Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Autor: Thomas Edeling Seite 1 von 11

Genießer und Entdecker kleinerer und größerer unbekannter Gefilde. Vom Südrand des Ruhrgebiets stammend, aus dem Essener Süden, wo landschaftliche Reize und Industriekultur gleichermaßen in der Nähe sind. Im beruflichen Alltag Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. In der Freizeit gerne auf dem Rad, auf Langlauf-Skiern, auf der Vespa oder zu Fuß unterwegs.

Der interkontinentale Film – Gedanken zu „Paris kann warten“

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Paris kann warten (engl.: Paris can wait) ist ein zweitklassiger Film, auch wenn in der Süddeutschen Zeitung Rainer Gansera in seiner Besprechung zurecht von einem zauberhaften Road-Trip“ und einer „Feier des Lebens“ spricht. Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, dass Anne, die Frau des Produzenten Michael mit dessen Geschäftspartner Jacques die französische Provinz erkundet – und erst ganz zum Schluss in Paris eintrifft, wo sie sich entscheidend näherkommen. Daher rührt der Titel. In dieser Reise-Zeit weilt der Ehemann weit ab in Budapest, wo er dringend gebraucht wird.

Eleanor Coppola, die 2024 verstorbene Ehefrau des berühmten Regisseurs Francis Ford Coppola, bietet in ihrem ersten Spielfilm (Debüt mit über 80!) mit dem Schauspieler Alec Baldwin (Michael) mindestens einen Hochkaräter auf, doch der glänzt im Film ja eher durch Abwesenheit. Die anderen beiden Hauptdarsteller (Diane Lane und Arnaud Viard) spielen ihre konventionellen Rollen ohne Glanz  – sie blieben für mich also eher blass. Die gezeigten Orte sprechen für sich; dabei sind die Dialoge eher Beiwerk. Laut einem Spiegel-Artikel hatte Coppola eine ähnliche Route einmal selbst zurückgelegt.

Zwei Szenen bleiben für mich in Erinnerung. Einmal die Vorführung des legendären Bergmassivs Sainte-Victoire bei Aix-en-Provence, die mehr ist als eine Vermittlung zwischen einer Amerikanerin und einem Europäer: Der Dialog könnte genausogut zwischen Reiseführer und Touristen entstehen:

-Oh, you see that mountain over there? It’s Sainte-Victoire.

– A-ha. (…)

– It’s a major landmark of this region and a favorite subject for many writers and artists. Cézanne captured it perfectly. I saw a beautiful exhibition of his work last year in Aix-en-Provence.

-Oh, that’s great.

-Yeah.

-It must have been incredible to see Cézannes paintings here in this light. Yeah. Ha. The ones that I know at the MET in New York, they look a little sad, you know, as if they don’t really want to be there.

Was den Dialog besonders macht, ist die Verknüpfung von sprachlichem Inhalt und realen Ansichten sowie der gemalten Sicht, die auch den Filmzuschauern die Besonderheit des Abgleichens ermöglicht. Auf der Autofahrt wird erst die relativ unspektakuläre, nicht von Cézanne auf Leinwand gebannte Sicht von Osten auf die Sainte-Victoire gezeigt. 20 Sekunden später folgt jenes berühmte Gemälde von Paul Cézanne, die das Motiv von Südwesten her in Szene setzt (La Montagne Sainte-Victoire, 1887, Standort: The Courtauld Gallery in London), bevor weitere 20 Sekunden später die reale Perspektive, die dem Gemälde zugrunde liegt, aus dem Auto heraus gefilmt wird:

Ansicht_Sainte_Victoire
Blick auf das Sainte-Victoire-Gebirge im Film Paris kann warten (2016), 13min38sek.
Cezanne: La Montagne Sainte-Victoire
Einblendung des Gemäldes La Montagne Sainte-Victoire (1887) von Paul Cézanne, 13min57sek.
2. Blick auf die Sainte-Victoire
Das reale Sainte-Victoire-Gebirge aus dem Auto in Paris kann warten gesehen, 14min17sek.

Sprachlich noch interessanter ist die Wahl der Speisekarte, die zum Abendessen nach dem ersten Reisetag gereicht wird:

Speisekarte: Paris kann warten
Speisekarte von Les Jardins d’Epicure im Film Paris kann warten, 23min2sek.

Es kann kein Zufall sein, dass dieses Dokument nicht aussschließlich französische Wörter bereithält. Die Sprache der Kulinarik, ganz ohne Angabe von Preisen, so soll recht eindrucksvoll vermittelt werden, ist eben mehrsprachig: „pickles de carottes” kombiniert Französisch und Englisch, „à la plancha” für eine spezielle Grill-Auflage kombiniert Französisch und Spanisch und „à la caponata” (sizilianisches Gericht mit Auberginen) sowie „risotto léger” kombiniert Französisch und Italienisch. Es wäre wirklich interessant, den Autoren dieser Speisekarte zu ermitteln. Es ist schade, dass sie im Film nur etwa zwei Sekunden eingeblendet wird und auch im Gespräch mit der Bedienung nur von „agneau de lait avec mini-carottes et mini-oignons“ bzw. „veau de lait“  die Rede ist, die in der Speisekarte nicht (sichtbar) auftauchen. In der Synchronfassung wird der auf Französische gehaltene Dialog zwischen Jacques und dem Kellner übrigens nicht übersetzt, ebenso wenig wie in der englischen Originalfassung. Nur wird kurz vor dem Dialog der „Milchlammbraten“ erwähnt, für den der Küchenchef bekannt sei. Jacques bestellt schließlich für zwei eine „dorade royale” als Vorspeise sowie das Lamm- und das Kalbsgericht („carré d’agneau“ et „côte de veau“), dazu einen Wein aus dem Örtchen Condrieu, einen aus dem Weinbaugebiet Côte-Rôtie sowie einen Hermitage vom Weingut Jean Michel, die allesamt aus dem Rhône-Tal stammen.

Im Abspann wird das Hotel Belles rives in Juan-les-Pins bei Antibes als realer Handlungsort dieses Abendessens erwähnt. Warum im Film der Name Les Jardins d’Epicure aufwartet, der mitten in der Provinz (im Weiler Bray et Lû) nordwestlich von Paris lokalisierbar ist, wäre auch eine interessante Frage. Denn dorthin konnte die Route bei bestem Willen nicht hinführen – dann wäre das Duett über wahrlich über das Reiseziel Paris hinausgeschossen. So wird hier ein realer Restaurant-Ort mit einem realen Restaurant-Namen extra für diesen Film kombiniert.

Anschließend folgt ein Dialog zur Blumendekoration im Restaurant, den Anne eröffnet:

-Why do the flowers smell so much better in France than they do in the U.S.?

-Because we are in France. In America they look lovely but they smell like a refrigerator.

-It’s true. I love roses.

-But their scent mustn’t intrude on the aroma of the wine.

Diesen Dialog kann man eigentlich nur ein US-Amerikaner lustig finden, oder eben einfach nur danaben. Wie soll man sich einen Kühlschrank-Geruch vorstellen? Immerhin geht es ja in erster Linie um die Schönheit der Rose, die nicht automatisch mit dem Duft gekoppelt wird. Wird hier etwa auf die Herkunft der Rosen (Garten vs. Treibhaus) abgezielt?

