen. Brennsuppe, Buttermilch und Wurstsuppe gehörten ja zu den sogenannten Arme-Leute-Mahlzeiten dazu. Auch dort, wo sich die „Genussregion Oberfranken“ vorstellt, ist von diesem Hintergrund die Rede:

„Der ist nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen“, gilt als sprichwörtliche Umschreibung einigermaßen solider Lebensverhältnisse. Auf der Brennsuppe schwamm demnach wohl derjenige, der sie auch aß, ein unbedeutender oder etwas beschränkter Mensch, der in relativ einfachen Verhältnissen lebte und sich mit einer schlichten Mehlsuppe zufrieden geben musste. Dennoch kann auch hier Schmalhans ein kreativer Küchenmeister sein und zaubert aus der schlichten Suppe einen schnell zubereiteten, würzigen Gaumengenuss.

Hier zeigt die Negation schön, dass der Sprecher bzw. die gemeinte Person sich in ein positives Licht stellen lässt. Und selbstverständlich kann dies auch in gutem Glauben an Personen ohne relativen Wohlstand gelten, wenn man sie zum Beispiel kochen lässt. Dass diese Wendung ebenfalls eine ausgereifte Interpretationsfähigkeit anzeigt, finde ich angesichts des sprachlichen Konstrukts höchst komplex. Denn es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Schlauheit bzw. spezifischen Erfahrungswerten. Offensichtlich gilt aber bei der Wendung: Wer zu mehr Wohlstand gekommen ist, besitzt auch eine höher entwickelte geistige Anlage.  

In Verbindung mit einem einfachen Getränk steht die komplexe Bezeichnung für ein Heilwasser der Marke Förstina, das ich kurz vor dem Totensonntag kaufte:

Das Förstina St. Maria-Brunnen Heilwasser enthält in seiner natürlichen Beschaffenheit pro Liter über 1.000 mg Kohlensäure und kann somit in Verbindung mit den weiteren Hauptbestandteilen als ein flouridhaltiger Calcium-Hydrogencarbonat-Sulfat-Säuerling bezeichnet werden.

Dieser „Säuerling“ mit drei vorgeschalteten Substantiven sowie Adjektiv scheint ein zu lang geratender Fachbegriff zu sein. Dem ist aber nicht so, wie mir mein Bruder telefonisch erklärte. Es ist ein „Trivialname“, was angesichts der Wortlänge erst einmal merkwürdig erscheint. Doch wer sich als Kunde mit Mineralwasser auskennt, der kann durch die angegebenen wesentlichen Bestandteile (natürlich im gelösten Zustand) die stoffliche Zusammensetzung gut einordnen und mit anderen Heilwasserprodukten vergleichen. Bei einem etablierten Fachbegriff wäre das womöglich nicht der Fall. Dass das Wasser schwach sauer ist, daran besteht angesichts des „Säuerlings“ kein Zweifel. Dass Wasser mit dem Suffix „-ling“ in Verbindung gebracht wird, finde ich nach wie vor amüsant: ‚Winzling’, ‚Fremdling’, ‚Neuling’, ‚Findling’ sind ja auffällige Gestalten bzw. Objekte, die sich vor dem Auge auftun. Wasser ist prinzipiell unauffällig und schwer zu charakterisieren.

Ganz sicher: Ich werde in der Zukunft kein Lebensmittel mehr zu Hause haben, das mit so einem Wortungetüm in Verbindung gebracht werden kann.  Hingegen nehme ich beide Wort-Cocktails gerne in meinen Wortschatz auf, in der Gewissheit, dass ich so schnell nicht wieder auf sie stoßen werde. Sollte ich von ihnen noch einmal hören, werde ich noch am gleichen Tag darauf anstoßen, am liebsten mit demjenigen, der diesen Wort-Cocktail wieder aufgetischt hat!

Parkplatz mit Blütenpracht – Eine Alltagsbeobachtung

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Im Mai diesen Jahres staunte ich viele Tage über die in der Stadt blühenden Rhododendren. Diese gewaltigen Büsche, die sich zu einem wahrhaftigen Blütenmeer verwandelten, verzauberten den urbanen Raum, weil sie sich so geschickt an und zwischen bebaute Flächen ansiedeln (lassen). Natürlich ist das Verb „ansiedeln“ unpassend; „anpflanzen“ wäre korrekt. Doch ein Foto aus unmittelbarer Nachbarschaft zeigt, wie sehr ein Busch einen Parkplatz in Beschlag nehmen kann:

Viel ist über Aura kulturphilosophisch gesprochen worden. ChatGPT berichtet mir folgendes unter „literarisch-ästhetischer Kontext“:

Der deutsche Philosoph Walter Benjamin prägte den Begriff Aura in seiner ästhetischen Theorie und bezeichnete damit die einzigartige Ausstrahlung oder den besonderen Charme eines Kunstwerks oder einer Person. (…) Die Aura ist also eine Art magische Qualität, die schwer zu greifen, aber spürbar ist und ein Kunstwerk oder eine Person besonders macht.

Für mich hat jener banale Parkplatz, bei dem ich erst nach wiederholtem Nachdenken und Betrachten des Fotos zu dem Schluss komme, dass er für den Zahnarzt höchstpersönlich reserviert ist, da der eindeutiger mit dem Schild „Zahnarztpraxis“ ausgewiesene Parkplatz nebenan in erster Linie für Patienten dieser Zahnarztes bestimmt sein muss (ohne vollkommen eindeutig zu sein, da auch Praxismitarbeiter gemeint sein könnten), etwas Auratisches während der Rhododendronblüte. Der farbenfrohe Dekor scheint sowohl dem Stellplatz als auch dem Aufsuchen eines Zahnarztes bzw. seiner Praxis einen besonderen Charme zu verleihen. Möge der Charme auch nur wenige Sekunden spürbar sein, er lässt sich für mich als Betrachter, der eben diesen Parkplatz wohl nie nutzen wird, nicht leugnen.

Oft ist die Rede davon, dass man die Welt schöner machen solle. Ist dies hier nicht kraft der Natur der Fall? Ein Parkplatz, oft geschmäht wegen seines hohen Flächenverbrauchs, wird hier als solcher verschönert. Was der Mensch nicht vermag, besorgt die Natur.

Dass Parkplätze in Städten ein knappes Gut sind, versteht sich fast von selbst. Das sperrige Konzept der Parkraumbewirtschaftung wird vermehrt auch vor Verbrauchermärkten und Einkaufszentren umgesetzt. Auch in der Provinz wie zum Beispiel am Brückencenter in Hermsdorf-Bad Klosterlausnitz ist mir dies in diesem Herbst diesbezüglich aufgefallen. Spezielle Firmen, wie zum Beispiel die fair parken GmbH werden mit diesem Geschäft“ beauftragt.

Zu DDR-Zeiten gab es dieses Geschäft sicher nicht, weil Parkraum anders als die dort geparkten Fahrzeuge keine Mangel-Erscheinung war. So erscheint das Brettspiel Wir suchen einen Parkplatz, das in den 1960er Jahren vom VEB Spielewerk Karl-Marx-Stadt auf den Markt gebracht wurde, als Ausgeburt der realsozialistisch geprägten Fantasie realitätsentrückt. Dieses Spiel entdeckte ich bei einem Besuch des Deutschen Spielemuseum Chemnitz.  Ich erfuhr in dieser kleinen Spiel-Oase, dass Gesellschaftsspiele (anders als Spielzeug) in sozialistischen Zeiten kaum entwickelt wurde, zumindest, was das Gebiet der ehemaligen DDR betraf. Immerhin: Gewisse Ideen muss man nicht entwickeln; sie entstehen einfach in gewissen Köpfen des universellen homo ludens. Man merkt der Zielsetzung des Spiels an, dass sie die Parkplatzsuche des 21. Jahrhunderts vorwegnimmt. Man könnte auch sagen, dass die Mangelwirtschaft des Sozialismus unfreiwillig die Überfluss-Wirtschaft des Kapitalismus karikiert. 

An dem interessanten Parkplatzspiel können sich 4 Personen beteiligen. Jeder Spieler erhält 3 Autos, diese muss er auf einem Parkplatz unterbringen. Hat ein Spieler seine Autos auf einem beliebigen Parkplatz untergebracht, ist er Gewinner, und das Spiel ist zu Ende. Wer von den Spielern noch Autos im Spielfeld hat, zahlt für jedes nicht untergebrachte Auto die 5fache Parkplatzgebühr.