Offensichtlich wird, dass ein zu starker Rosen-Duft eben nicht zu einem guten Wein passt. Die Wein-Nase möchte nämlich gerne ohne olfaktorische Ablenkung bleiben….Worauf es hier ankommt, ist einfach der gute Tropfen, der eben besonders in Frankreich gerne zelebriert wird: Jacques bestellt ohne Abstimmung mit seiner Gefährtin gleich drei verschiedene Weine.

Ohne Käseauswahl und ohne schokoladiges Dessert ist das Menü natürlich nicht komplett:

Screenshot aus dem Film "Paris kann warten"
Riesige Käseauswahl, nur für Anne und Jacques, im Film Paris kann warten – 30min42sek.

Jacques betont, dass der Käse aus Rohmilch („unpasteurized milk“) hergestellt und sehr gesund und „alive“ sei, während der US-amerikanische Käse aus pasteurisierten Milch tot sei und im Magen wie ein Fettkloß („ball of fat“) landen würde. Er bejaht Annes Frage, ob deswegen Franzosen nicht zulegen würden, woraufhin Jacques sie ebenso als „more romantic“ charakterisiert. Der Gesprächsstoff in diesem interkontinentalen Setting kommt eben ohne Polemik nicht aus; und wer weiß, wie viel Wahrheitswert in dieser verbalen Schwarz-Weiß-Malerei steckt….

Im Film werden passend zu den jeweiligen Sequenzen zudem die Gemälde Le Déjeuner sur L’Herbe (1883) von Edouard Manet und Danse à Bougival (1883) von Pierre -Auguste Renoir eingeblendet. Hier war die Regisseurin ziemlich kulturbeflissen!

Im Film fiel mir außerdem auf, dass die gezeigten Orte (zumindest partiell) nicht den tatsächlichen Verlauf einer (möglichen) Reiseroute beachten.  Der Stopp am Aquädukt Pont-du-Gard, das nach dem Vorbeifahren an der Sainte-Victoire gezeigt wird, entspräche einer Route, doch dass direkt im Anschluss der Zuschauer den Peugeot-Oldtimer in einer Allée in Le Tholonet (bei Aix-en-Provence) vorbeifahren sieht, kann nur der schönen Kulisse geschuldet sein, die ich 10 Monate lang 2006-2007 genießen durfte. Sonst wäre mir diese Allee überhaupt nicht aufgefallen.

Noch kurz zu weiteren ungewöhnlichen Kultur-Orten im Film:  Anne wird durch das schöne Musée des Frères Lumières in Lyon geführt, so dass auch über die Anfänge der Filmgeschichte berichtet wird. Das bunte Markttreiben wird in Lyon ebenso eingefangen wie ein Besuch in einem Lyoner Traditionsrestaurant (einem bouchon) und im Textilmuseum (Musée des Tissus et des Arts Décoratifs). Dort wird Anne beim unerlaubten Fotografien erwischt, woraufhin Jacques dem Sicherheitspersonal ein paar Geldscheine zusteckt, um den Ärger schnell im Keim zu ersticken. Auf einem weiteren Stopp wird im Kerzenschein die Kathedrale in Vézelay im Burgund (Jacques erinnert an Richard Löwenherz’ Startpunkt für seinen Kreuzzug im Jahre 1190) als Besichtigungsort inszeniert. Ein besonderer Kamera-Blick liegt auf den kunstvoll gestalteten Säulen. Die meditative Ruhe, während der Anne über ihr verlorenes Kind spricht, gehört zu den gelungensten Momenten im Film. Insofern lohnt sich der Streifen von der ersten bis zur letzten Minute. Ich bin froh, das er mit über den Weg gelaufen ist; denn so konnte ich Frankreich auf der Grundlage von Erfahrungen wieder mit Hilfe einer ausgeklügelten Bildregie neu entdecken.

Die zitierten Dialoge kommen im Film zwischen 13min38sek und 14min16 sek sowie zwischen 26mi55sek und 27min10sek vor. U.a. bei jpc kann der Film erworben werden.

Bahn-(Rad)-Fahren: Über ein lohnenswertes Unterfangen

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Im September 2012 wurde ich am Bahnhof Kinding rechtens aus einem Regionalexpress geworfen. Der Grund war ganz simpel: Es fehlte der Fahrradwagen, so dass mein Drahtesel im Wege stand und damit der Sicherheit an Bord nicht zuträglich war. Mein Ticket (Fahrradtransfer inklusive) half hier auch nicht weiter. Pech gehabt! Der schnellste RE Deutschlands, auf einer ICE-Schnellstrecke unterwegs, erwies sich an diesem Tag als vollkommen unbrauchbar für mich!
Mein Ziel Ingolstadt habe ich schließlich ohne Probleme erreicht: Wie gut, dass wie gerufen am Bahnhof eine gut 80-jährige Frau mit ihrem Kleinwagen stand und mich sehr freundlich das Altmühltal hoch bis nach Denkendorf mitnahm. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Ziel. Eine wirklich ganz besondere und daher auch unvergessliche Hilfestellung, gerade mit meinem Fahrrad, der den Kofferraum und die Rückbank gut ausfüllte.

Mitte Mai diesen Jahres musste ich wieder an diese Begebenheit denken, als ich einen Artikel in der Freien Presse las (Zwickauer Ausgabe vom 14. Mai 2024), in dem „fünf typische Szenarien beim Reisen mit Fahrrad“ aufgeführt waren, die din unserem Alltag allesamt realistisch sind. Ob es dann noch „Szenarien“ sind, die ja vom Begriff her auf eine schwer vorherbare Zukunft verweisen sollten?? Jedenfalls ist in der Folge die Rede von Szenen, was besser klingt.

Eine fehlende Anstellmöglichkeit für Fahrräder wurde nicht erwähnt, weil die meisten Regionalbahnen heute über eine recht begrenzte Anzahl von Fahrradstellplätzen im Großraumbereich am Zuganfang oder am Zugende verfügen. Szene 3 und Szene 4 passen jedoch gut in die Kategorie Kapazitätsmangel. Die Autorin Hanna Gersmann gab sich Mühe, diese auch möglichst lebendig zu formulieren:


Ein schöner sommerlicher Sonntag, warum nicht einen Ausflug ins Grüne unternehmen? Das dachten sich viele, nun stehen Menschen ratlos vor dem Zug. Alle Abstellplätze für Räder sind bereits belegt.


Hier haben wir die passive, langweiligere Variante, wenn es um die nicht vorhandene „Mitnahmegarantie“ geht. Deutlich spannender ist die 4. Szene, die aber im Grund auf das gleiche Phänomen hinausläuft: „‚Los, jetzt lassen Sie mich doch rein, das passt doch noch’: Jemand fängt an zu drängeln und zu schieben“.

Während die Szene 3 besonders die Reservierungspflicht für Fahrräder in Fernzügen thematisiert, die nicht online möglich ist, geht die Szene 4 auf die teilweise ausgewiesene „Maximalanzahl mitzunehmender Räder“ ein-
Dass David Koßmann als Experte vom Branchennetzwerk Pressedienst Fahrrad zitiert wird, zeigt, dass man auch hier Tipps gut gebraucht kann. Koßmann verweist in Szene 3 auf „Übersichtsseiten, welche Züge an welchen Wochentagen als überlastet gelten“. In Szene 4 rät er, zum Platzsparen „Fahrräder möglichst eng, versetzt oder mit entgegengesetzten Lenkern abzustellen“.

Es gibt in meinen Augen zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema: Entweder man probiert den Radtransport gar nicht erst aus, weil einfach nicht zu viel Unwägbarkeiten drohen; oder man nimmt sein Rad einfach mit, in der Annahme, dass die Mitnahme meist problemlos möglich ist.
Nach meiner Erfahrung ist das auch so. Natürlich kann es manchmal hektisch werden (vgl. Szene 1), wenn das Radabteil nicht dort ist, wo man es erwartet, zum Beispiel am vorderen Ende des Zuges. Es handelt sich hierbei allerdings nur um ein paar Sekunden, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordern. Leider ist die Regelung bei Zusatztickets für Fahrräder sehr uneinheitlich geregelt (vgl. Szene 2). Es hängt vom Verkehrsverbund und teilweise auch vom Eisenbahnunternehmen ab, ob Räder gratis mitgenommen werden können: Während beispielsweise die Mitteldeutsche Regiobahn (MRB) innerhalb eines Verkehrsverbundes Räder kostenlos befördert, ist das bei der S-Bahn Mitteldeutschland nicht der Fall. Und dass Tandems oder Liegeräder nicht genommen werden dürfen (vgl. Szene 5), ist nicht überraschend. Wie so oft ist das Kleingedruckte hier alles andere als unwichtig.

Seit den frühen 2000er Jahren hatte ich kaum Probleme mit dem Radtransport im Bahnsystem. Der geschilderte Zwischenfall blieb bisher einmalig. Erfahrungswerte sind oftmals buchstäblich wertvoller als Empfehlungen , die nur im Optimalfall wirklich helfen, selbst wenn sie gut gemeint sind. Unwägbarkeiten gehören einfach dazu. Und manchmal hilft einfach der gesunder Menschenverstand: Wenn mal ein Engpass vorliegen sollte, dann wird sich auch daraus wieder eine neue Erfahrung herausgeschält haben, die in eine erzählreife Szene passen könnte. Im Zweifelfall sollte der Lebensoptimismus die Oberhand behalten!

In der Chemnitzer Ausgabe der Freien Presse erschien der Artikel bereits am 11.05.24 (Seite 24).

„Ich – König“  – Zu einem besonderen Klaviergespräch

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Das Sächsische Mozartfest bietet keinesfalls nur einen Fokus auf die Wiener Klassik, also auf das späte 18. Jahrhundert. Es wagt auch einen Blick über den ästhetischen Tellerrand hinaus. Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass der Jazzkomponist Stephan König nicht nur auf diesem Fest musizieren, sondern auch den Mozartpreis 2024 von der Sächsischen Mozart-Gesellschaft) bekommen würde.

Stephan König ist wohl nur eingeweihten Jazzenthusiasten ein Begriff. Als ich 2021 in einem großen Leipziger Notenladen unweit des Gewandhauses den Band 12 Préludes. Jazzinspirierte Klangbilder entdeckte, war mir bewusst, dass sie für mich, der ich in meinen Jugendjahren kaum mit dem Jazz in Berührung kam, eine große Herausforderung bieten würden. Ohne meinen Lehrer Thomas Unger am Zwickauer Robert-Schumann-Konservatorium eine allzu schwere Hürde. Die Stücke sind durch eine ungeheure Klangvielfalt gekennzeichnet; zumindest klingen einzelne Takte immer wieder anders, je nach eigener Stimmung. Sie zeigen Königs Anspruch, Komposition und Improvisation miteinander zu verbinden, ebenso wie verschiedene Genres der Klaviermusik. Um puristischen Jazz handelt es sich also nicht.

Ein Klaviergespräch wie Anfang Mai verbindet Musik und eine gewisse Neugier auf Hintergrundinformationen über eine Komposition bzw. einen Komponisten.  Die Halle der Villa Esche, am Rande des Chemnitzer Stadtzentrums, 1903 für den Textilunternehmer Rudolf Esche fertiggestellt und nach mehrjähriger Renovierung  um die Jahrtausendwende als Veranstaltungs- und Tagungsort konzipiert, eignet sich hervorragend für ein solches Gespräch, das eine Ausprägung von Salonkultur ist.  Gut möglich, dass der Architekt Henry van de Velde auch schon an diese Möglichkeit gedacht hatte. Weniger intim als in einem beengten Wohnzimmerkonzert können die Klänge sich leicht in die oberen Etagen verflüchtigen. Für Gesang und Instrumentalmusik ergeben sich hier sicher besondere akustische Phänomene.

Die MDR-Radiomoderatorin Julia Hemmerling leitete souverän und unterhaltsam das Gespräch. Die Fragen führten angenehm in ein Universum hinein, das eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Die Stimmung ist, wie wir wissen, vom Gebäude abhängig, und damit auch die Harmoniefolge: Die Villa-Esche sei für den A-Dur-Dreiklang prädestiniert, wenn man König Glauben schenkt. Faszinierend. Der Laie kann hier keine Erklärung verlangen, genauso wenig wie bei Farbstimmungen. Es gelten hier nicht die Gesetze der Logik, sondern allein die Gefühle, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind.   

Man kann jedoch das Ephemere der Musik begreifen, denn genauso schnell wie sie entsteht, verschwindet sie auch. Im Moment des Klangs gebe es laut König eine Spannung, die auch den „Aspekt des Loslassens“ impliziert, also eine Entspannung.

Im zweiten Gesprächsteil erzählte Stephan König von seinem Studium an der Leipziger Hochschule für Musik, wo er laut Homepage als „Diplom-Dirigent, Diplom-Pianist und Diplom-Komponist“ abschloss, und von seinem Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee kurz vor und während der Wendezeit. Widerstände gegen seine Art des Musizierens spürte er während des Studiums, gerade weil er an der Hochschule öfters statt der vorgesehenen Stücke improvisierte. Gerettet habe ihn in der Kaserne der Zugang zu einem Klavier in einem Dachzimmer, wohin er sich nachts geschlichen habe.

In seinen Improvisationen baute er an dem Abend jeweils einen der drei Sätze des 23. Klavierkonzerts (in A-Dur) von W.A. Mozart ein. Ein kühnes Unterfangen, das mich an das Schumannfest 2023 erinnerte, auf dem Johanna Summer während ihres Solo-Konzerts Kompositionen von Robert Schumann in ihr Werk einflochte.

Im Programmheft ist die Rede davon, dass Stephan Königs Klangwelten einen  „Perspektivwechsel des Hörens, somit des Denkens und Empfindens“ ermöglicht. Im Moment des Live-Erlebnisses wird diese eher plakative Formulierung plastisch. Sicherlich werde ich im Laufe des Jahres einen weiteren Ort mit neuen König-Momenten aufsuchen. Und dann werde ich auch wieder anders hören, denken und empfinden. Und womöglich etwas besser improvisieren können….

Drei Préludes von Stephan König können auf seiner Homepage angehört werden. Die Einspielung kann im Online-Musikalienhandel erworben werden, die dazugehörigen Noten über stretta-music.