Dieses Würfelspiel ist gebraucht noch erhältlich. Wenn man bedenkt, dass man auch mit dem Vermieten von Parkflächen nicht wenig Geld verdienen kann, setzt es sozusagen alternativ die Monopoly-Spielidee um. Wer auf die Zukunft einer attraktiven Umgebung spekuliert, kann hier ganz gut ähnlich wie bei Monopoly sein Geld anlegen. Ob ein größerer Parkplatz sozusagen ein Platzhalter für zukünftige Immobilien ist? In nicht wenigen Fällen ist dies der Fall. Doch eins ist klar: Ein Rhododendron fühlt sich an einem geeigneten Platz in einem Park am wohlsten. Solange der Standort in einem Park stimmt, kann auch ein naher Parkplatz der Blütenpracht nicht schaden!

Abenteuerliche Lektüre – Zu einem Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch

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Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.

Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:

Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.

Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt). 

Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle  Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte.  Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping –  verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen!  Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.

Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).

Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:

Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.

Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??

Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:

Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.

Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.  

Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden.  Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.

Handfestes Übersetzen – Über eine Fahrt auf der Querseilfähre im Zschopautal

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„Hamburg oder Dresden?“ fragt mich deutlich der Fährmann, als er mich am gegenüberliegenden Ufer der Zschopau wahrnimmt. Ernst kann die Frage nicht gemeint sein, denn nach Dresden lässt sich beileibe auf der Zschopau nicht schippern, auch nicht stromaufwärts. Gen Hamburg ginge es mit ein wenig Phantasie schon, zumindest mit einem Kanu (wenngleich unklar ist, wie viele Meter man davon umtragen muss).

Auf einer knapp zweistündigen Wanderung vom Ausgangspunkt Sachsenburg (mit kurzer Besichtigung einer noch in Ausbauplänen steckenden Gedenkstätte, die auf dem Grund eines der ersten NS-Internierungslager liegt) steuere ich Anfang September zu Fuß die mir noch unbekannte Querseilfähre „Anna“ an, die mich auf das westliche Ufer bringen soll, nachdem ich mit dem Läuten einer Glocke auf meinen Transfer-Wunsch aufmerksam gemacht habe. Ich hatte mich extra telefonisch vorher erkundigt: bis 17 Uhr würde sie in Betrieb sein; in der benachbarten Gaststätte „Wasserschänke“ würde dann auch noch an jenem ersten Septemberfreitag eine Erfrischung bereitstehen, bevor ich dann wieder am anderen Ufer eine knappe Stunde zurücklaufen und mich mit einem Sprung ins Freibad Sachsenburg abkühlen würde.

Der Fährmann bezeichnet sich, als er mich zusammen mit zwei freundlichen Passagieren innerhalb weniger Minuten in der Querseilfähre übersetzt (in diesem wunderschönen Landschaftspanoraoma natürlich viel zu kurz!) als „Queraussteiger“. Das passt sowohl zu seinem Lebenslauf als auch zum Verkehrsmittel: Seinen Lehrerberuf hat er an den Nagel gehängt, und nun steuert er händisch, ohne jede PS-Kraft, die Querseilfähre namens Anna. Diese ist an einem zwischen den Ufern gespannten Führungseil befestigt: Die Muskelkraft reicht aus, um sie mittels einer Hangelbewegung sicher überzusetzen. Manchmal scheint der Mensch in seinem Erfindergeist einfach nur genial zu sein, vor allem angesichts der nicht nur scheinbaren Einfachheit dieser Mechanik und der Physik.

Querseilfähre
Querseilfähre Anna vom westlichen Zschopauufer aus gesehen

Die Querseilfähre gibt es schon seit den 1820er Jahren, steuert also auf das 200-jährige Jubiläum zu. Anna Erler war in den 1930er und 1940 Jahren für die Gastwirtschaft zuständig; sie ist als direkte Vorfahrin der heutigen Inhaber Namenspatin der Querseilfähre. Als erneut Verheiratete mit dem Nachnamen Ahner musste sie 1939 auch den Tod ihres zweiten Ehemanns verkraften, der bei Hochwasser in der Zschopau ertrank. Anschließend gab es zu DDR-Zeiten keine Gaststätte, die als Dreh- und Angelpunkt dieses Tal hätte aufwerten können. Zum Glück hat die 1991 wiedereröffnete Wasserschänke nach der vorübergehenden Schließung 2023 zum Jahreswechsel neue Pächter gefunden. Eine Einkehr im Biergarten oder in der originellen Gaststube ist empfehlenswert!

Im Amtsblatt der Gemeinde Lichtenau befindet sich in der Ausgabe Juni 2024 auf Seite 29 ein schöner historischer Abriss über die Querseilfähre, verfasst von Günter Teichert.