Standortwechsel: Gedanken zu einem Möbeltransfer

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Es war der 20. Juni 2018, als ich in Schlettau im Erzgebirge auf dem allerletzten Meter gegen ein Regendach prallte. Und dann noch mit einem geliehenen Kastenwagen, der für den zu transportierenden Inhalt, ein Korbsofa sowie ein Korbstuhl mitsamt einem kleinen runden Korbtisch (und einer Glasplatte als Auflage) viel zu groß geraten war. Der Schaden war größer als der Kaufwert, so dass meine Laune an jenem Tag trotz der hochwertigen, gebrauchten Möbel bescheiden war. In Anbetracht der Kostenbeteiligung wurde ich durch mein nervöses Auftreten gegenüber den Privatverkäufern als Fremdling gehalten, zumindest nicht als deutscher Staatsbürger. Erst der Schaden am Fahrzeug, dann die Zitterpartie, als sich die Frage stellte,  ob das Korbsofa über einen  Flaschenzug heil aus dem dritten Stock nach unten befördert werden würde. Hochspannung pur! In dem Augenblick bewunderte ich das ältere Ehepaar für ihr Vermögen, eine so eine waghalsige Transportanlage aus dem Stand einzurichten. Und dann wähnte ich mich noch unsicher, ob das Sofa auch noch durch meine Wohnungstür passen würde. Es passte zum Glück!

Korbmobiliar in Schlettau
Korbsofa-Seilzug im Juni 2018 in Schlettau

Fast sechs Jahre bereicherte mein Zwickauer Wohnzimmer diese Möbelkombination, bevor ich sie letzten Februar wegen eines neuerlichen Umzugs nach Chemnitz aus den Händen gab. Auch dieses Mal war das Heraushieven aus der Wohnung kein Kinderspiel (wie zu erwarten war!), doch lief die Verladung auf einen Pritschenwagen umso einfacher. Der kurze Frischlufttransfer zum Haus Abendfrieden, einem Seniorenheim der Diakonie in Werdau, war wiederum etwas Besonderes. Schließlich – und das ist mich die schönste Entdeckung – ist der neue und vielleicht letzte Standort dieses Möbel-Trios eine Café-Ecke, in der räumlich und farblich kaum andere Sitzobjekte stimmiger sein könnten.

Korbmobiliar in Werdau
Seit Februar 2024 steht das Korbmobiliar im Haus Abendfrieden in Werdau

Ende April traf ich mich mit der Einrichtungsleiterin Dorothea Floß. Sie zeigte mir die weiträumige Anlage, in der viele Orte zum Verweilen einladen. Das nasskalte Wetter war wie geschaffen, anschließend drinnen in der besagten Café-Ecke bei einem Kaffee ein ausführliches Gespräch zu führen, um den Ort zu würdigen. Genau das ist ja der Zweck der Korbmöbel. Sie eignen sich nicht besonders gut zum Fernsehen und auch nicht zum Schlafen. Sie dienen der Unterhaltung und füllen erst dann ihre Funktion optimal aus, wenn mindestens zwei Personen am Korbtisch Platz nehmen. Ohne den Stuhl wäre der Raum weniger schön ausgefüllt, doch gerade weil ein Runder Tisch eben Sitzmöbel auf der gegenüberliegenden Seite wünschenswert erscheinen lässt. Diese Geschmackssache ist natürlich wiederum raumabhängig….

Wenn so viel in unserer Zeit über Nachhaltigkeit gesprochen wird, dann jedoch weniger zur sozialen Komponente. Mir scheint, dass das Korbmobiliar genau diese Komponente berücksichtigt: Der geldlose Transfer sorgt für keinen ökonomischen Mehrwert, wohl aber für eine Wertsteigerung im sozialen Bereich. Sitzmobiliar ist nur dann sinnvoll, wenn es nicht nur Raumfüller sind.  Ich habe den wunderbaren Eindruck gewonnen, dass nicht nur ästhetisch der Ort zum Objekt passt, sondern auch sozial: Wenn angeblich diesen Möbelstücken ein Urlaubsgefühl und gleichzeitig ein Zuhause-Gefühl anheimgestellt wird, wie Frau Floß zu berichten wusste, dann erfüllen sie Raum und Zweck vollkommen!

Vielen Dank an Michaela Rusch für den Tipp, die Diakonie Westsachsen wegen des Mobiliars zu kontaktieren, und natürlich für Dorothea Floß für die Führung über das Diakonie-Gelände und das tiefsinnige Gespräch am neuen Möbel-Standort. Es wird in guter Erinnerung bleiben!

Auf dem richtigen Weg? Über das Umherschweifen

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Waldwege können Künstler und nicht nur Wanderer herausfordern. Das beste Beispiel dafür ist das Gemälde „Waldweg“ (1874 – 1877) von Pierre-Auguste Renoir, das ich im Januar 2023 im Potsdamer Barberini-Museum länger betrachtete. Es lässt sich über den angegebenen Link auch mit der Lupenfunktion (über das Plus-Zeichen) in sehr guter Auflösung betrachten. Auf der Museums-Homepage liest man über das Werk Folgendes:

Wie in vielen Gemälden der Impressionisten gewährt auch hier der Waldweg nicht nur räumlichen Eintritt in die Komposition. Vielmehr lädt er auch sinnbildlich zur Kontemplation eines Sommertags in freier Natur ein. Die in die Landschaft eingebettete Gestalt des jungen Spaziergängers dient als metaphorische Identifikationsfigur für den Betrachter – ein typisches Vorgehen für die Impressionisten, die in ihren Landschaftsdarstellungen stets auf eine sinnlich-körperliche Rezeption abzielten.

Wie sicher das Betrachterauge doch den Weg und den Spaziergänger inmitten der Natur findet. Die Blickachse ist identisch mit der Wegachse, die senkrecht verläuft, so wie wir auch in der Natur Wege ausmachen. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Waldszene, die ich in der Nähe von Glauchau im November 2022 aufnahm:

Farbenfroher Waldweg
Waldweg bei Glauchau, im November 2022

Auch hier weiß man recht schnell, wo es lang geht, wenngleich der Weg durch Laub und einem Hauch von Schnee schwerer als sonst auszumachen ist. Statt einem sommerlichen Lichteinfall scheint sich die dezente Herbstsonne hinter den Bäumen zu verstecken. Und doch ist hier eine Magie des Lichts spürbar.

Die vom Barberini-Museum zur Verfügung gestellte Bildbesprechung spricht von der „Auflösung der Formen“ bei Renoir, die für den Impressionismus typisch ist. Das Eintauchen in den Wald wird umso einfacher: Man kann als Betrachter gar nicht erst auf die Idee kommen, die Elemente des Walds isoliert zu betrachten. Das Verschmelzen der Farben gleicht einem Sinnesrausch, so dass die Betrachtung genauso sinnlich wirken kann wie ein leibhaftig erlebter Waldweg.

Auf meinem Glauchauer Waldspaziergang begeisterte mich die Verschmelzung von Herbst und Winter. Auf dem Foto lässt sich schön erkennen, dass das Noch-Grün mancher Bäume im Kontrast zum Bereits-Weiß des von Laub bedeckten Waldbodens steht. Es ist also kein typisches jahreszeitliches Bild.