Märchenhafte Alpenwelt

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Wilde Alpentouren ist ein kleiner Reiseveranstalter, der vom Namen her sicher doppeldeutig gesehen werden kann. Jochen Wilde ist der Gründer und lässt mit seinem Nachnamen auch auf die Entdeckung des Wilden, Unberührbaren hoffen.

Meinem Bruder und mir wurde nach einer wegen zu weniger Anmeldungen stornierten Allgäu-Tour  die zum gleichen Termin stattfindende 4-Tages-Tour „Märchenhaftes Alpsteinmassiv“ Ende August empfohlen. Das Stichwort Appenzeller Land ließ mich sofort innerlich „ja“ zu diesem Unterfangen sagen; meinem Bruder war diese zum Wandern äußerst attraktive Gegend auch mehr als recht.

3 Hüttenübernachtungen in einer 10er-Gruppe, das war und ist ein maßgeschneidertes Angebot, um den Niederungen des Alltags zu entkommen. Dank des traumhaften Wetters konnte diese Erwartung voll und ganz erfüllt werden. Andrea, unsere Bergführerin, meisterte ihre Aufgabe souverän, obwohl sie kurzfristig einspringen musste und die Region bislang kaum kennt. Da überdies die Tour zum ersten Mal angeboten wurde, fehlten sowohl den Teilnehmern als auch den Organisatoren einige Erfahrungswerte, die hier nur anklingen und von mehreren Stimmen weiter zusammengetragen werden könnten.  

Kurz umrissen ist die Route mit den folgenden Stationen: Wildhaus – Terwil-Alm –Zwinglipasshütte (Tag 1) – Chreialpfirst – Mutschenpass – Mutschen (optional) – Saxer Lücke – Berggasthaus Staubern – Furgglenalp –  Gasthaus Bollenwees (Tag 2)  – Wildalmpass – Rotpasshütte – Säntis – Tierwis (Tag 3) – Gamplüt – Wildhaus (Tag 4).

Auf den bewährten Kartenportalen kann die Route eindeutig nachvollzogen und natürlich auch angepasst werden. Im Internet verfügbare Bilder, zum Beispiel im Outdoor-Magazin, geben bereits einen Eindruck über die unglaubliche Schönheit dieser (hoch-)alpinen Welt.

Ich konzentriere mich nun auf vier Gedanken, die ich auch noch in vielen Jahren als erinnerungswürdig einstufe und die anders als ein klassischer Wanderbericht womöglich seltener in anderen Quellen nachzulesen sind.

Gedanke vom 1. Tag: Ehrenamt

Die Zwinglipasshütte wird von der Toggenburger Sektion des Schweizer Alpinclubs bewirtschaftet und gehört dieser auch. Das bedeutet, dass nur dank vieler Ehrenamtlicher der Hüttenbetrieb aufrecht erhalten werden kann. Hier kommen also Eigentum und Ehrenamt zusammen: Man merkt anhand der freundlichen Grußworte, der exzellenten Bewirtung und weiterer Erläuterungen zum Hüttenbetrieb, dass viel Herzblut in der Zwinglipasshütte gegenwärtig ist. Das imponiert mir, weil sofort ein familiärer Ton vorherrscht und das Willkommen groß geschrieben wird. Dabei ist der Betrieb mühsam: Die Transportseilbahn führt nur bis auf 1800 m; die letzten 200 Höhenmeter müssen also mit großem Marschgepäck zurückgelegt werden. In dieser Saison hat wegen der hohen Buchungszahlen zusätzlich ein Helikopter ausgeholfen, was natürlich sehr teuer ist.

Zwinglipasshütte
Die Zwinglipasshütte auf 2000 Metern über dem Meeresspiegel

Gedanke vom 2. Tag: Bilderbuchlandschaft

Kein Wunder, dass wir auf den aussichtsreichen Wegen besonders am Wochenende sehr vielen Wanderern begegnen. Wir hören einige gängige Sprachen; Tourismus in der Schweiz ist eindeutig international ausgerichtet, auch weil man in fast alle Regionen schnell und unkompliziert kommt. Vom Züricher Flughafen braucht man selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur knappe zwei Stunden, um eine Wanderung ins Alpsteinmassiv zu unternehmen.