Jeder Weg ließe sich einem bestimmten Typus zuordnen. Als Kind legte ich bereits großen Wert darauf, einen Schleichweg und eben keinen breiten Forstweg zu nehmen. Renoirs Gemälde hätte auch weniger Reiz, wäre der Waldweg allzu breit. Wenn ich im Berliner Raum den merkwürdigen Straßennamen Gestell lese, dann denke ich an eine monotone Wegeform, die Forstzwecken diente. Schnurgerade natürlich, mit 90-Grad-Wegekreuzungen. Die Schneise namens Adlergestell ist im deutsch-deutschen Grenzverkehr wohl vom und zum DDR-Flughafen Berlin-Schönefeld von größerer Bedeutung gewesen, glaubt man der Berliner Morgenpost. In Preußen diente der Adler überdies als Orientierungszeichen, speziell für den König Friedrich Wilhelm I, als er südostwärts zu seinem Jagdschloss in Königs Wusterhausen mit seiner Entourage ritt.

Im Zeitalter digitaler Navigationsmöglichkeiten verfahren sich die Wenigsten, die sich leiten lassen wollen. Auch Wander-Apps verhindern meist zuverlässig das Verlaufen. Poetisch heißt es in Leona Stahlmanns Roman Diese ganzen belanglosen Wunder: „Sich einen Weg machen. Wege sind ein gegenseitiger Gewöhnungseffekt. Man selbst gewöhnt sich an eine Landschaft; und die Landschaft gewöhnt sich an den, der durch sie hindurchgeht.“ Denkt man an gestaltete Orte und Räume, dann prägt der Vorüberziehende die Umgebung. So wie bei Renoir Landschaft mitsamt dem Weg und den Wandernden verfließt, so sind Wege als Spuren letztlich die Spuren, die wir hinterlassen. Digitale Spuren lassen sich gut verfolgen, analoge Spuren nicht. Umso wichtiger, sich zu vergegenwärtigen, dass jeder Weg auch ein Teil der Landschaft ist und diese nur so überhaupt erschlossen werden kann. Je mehr Wege, desto mehr Perspektiven!

Wenn eine Dialektperle eine Perlbohne benennt: Über ein klitzekleines Wortgeschöpf

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Es kommt nicht häufig vor, dass im Deutschen Bundestag ein Wort verwendet wird, das aufgrund seines dialektalen Charakters einer Übersetzung bedarf. Ende November 2023 war dies der Fall: Der FDP-Abgeordnete Stephan Seiter brachte eine schwäbische Kostprobe in den Berliner Plenarsaal ein. Im Kontext einer eher drögen Debatte zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wirkte diese inklusive der Übersetzung so überraschend platziert, dass ich als Zuschauer aufhorchte und sogleich ins Protokoll schaute. Darin ist folgendes festgehalten:  

Genau das ist der Punkt, an dem wir ansetzen müssen, und darüber müssen wir diskutieren. Es ist doch besser, wir diskutieren darüber – auf Schwäbisch gesagt; das muss ich jetzt einfach sagen – a Muggaseggele länger, also ein klein wenig länger, als im Nachhinein wieder Flickschusterei betreiben zu müssen. Denn das hat das Wissenschaftszeitvertragsgesetz in der Vergangenheit schon erfahren, und das hat den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nichts genutzt. Deswegen nehmen wir uns diese Zeit. Wir klären diese Punkte.

Laut einem schwäbischstämmigen Freund bedeutet  ‚muggaseggele’ eine „Kleinigkeit“ bzw. eine „Petitesse“. Nach dem Protokoll zu urteilen kann man es auch adverbiell für eine Präzisierung eines weiteren Adverbs, in diesem Fall „länger“ verwenden.

Klare Sache: Außerhalb von Schwaben wird man das Wort kaum kennen können: Drei von mir befragte Gesprächsteilnehmer aus meiner Familie konnten damit nichts anfangen, doch der Klang des Wortes kann nur erheiternd wirken!

Laut der Duden-Redaktion ist das Wort muggaseggele als ‚Schwabens kleinste Einheit’ im Gebrauch und soll im Duden Aufnahme finden! Dabei erfährt der Leser Folgendes: „Das Muggaseggele bezieht sich auf das Geschlechtsorgan der männlichen Stubenfliege, die im schwäbischen Dialekt als Mugg bezeichnet wird.“

Schließlich fand ich bei einer kurzen Internet-Recherche heraus, dass die Firma Explorer Coffee GmbH edlen Kaffee unter der wohlklingenden Bezeichnung muggaseggele Perlbohne vermarktet. Da konnte ich nicht widerstehen und bestellte online. Ich bin schon sehr auf das Geschmackserlebnis gespannt!

Gut möglich, dass ich als Nicht-Schwabe bei diesem Produkt ein Ausreißer-Kunde bin, der bewusst aus Spaß an der Produktbezeichnung zugeschlagen hat. Und dann auch noch die anschließende Bezeichnung Perlbohnen…Ein Tchibo-Wiki klärt über deren Besonderheiten auf: Mild im Geschmack, rundlich in der Form, so könnte man sie kurz umreißen.

Prof. Dr. Stephan Seiter, der übrigens eine VWL-Professur an der European Business School in Reutlingen innehat, bescherte mir jedenfalls mit der Dialektperle eine Freude. Es sei erwähnt, dass sein Redebeitrag sehr sachlich und ausgewogen formuliert ist. Die Abwägung bei befristeten akademischen Tätigkeiten besteht allgemein darin, dass einerseits genügend Qualifikationsmöglichkeiten für Wissenschaftler, andererseits auch eine überdurchschnittliche Fluktuation ermöglicht werden soll. Je mehr Stellen unbefristet sind, desto weniger einfach sind akademische Jobs für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu besetzen. Doch oft sind „Mittel Dritter“, wie es in § 2 Absatz 2 des Gesetzes heißt, ein Grund für eine Befristung, die grundsätzlich so lange gilt, bis Eigenmittel gefunden werden oder die Drittmittel nicht mehr fließen. Es kann also sein, dass eine Stelle aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen trotz Bedarf ausläuft. Von Fluktuation kann hier keine Rede sein.

Ein wesentlicher Punkt der Gesetzesnovellierung, die sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag 2021 festgeschrieben hat, seien Mindestvertragslaufzeiten bei einer Befristung. Noch müssen Details dazu diskutiert werden, wobei die Wichtigkeit der Diskussion von Prof. Seiter hervorgehoben wird, um nicht später von einer unausgereiften Gesetzesänderung sprechen zu müssen. Ich bin gespannt, ob sich die Diskussionen gelohnt haben werden. Das Thema „Befristungsquoten“ in der Wissenschaft, das gesetzlich nicht geregelt ist, kam auch zur Sprache. Hier ist die Faktenlage ernüchternd: Im Jahr 2020 waren mehr als 60% promovierte und mehr als 90% nicht-promovierte Wissenschaftler befristet beschäftigt. Abwarten und Tee, nein Perlbohnen-Kaffee trinken, um zu erfahren, ob die Befristungsquoten in der Zukunft gesenkt werden können!

Die Rede von Prof. Seiter am 29.11.23 kann in einem Video noch mal angeschaut werden.

Alles nur ein Abklatsch?! Über eine besondere Verfahrenstechnik

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Ein Streifzug durch ein Museum verspricht Überraschendes. Etwas, das dem Besucher sonst verborgen bliebe. Und es kann sogar sein, dass das Werk erst durch den Werktitel nähere Aufmerksamkeit erhält.