Der Begriff Bilderbuchlandschaft trifft einfach zu: Gerade das Panorama zwischen der Saxer Lücke und dem Gasthaus Staubern bleibt den ganzen Nachmittag in seinen perspektivischen Veränderungen äußerst reizvoll. Nicht nur felsiges Terrain steht uns vor Augen: In den Talböden schimmert das Wasser von drei Seen mitten im satten Grün. Ein Sprung in den Fählensee direkt am Berggasthaus Bollenwees ist an heißen Tagen mehr als nur eine Erfrischung! Ein wunderschönes Foto, auf dem dieser See zu sehen ist, ersetzt hier weitere wortreiche Schilderungen:

Bilderbuchlandschaft
Malerischer Blick bis zum Säntis (2502 m) mit seinen Altschneeresten (Foto: Annalena Müller)

Gedanke vom 3. Tag: Eine Seilbahnstütze als sonderbarer Ausstiegsort

Der dritte Tag bot eindeutig die abenteuerlichste, schwierigste und längste Route. Gerade der Übergang von der Rotpasshütte zum Säntis sollte nur von schwindelfreien Bergwanderern begangen werden. Einige drahtseilversicherte und damit ausgesetzte Passagen sind dabei; bei viel Gegenverkehr und schwerem Gepäck wie in unserem Fall ist der Weg natürlich schon beschwerlicher.

Der Säntis-Gipfel ist nahezu komplett bebaut – er stellt sich mit seinem Observatorium in den Dienst der Wissenschaft. Auch ein großes Gasthaus ist selbstverständlich dort. Das Zusammenspiel von Natur und Technik ist in der felsigen Kulisse bizarr, weil es so unwirtlich dort oben ist: Rekordniederschläge und sehr viel Schnee (laut Statistik etwa 10 Meter pro Saison) erschweren dort jeglichen Betrieb.

Die moderne Luftseilbahn hinunter zur Schwägalp ist auch eine technologische Höchstleistung. Wir nehmen sie ein Stück, genauer gesagt bis zur Sütze 2, da wir nicht in Tierwis unser Abendessen verpassen wollen und der Abstieg mindestens genauso hart sein dürfte wie der Aufstieg von der Rotpasshütte.

Diese Stütze als Station zu betrachten ist schon sehr gewagt. Von der Seilbahn führt wie bei einem Aussichtsturm eine Treppe hinunter, mitten ins felsige Gelände. Dass wir für diese kurze Fahrt pro Person 20 Franken zahlen mussten, empört uns. Wer wie jener Seilbahnwärter zum Geldverdienen seinen Job macht, knöpft einfach das Geld ab und kommt mit keinem Wort unserem Argwohn entgegen. Eine Ermäßigung – auf schweizerdeutsch: Halbtax (ich verstehe irrtümlicherweise „halbtags“) – können wir auch nicht vorzeigen; einen Gruppentarif scheint es nicht zu geben, so dass wir uns geschröpft vorkommen. Zum Glück hilft uns der Transfer zeitlich, so dass wir das Berggasthaus Tierwis rechtzeitig zum Abendessen erreichen.  In der Dämmerung richten sich viele Handykameras auf gleich zwei Steinböcke, die direkt an der Unterkunft stehen. Wie sie wohl nur so ein Zutrauen entwickeln konnten? 

Säntis-Seilbahn in Richtung Gipfel
Felsige Bergwelt (mit Stütze 2) mit dem vorübergehend in Wolken gehüllten Säntis, wohin die Seilbahn hinaufführt.

Gedanke vom 4. Tag: Eine gute Laune der Natur

Am Tag des Abstiegs hinunter ins Tal gingen wir wie tags zuvor anfangs durch eine felsige Kalksteinlandschaft. Umso bemerkenswerter war es, dass wir immer wieder einige Wildblumen sahen, von denen der blühende Schnittlauch vielleicht am beeindruckendsten war, weil er in diesen Höhen nicht oft anzutreffen ist. Andrea meinte, dass sie ihn nie zuvor auf alpinen Wanderungen gesehen hat.

Schnittlauch in den Bergen
Wilder Schnittlauch unterhalb der Tierwis-Alm (Foto: Annalena Müller)

Der Wiedereintritt in Wiesen und Wälder bedeutet, dass wir uns wieder in zivileren Gefilden befinden. Feld- und Forstwege sind trotz des Schotters angenehm zu laufen; kurz nach 13 Uhr sind wir zurück in Wildhaus, wo sich unsere Wege wieder trennen. Erst abends sollte es vor Ort wieder nass werden. Mit einigen Tagen Abstand lässt sich sagen:  Die märchenhafte Wandertour habe sicher nicht nur ich als wahrhaftiges Abenteuer erlebt!