So gesehen bzw. geschehen Ende Oktober 2023. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg unweit von Schloss  Charlottenburg in Berlin ist für Surrealismus-Fans eine Schatztruhe voller Zauber, ohne den diese Kunstströmung weniger reizvoll wäre.

Und nun das Zauberwort: Decalcomanía! Der mir zuvor unbekannte Künstler Oscar Dominguez (1906-1957) schuf sie 1935. Auf Deutsch wird die verwendete Technik nicht weniger reizvoll: „Gouache im Abklatschverfahren.“ Im Spanischen wird etwas Wahnsinniges denkbar, denn das Lexem manía bedeutet allein Manie bzw. Wahn. Also wird dabei etwas Verrücktes evoziert.  Das Wortteil „Decalco“ lässt mich abschweifen und mich fälschlicherweise ans Entkalken denken, das ohne chemische Reaktion(en) nicht denk- und ausführbar wäre.

Manuela Bethke hat mir dankenswerterweise einen Bestandskatalog-Eintrag der Sammlung Scharf-Gerstenberg zukommen lassen. Darin heißt es zutreffend:

Fantastische Welten eröffnet „Decalcomanía“. Submarine oder kosmische Landschaften entstehen, organische und tote Formen, Gesteine und Korallen scheinen sich abzuwechseln. Der Vorstellung des Betrachters sind keine Grenzen gesetzt, durch das Hineinsehen entstehen immer neue Bilder.

Es lohnt sich also ein näherer Blick auf das Werk, gerade mit einer digitalen Lupe, auf der sehr guten Internet-Seite bildindex.de, die sich als Verbunddatenbank bezeichnet. Gerade in der Vergrößerung (unten links ansteuerbar) wird schön sichtbar, wie sich eine fiktive Landschaft herausbildet. Man könnte an Riffe inmitten eines unübersichtlichen Systems von Wasserläufen denken, so dass als Höhen und Tiefen interpretierte Konturen Dreidimensionalität schaffen. Im unteren Bilddrittel zerfällt jedoch diese Struktur, so dass Analogien, die aus physisch erlebbaren Topographien erzeugt werden, nur bedingt aufrecht erhalten werden können. Für den Betrachter ist das Abgebildete nur schwer begreifbar, gleichsam wie in einer Tropfsteinhöhle, wo Kalkabbauprozesse auch eine kaum erfassbare Landschaft im Erdinnern formen. So passt der nicht übersetzte Titel Decalcomanía auch so gut. Noch einmal sei daran erinnert, dass im französischen Original „décalcomanie“, aus dem das spanische „decalcomanía“ abgeleitet ist, keinesfalls Kalk eine Rolle spielt. „Calque“ bedeutet im Französischen eine Ebene bzw. eine Schicht und auch eine Nachbildung, was ja im konventionellen, negativ konnotierten Sinn ein Abklatsch ist; in der Sprachwissenschaft bezeichnet es auch ein Lehnwort, so dass hier auch ein Transfer (von einer zur anderen Sprache) eine Rolle spielt.  Ein „papier calque“ ist ein Pergament- oder Pauspapier, womit hier das Material und das Verfahren im Zusammenhang mit einer Bastelarbeit durchscheint, die natürlich auch künstlerisch wertvoll sein kann. Eine Nachbildung ist also hier ein Abklatsch im schöpferischen, also kreativen Sinn!

Domínguez beschäftigte sich in den 1930er Jahren intensiv mit klassischen Abklatschverfahren, bevor Max Ernst diese Technik in andere integrierte. Ein Abklatsch hingegen ist auch in der Standardsprache ein Phänomen, das ja von der Kunsttechnik herrühren muss, jedoch mit dem Zauberhaften wenig bis gar nichts gemeinsam hat: Eine „(schlechte) Nachbildung eines Originals“, wie es im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt, hat oft einen negativen Beigeschmack, was wiederum durch das Verb „klatschen“ für „schallend schlagen“ aufgewertet und durch das Substantiv „Klatsch“ in Verbindung mit Tratsch wiederum negativ verdreht wird. In der Wortgeschichte wurde der Klatsch (heute eher als Kaffeeklatsch verwendet) als Gerede spätestens im 18. Jahrhundert salonfähig.

Im Katalog las ich außerdem von einem „Abziehbild“ als Ergebnis des Abklatschverfahrens, was auch in der Drucktechnik als Probedruck eine wichtige Funktion hat, ohne dass hier surrealistisches Gedankengut mit im Spiel wäre. Da ein Probedruck früher unvollkommen war, weil er ohne die Druckerpresse, sondern nur durch Bürstenschläge erzeugt wurde, kann dem Abklatsch in der herkömmlichen Tradierung kein Zauber innewohnen.

Im Grunde ist das unplanbare Ergebnis ohne eindeutiges Motiv der Kern des Zauberhaften, weil diese Wirklichkeiten unbestimmbar und unbeherrschbar scheinen. Und das wirkt förmlich sehr real!

Wenige Informationen über den spanischen Surrealisten Óscar Domínguez sind online verfügbar. Immerhin hat eine Londoner Galerie eine Kurzbiografie angelegt, in der auch auch das Zauberwort decalcomanía vorkommt.

Alles Banane!? – Zu Aleš Štegers Roman “Neverend”

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Die Lektüre eines E-Books hat einen großen Vorteil: Die Häufigkeit jedes einzelnen Wortes lässt sich genau mit der Suchfunktion ermitteln. 117mal kommt das Wort „Banane“ im Roman Neverend des slowenischen Schriftstellers Aleš Šteger vor. Es verknüpft kunstvoll drei Erzählwelten: die persönliche, die soziopolitische und die historiografische Textwelt.

Die tagebuchführende Erzählerin – der Roman ist auf vier Monate in einer nicht näher bestimmten Zukunft angelegt – kommentiert die Wahl und die Machenschaften des Politikers Platano in Slowenien, der mit seinem sprechenden Namen eine Banane verkörpert (auf Spanisch ist die Banane ein „plátano“). Zum anderen arbeitet sie an einem Romanprojekt, in dem der Naturforscher Giovanni Antonio Scopoli (1723-1788) zusammen mit seinem Korrespondenzpartner Carl von Linné eine wichtige Rolle spielt. Zentral für die Kohärenz von Neverend ist die Szene, als Scopoli vor einem als Paradiesbaum bezeichneten Bananenbaum (lat.:  Musa paradisiaca bzw. Musa sapientum) in einem zerstörten Gewächshaus des niederländischen Pflanzensammlers George Clifford auf dessen Gut Hartekamp steht und davor zurückschreckt, in dieser verwüsteten Szenerie den Baum weiter zu untersuchen.  Sinnbildlich steht diese Szene für das Unabgeschlosse, das sich im Romantitel wiederfindet.

Auf einer dritten Ebene erhält die Tagebuchschreiberin kurze Erzählungen von drei Gefängnisinsassen, die sie in ihrem Job als Anleiterin zum kreativen Schreiben betreut. Diese Texte beziehen sich auf das reale Kriegsgeschehen im Ex-Jugoslawien. Sie verarbeiten poetisch die feindseligen Handlungen, die Tod und Vernichtung mit sich brachten. Auf einer vierten Ebene kommt im Tagebuch genregemäß auch die intime Gefühlswelt der Erzählerin vor, so dass das Geschriebene keine Trennung von Fiktivem und wahrhaft Erlebtem kennt.

Das Cover des Romans stellt zwei Bananen in den Mittelpunkt. In einem zu kleinen Behältnis sind sie auf einen Nagel gespießt, so dass man an eine lächerliche Art der Aufbewahrung denken könnte:

Neverend
Cover des Romans Neverend von Aleš Šteger, erschienen in der Übersetzung 2022 im Wallstein Verlag (Das Original erschien bereits 2017.)

Die Bananen stehen im Text aufgrund für einen Handelskrieg zwischen der EU und dem Rest der Welt und zugleich für einen hohen Wert, ohne dass sie per se übermäßig werthaltig wären: Der erste Tagebucheintrag vom 02.09. enthält bereits erläuternde Gedanken:

Kafka bringt Bananen mit. Keine Ahnung, woher er sie hat. Vor zwei Monaten sind sie aus den Regalen der Supermärkte verschwunden. […] Weniger wichtig dabei ist, dass Bananen und zahlreiche andere Artikel zu Objekten des Begehrens geworden sind, deren Wert auf dem Schwarzmarkt schwindelerregend gestiegen ist. Viel wichtiger dagegen ist das Bestärken des unsichtbaren Gefühls, dass jeder von uns in die Geiselrolle eines größeren Systems versetzt wird. Wie eine Seifenblase zerplatzt so nebenbei die angebliche persönliche Freiheit.

Eine Geisel ist ja eine Person, die in Unfreiheit lebt. Es ist eine Art gefühlte Gefangenschaft, aus der man in der Wirklichkeit nicht entkommen kann.

Kafka ist Literaturlehrer und zugleich Geliebter der Ich-Erzählerin. Die namentliche Anspielung an den großen Schriftsteller steht auch für die Absurdität der äußeren Verhältnisse, in denen Schreibprozesse im Roman stattfinden.

Im Roman wird die Frucht der Bananen in einen Sinnzusammenhang gebracht, in dem das etablierte Wort Bananenrepublik für einen autoritären, korrupten Staat nur unzureichend hineinpasst. Vielmehr ist das Populistische, Unreflektierte, das allein auf Emotionen setzt, entscheidend:

„Über Nacht wurden Bananen zum Synonym aller Unzufriedenheit, sie sind die Metapher für alles, was die Menschen vermissen.“ Der gewählte Präsident Platano „verspricht das Ende der Versprechungen, es soll nur noch Taten geben“,  unter anderem auch wieder die Bananenbeschaffung.

Wie kann man diese Absurdität, die gewiss zusammen mit dem Handlungsort Gefängnis etwas Kafkaeskes hat, mit der Vergangenheit zusammenführen, die vor allem die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen ist? Die kurzen Erzählungen der Insassen sind womöglich der einzige Ausweg aus dem Abgeriegelten, da nur der Erzählstoff Fluchtmöglichkeiten bietet. Panfi, einer der drei schreibenden Gefangenen, meint dazu: „Wir sind nicht der Freiheit beraubt, sondern der Einsamkeit, und das ist schrecklich[.]“.

Fiil, der zweite Gefangene, holt noch mehr aus:

Selbst die Menschen, die sich in sogenannter Freiheit befinden, leben im Knast, jedoch in einem weniger sichtbaren. Was wir Freiheit nennen, ist lediglich eine vergrößerte Einzelzelle. Wir Häftlinge müssen uns damit abfinden, dass wir eingesperrt sind. Das verleiht uns eine Kraft, die die Menschen draußen nicht haben. Als Häftling schreibe ich, um durch meine Worte aus dem Knast zu entwischen, die einzige Form von Freiheit zu erfahren, die mir keiner nehmen kann. Mein Körper ist hier, meine  Gedanken aber sind frei. In unserem Fall ist klar, was wir tun, wenn wir schreiben. Ich verstehe jedoch nicht, warum du schreibst. Du bist frei, in Wirklichkeit ist der Knast aber überall für dich.

In der Tat ist Scopolis Leben für die Ich-Erzählerin eine Zuflucht aus ihrem Dasein, in dem Tod und Leben scheinbar sich die Waage halten. Ihr Roman wird jedoch „ein Manuskript im Tagebuch bleiben müssen, mit Korrekturen und Anmerkungen vollgekritzelt, eine hässliche, unlesbare Schrift, die nur ich entziffern kann“. Der Autorin fehlt es zuletzt an grundlegenden Ressourcen wie Strom und Papier. Ihr Roman bleibt im Tagebuch eingeschlossen. Die aggressive soziale Stimmung zwingt sie dazu, ohne Hab und Gut schließlich aus ihrer unsicher gewordenen Wohnung in die Garage ihrer Nachbarin Paula zu ziehen. Im Grunde ist dieser neue Wohnort mit einer Gefängniszelle vergleichbar. Die scheinbare Freiheit entpuppt sich als Gefangenschaft im Hier und Jetzt. Die Geschichten der Häftlinge könnten hingegen aus ihrer Sicht in der „Literaturbeilage“ einer Zeitschrift erscheinen und damit sich aus einem bestimmten Kontext befreien.

Der letzte Tagebucheintrag vom 31.12. klingt düster: „Ich wohne unter den Toten, dem Anschein nach lebendig.“ Das einzige, was hilft, ist das fehlende Lebensende, das Neverend: „Es gibt kein Ende, und das beruhigt.“

Den exzellenten Roman gibt es direkt (auch als E-Book) beim Wallstein Verlag zu bestellen. Die langen Zitate stehen auf den Seiten 5 und 213. Weitere Informationen (auch zum Autoren) bietet ein weiterer informativer Blogartikel.

Versuchsmodell – Modellversuch  – Einige Gedanken zum Film “Europa” von Lars von Trier

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Jeder Essay ist buchstäblich auch ein Versuch (wert). Und warum nicht gleich von einem Modellversuch sprechen, wenn eine Welt (re)konstruiert wird? Gerade im Medium Film liegt es nahe, eine Welt auch als Modell darzustellen, gerade wenn die Erzählabsicht nicht ausschließlich auf realen Fakten und Bezügen beruht.

Lars von Trier hat in seinen Filmen gerne das Modellhafte herangezogen, besonders in Dogville (2003). Als ich mich mit seinem Eisenbahn-Film Europa befasste, wurde es mir deswegen bewusst, weil die Modelleisenbahn als Filmmotiv diese Wahrnehmung geradezu aufdrängt.

Und da der Protagonist ein deutsch-amerikanischer Schlafwagenschaffner namens Leopold Kessler ist, erhält die Nacht im Medium Film eine übergeordnete Bedeutung. Die Kritik, allen voran der großartige, recht früh verstorbene Filmrezensent Michael Althen hat die Methode der Hypnose als filmisches Motiv vorangestellt. Durch sie wird der Film als Versuchsmodell noch plastischer, da in Bildern das Modellhafte in einer spezifischen Versuchsanordnung dargestellt wird, die unsere Wahrnehmung von Welt zumindest herausfordert, ähnlich wie in einem Trance-Zustand.

Während in der Adventszeit zumindest vom Evangelium Wachsamkeit eingefordert wird, zieht in der Heiligen Nacht auch die Ruhe und der Schlaf ein (man denke hier an das Lied Stille Nacht, heilige Nacht). Vielleicht findet mancher die wahre Stille der Nacht erst in einem mittels Hypnose manipulierten Bewusstsein?  Schlaf und Trance werden sicher auch dank  medizinischer Therapiemöglichkeiten in Zukunft sicher etwas stärker thematisiert.