Die Tour ist auf der Internetseite von Wilde Alpentouren etappenweise beschrieben. Vielen Dank an Annalena Müller für die Erlaubnis, zwei Fotos aus ihrer digitalen Fotosammlung verwenden zu dürfen!

Die Technik als Störenfried

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Der Zwickauer Kornmarkt eignet sich gut für politische Kundgebungen der kleineren Art. Nicht zu groß und vor allem nicht zu belebt – da können Redner jedweder Couleur sich Aufmerksamkeit verschaffen.

Am 19.08. besuchte der deutschlandweit recht bekannte CDU-Politiker Wolfgang Bosbach Zwickau. Da mein Büro an der Westsächsischen Hochschule direkt am Kornmarkt liegt, hatte ich nur wenige Schritte zu laufen, um seinen Ausführungen zu lauschen.

Zuvor hatte ich gegen 18 Uhr Herrn Bosbach schon gesehen, als er im Restaurant No.9 (im First Inn Hotel) allein zu Abend aß. Dabei hatte ich mich gefragt, ob einem Politiker vor einem Auftritt Gesellschaft zuträglich ist oder nicht. Es schien mir jedenfalls, dass meine Gegenwart ohne Anliegen, durchaus erwünscht war. Bosbach hatte tiefgestapelt: Ob überhaupt jemand kommen werde? Eine Person verlor sich halb sieben auf den Zuhörerplätzen.

Als es um 19 Uhr losging – oh Wunder! – waren alle ca. 30 Plätze gefüllt:

Bosbach in Zwickau
Wolfgang Bosbach zu Gast in Zwickau, 19.08.24

Leider wollte die Mikrofonanlage einfach nicht mitmachen – Aussetzer en masse, schrille Töne! Man hatte den Eindruck, dass ohne veritable Störer ringsum (welch ein Segen, dass Protest-Trommler auf ihrem montäglichen Umzug durch Zwickau nur wenige Minuten kurz vor 19 Uhr am Ort vorbeizogen, ohne wiederzukehren.) die Technik der eigentliche Störenfried war.

Gerald Otto, der gastgebende CDU-Landtagsabgeordnete, beging gleich mehrere Fauxpas. Der eindeutigste kam gleich zu Beginn, als sofort aus dem Publikum klargestellt wurde, dass der Nachname des Gastes mit einem offenen ‚o’ und keinem geschlossenen auszusprechen sei.

Das vorwiegend ältere Publikum lauschte andächtig dem Gespräch, das deutlich besser gewesen wäre, wenn es ein Journalist geführt hätte. Es ist nicht trivial, gute 60 Minuten einen Dialog zusammen mit anschließenden Fragen aus dem Publikum zu steuern. Dass thematisch die Migrationspolitik aufgetischt wurde, war wichtig, weil sie vielen auf den Nägeln brennt. Bosbach Wunsch ist, ein gutes Verhältnis aus „Humanität“ und „Ordnung“ hinzubekommen. Das klingt überzeugend. Nur ist es einfach kaum möglich gewesen, seit 2015 für „Ordnung“ zu sorgen, weil es mit dem Grundsatz der Humanität schwer vereinbar gewesen wäre, zumindest Anfang September 2015, als EU-Recht nicht von allen EU-Staaten eingehalten wurde.  Auch die Pandemie hat gezeigt, dass die Vielzahl der Schutzverordnungen, die ja zum Ziel haben sollten, möglichst geordnet für den Schutz der Gesundheit vieler Menschen zu sorgen, höchst tückisch in ihrer Anwendung sein kann. 

Eine Dame aus dem Pubikum fragte, ob die Politik vorhabe, das Bargeld ganz abzuschaffen. Damit würde ja ältere Menschen endgültig abgehängt. Bosbach antwortete klug, dass es niemand vorhabe. Dass größere Transaktionen in bar auch Geldwäsche erleichterten, war ein erhellender Punkt. Kartenzahlungen sind öfter transparenter, doch natürlich ist auch das Freiheitsargument gewichtig: Nicht jede Geld-Transaktion soll in den Augen mancher Kunden rückverfolgbar sein können.

Auch ging es in der Diskussion um allgemeine Auffälligkeiten, wie die unsachliche Abwertung des politischen Gegners, die zum Glück nicht zu den Handlungen von Bosbach gehört. Sein sachlicher Ton ist immer wieder auch mit humorigen Einlagen versehen, die eher auflockern als versteifen.  So vermeidet man ein gereiztes Klima, das nicht weiterführend ist. Wer so wie Bosbach nicht mehr in Amt und Würden ist, kann auch sicherlich etwas gelassener auf die geleistete Arbeit und auf die sicher herausfordende Zukunft in der deutschen Bundespolitik und in der sächsischen Landespolitik schauen. Seine Bundestagsmandate hat er oft mit traumhaften Wahlergebnissen gewinnen können. Hier ist die Erfolg-Sicherheit im Hinblick auf die Vergangenheit spürbar: Erfolge dienen auch der Souveränität im politischen Handeln.

Was das Foto schön zeigt, bleibt die Monobloc-Bestuhlung genauso kultig wie der VW Bulli! Diese kultige Kombination wird mir ganz sicher in Erinnerung bleiben!

Erscheinungsbilder: Gedanken zu Otl Aichers Werk

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‚Erscheinungsbild’ ist ein wunderbares Wort, das meiner Großmutter noch wenige Monate vor ihrem Tod über die Lippen ging, als sie mich kaum noch erkannte. Uns erscheinen ja auch mentale Bilder, erst recht im Traum.

Zum Jahreswechsel 2022 / 2023 besuchte ich in der Städtischen Galerie Lüdenscheid eine Ausstellung mit dem schönen Titel „Ökonomie der Gestaltung“ zu Otls Aichers Werk, das sich nicht einfach in einem Museum präsentieren lässt. Es gab keine großen Grafiken oder Gemälde anzuschauen, vielmehr Logos, Piktogramme und auch Design-Formen. Viel gibt dies auf den ersten Blick nicht her, doch wenn man sich einen Kunstband aus dem Prestel-Verlag besorgt und dazu noch Aufsätze von einer hervorragenden Homepage zu Gemüte führt, dann wird klar, dass Otl Aicher (1922-1991) die Designgeschichte in Westdeutschland entscheidend mitgestaltet hat. Die Piktogramme zu den Olympischen Spielen in München 1972 und das ZDF-Erscheinungsbild von den frühen 1970er Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende stammen aus der Denk-Fabrik von Otl Aicher im schönen Allgäu, genauer gesagt aus dem Weiler Rotis, wo er auch die gleichnamige Schrift entwickelte. Akademisch wirkte Aicher an der Hochschule für Gestaltung in Ulm als deren Gründungsmitglied (u.a. zusammen mit seiner Ehefrau Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Sophie Scholl) von 1953 bis zur Auflösung der Hochschule 1968.  Den aus den Vereinigten Staaten stammenden Begriff ‚Visuelle Kommunikation’ nutzte Aicher in Deutschland als einer der ersten, vielleicht sogar als allererster. Tragischerweise verstarb Aicher 1991 an den Folgen eines Unfalls, der sich auf der Straße nach Rotis am Rande seines Grundstücks ereignete.

Wenn sich Großveranstaltungen und ein Fernsehsender auf ein gewisses Erscheinungsbild einigen, dann ist der Umsetzungsprozess eindeutig vielschichtiger als nur die Entwicklung eines „Corporate Design“. Schließlich geht es ja um mehr als eine Bildmarke und eine einheitliche Schriftart. Zwei Gedanken dazu mögen erhellend sein. Sie zeigen, dass es hier wirklich auch um etwas Brauchbares geht.

Der eine Gedanke stammt von aus dem ersten Aufsatz im Prestel-Kunstband, verfasst vom Herausgeber Wilhelm Vossenkuhl:

„‚Welt entwerfen’ bedeutet, sich über das Zusammenspiel der vielen sperrigen Faktoren Gebrauchsfähigkeit, technische Perfektion und Innovation, ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Verwertbarkeit, anspruchsvolle und attraktive Form Gedanken zu machen und sie in einem Produkt auf den Punkt zu bringen. So wird jedes Produkt exemplarisch für ein Ganzes. Jedes so entworfene Exemplar wird zum Teil eines Ganzen, das es davor noch nicht gegeben hat. Das Ganze entsteht erst durch und im Entwerfen.“  

Ich stelle mir den Gebrauchswert von Piktogrammen vor. Sie schaffen Ordnung und Übersicht gerade in einem vielsprachigen Umfeld. In einem Olympia-Ort fing diese Art der Bildersprache spätestens ab den Spielen in Tokio 1964 an, wie ich aus einem kurzen Video-Beitrag erfuhr, der sich nur mit der Geschichte des Olympia-Design befasst.  Was viele Menschen aus der ganzen Welt richtig interpretieren sollen, muss gut durchdacht sein. Und da ein Piktogramm allein wenig Gebrauchswert hätte, müssen die Bildzeichen als Ganzes überzeugen, also nicht nur die dargestellten Sportarten, sondern auch der Verweis auf wichtige Dienstleistungen und Anlaufstellen. Näheres dazu hat der Designer Marc Holt für die bereits erwähnte Homepage geschrieben und zahlreiche aufschlussreiche Dokumente aufgeführt.

Ein weiterer zentraler Gedanke betrifft die Farbwahl: Aicher setzte bei seiner Arbeit für das ZDF auf ein „Farbklima“ anstatt auf ein „Farbprofil“, wie aus dem reich bebilderten Online-Artikel des Verlegers und Kommunikationsdesigners Jens Müller hervorgeht. Damit wird auch das breite Angebot an Sendungen gewürdigt.  Standards gelten, doch nicht in strenger Einheitlichkeit, wie Müller schreibt:  

Entsprechend wurde die Schrift mit ihren vier Schnitten zum zentralen Gestaltungselement der neuen Identität. Sie kam bei sämtlichen Bildschirmanwendungen zum Einsatz und fungierte gleichzeitig als prägende Displayschrift bei Drucksachen und Beschriftungen. Nahezu drei Jahrzehnte war sie im Einsatz und gehörte damit zu den ersten Beispielen von wirklich konsequent und medienübergreifend eingesetzter „Corporate Typography“.

Faszinierend, dass grafisch für die leicht abgerundete Mattscheibe und nicht für das Papier optimiert wurde.  Subtil gab es also einen Zusammenhang zwischen der heute-Sendung und dem Aktuellen Sportstudio, auch wenn die Studiokulisse auf den ersten Blick eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten offenbarten. Und doch wird jedem treuen Fernsehzuschauer das Signet der beiden Sendungen geholfen haben, diese sofort zu identifizieren, unabhängig davon, wer gerade moderierte.

Otl Aicher hat also die Design-Geschichte in (West-)Deutschland geprägt. Nicht zu vergessen ist, dass er auch das Erscheinungsbild von Unternehmen (mit-)gestaltet hat, wie zum Beispiel der Lufthansa, deren Logo er mit dem Kreis rund um den Kranich entscheidend veränderte. Und das Sparkassen-S stammt auch von ihm!  Im Online-Beitrag von Dagmar Rinker erfährt man zudem auch, dass Aicher dezidiert einen Artikel mit dem Titel „erscheinungsbild“ aus dem Sterbejahr 1991 verfasste. Rinker zitiert dessen Begriffsbestimmung: Der Schlüsselbegriff meine eine „form des vorstellungsbildes, seine konkretisierung in gebärden, verhalten, haltungen, profilen, linien, stilen, in farben und figuren, in handlungen und leistungen, in produkten und objekten.“

Ganzheitliches Denken heißt hier das Stichwort. An diesem Zitat wird indirekt deutlich, dass Aicher an philosophischen und moralischen Prinzipien während seines Schaffens sehr interessiert war. Kein Wunder also, dass Unternehmen und Philosophie wortschöpferisch zusammengefunden haben. Immer wenn ich Zukunft an Unternehmensphilosophie denke, wird mir Otl Aichers Schaffen über den Gedanken-Weg laufen!

Der erwähnte Aufsatz von Wilhelm Vossenkuhl heißt „Denken und Machen“; das Zitat steht auf der Seite 20 des Prestel-Kunstbandes mit dem Titel Otl Aicher. Designer. Typograf.Denker . Weitere sehr interessante Informationen zu Otl Aichers Biografie sind in einem Feature des Bayrischen Rundfunks enthalten. Herzlichen Dank auch an Frau Dr. Susanne Conzen, die die Aicher-Ausstellung in Lüdenscheid kuratierte und sie aufschlussreich mit dem Schaffen von Gerd Arntz (1900-1988) kombinierte, der schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine „piktogrammartige Figurensprache“ schuf.

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