Kessler lernt Deutschland kurz nach der Stunde Null kennen, unter anderem auch den zwielichtigen Unternehmer Hartmann als Chef der Eisenbahngesellschaft Zentropa und seine Tochter Katharina, mit der er ein Verhältnis eingeht. Hartmanns Rolle im Krieg kommentiert Katharina kurz nach seinem Freitod, im Grunde eine Kapitulation vor seiner auf sich genommenen Schuld, folgendermaßen:

Für Vater war Transport ein heiliges Wort. Für ihn war das Wichtigste, dass die Räder weiterrollten. […] In seinen Augen war ganz Deutschland wie eine Modelleisenbahn, die immer rundherum fuhr, und rund und rundherum. Und er redete sich ein, seine Waggons wären genauso leer wie seine Spielzeugzüge.

Der folgende Screenshot zeigt eine zerstörte Modelleisenbahn-Landschaft, bei deren Anblick man zwangsläufig an reale Kriegszerstörungen denken muss:

Modelleisenbahn-Landschaft in "Europa" von Lars von Trier
Zerstörte Modelleisenbahn-Landschaft. Screenshot aus: Europa (1991), Regie: Lars von Trier, 54’2”

Da ein Modell getroffen wurde, lässt sich hier jedoch auch an die zerstörerische Ideologie des Totalitarismus denken: Ein Modell bietet jedem Betrachter eine Totale, die sich in der Wirklichkeit eben nicht so leicht ergibt. Es liegt eine Gesamtschau vor, die in ihrer Gestaltung eine romantisierende Prägung erhält. Deutschland als Heimat der Modelleisenbahn: Spielzeugzüge lassen viele Kinder und natürlich auch Erwachsene fahren. In vielen Bahnhöfen der Deutschen Bahn betreut bis zum heutigen Tag die Wimmelbahn GmbH kleine Modelleisenbahnen, die gegen Münzeinwurf fahrbereit sind (vgl. Artikel „Der letzte Bahnchef“ von Raoul Löbbert vom 29.10.23 in Die Zeit).

Zur Wahrheit gehört auch, dass ohne das engmaschige Eisenbahnnetz in den 1940er Jahren längst nicht so viele Menschen in den Tod hätten geschickt werden können.  Anknüpfend an diese Erkenntnis verwandelt sich das Modellhafte, das im herkömmlichen Wortsinn Vor-Bild-Charakter für die Darstellung einer fingierten, gelungenen Wirklichkeit hat, in Europa in etwas Albtraumhaftes, das an eine misslungene Hypnose denken lässt.

„Äußerst unsicher, obs die Welt überhaupt noch gibt, wenn es draußen schwarz ist.“ Diesen Satz aus Albrecht Selges Eisenbahnroman Fliegen (erschienen 2019 im Rowohlt Verlag) könnte man für den ganzen Film Europa heranziehen. Das Zeitlose der Nacht wird hier in Bilder getaucht, die zusammen mit der exzellenten Filmmusik einen Zuschauer auch noch in den Schlaf begleiten können….

Der Film Europa, der bis Ende 2023 in der Arte-Mediathek verfügbar ist, ist der letzte Teil der Europa-Trilogie von Lars von Trier. Zu allen drei Filmen bietet der wissenschaftliche Beitrag von Dietmar Kammerer mit dem Titel „Traum-Reisen, Traum Geschichten“, erschienen 2009 im Sammelband Das Kino träumt. Projektion, Imagination, Vision sehr interessante Einsichten. Das längere Zitat findet sich am Anfang der 71. Filmminute.

Klangfarben – Über eine „Komposition“ von Adolf Hölzel

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Während das sinfonische Werk von Alexander Skrjabin auf synästhetische Weise Farben hervorscheinen lässt, tauchen aus den Gemälden von Adolf Hölzel Klänge auf. Diese sonderbare sinnliche Wahrnehmung mag auf die meisten Zuhörer bzw. Betrachter nicht zutreffen, doch Künstler ziehen ihre Schaffenskraft aus Ressourcen, die sich nicht vollends nachvollziehen lassen. Schon deswegen ist Kunst auch als Mysterium zu werten.

Der Titel Komposition (Anbetung) eines Gemäldes aus den 1920er Jahren zeigt bereits, dass sich die Nähe zur Musik aufdrängt. Das Werk war in einer Ausstellung der Sammlung Felix und Herlinde Peltzer-Stiftung im Altenburger Schloss zum ersten Mal in der Nähe des Ortes zu sehen, wo es als Dauerleihgabe beheimatet sein wird: 2021 wurde nämlich eine Kooperationsvereinbarung mit der besagten Stiftung und dem 2027 nach mehrjähriger Renovierung wiedereröffnenden Lindenau-Museum geschlossen, das somit um einen Schatz reicher wird.

Es fasziniert mich, wie ein Motiv, nämlich die Anbetung des jungen Jesus Christus, subtil in eine Art Farbenkosmos eingearbeitet wurde, ohne dass es einem unaufmerksamen Auge auffallen würde. Das Anbetungsmotiv kommt überdies in Hölzels Werk mehrfach vor, so dass man es leicht für eine spezifische vergleichende Forschung heranziehen könnte:

Adolf Hölzel: Komposition
Adolf Hölzel: Komposition (Anbetung), Pastell auf Papier, um 1925. Leihgabe aus der Sammlung Felix und Herlinde Peltzer. Foto: Lindenau-Museum Altenburg

In einem Aufsatz von Karin von Maur mit dem einschlägigen Titel „Hölzel und die Musik“ erfahren wir, dass der 1853 im mährischen Olmütz (Olomouc) geborene Hölzel schon vor dem Aufkommen des Expressionismus „an der Stuttgarter Akademie seit 1906 schwerpunktmäßig auf ein intensives Studium der Farben, ihrer Kontraste und der Wechselwirkungen“ Wert legte. Farbtafeln setzten an Farbenlehren des beginnenden 19. Jahrhunderts an, deren bekanntester Vertreter wohl Johann Wolfgang von Goethe war. Hölzel sprach 1919 auf einem Vortrag auf dem Ersten Deutschen Farbentag von einem „Toncharakter“ und  der Möglichkeit, ihn von einer „Tonart“ in eine andere zu „modulieren“ und dabei verschiedene „Klangfarben“ zu erzeugen. Hierbei muss es ein Vorteil gewesen sein, dass Hölzel seit seiner Kindheit regelmäßig Geige spielte und sich auch mit dem Kontrapunkt nach Johann Sebastian Bach vertraut machte. Dass Hölzel in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs Glasfenster im „Konferenz- und Festsaal der Keksfabrik Bahlsen in Hannover“ gestalten durfte (teils im Original erhalten, teils reproduziert), zeigt die hohe Wertschätzung, die dem Künstler in der Öffentlichkeit zuteil wurde.  Bei der künstlerischen Ausgestaltung  ist vom Künstler selbst ein Verweis auf Atonalität als ein Merkmal moderner Musik enthalten. Das  1916 fertiggestellte Ölgemälde Fuge (über ein Auferstehungsthema) enthält laut von Maur eine „markante Modulation“, die das Hell-Leuchtende einer Dur-Tonart und das Kühl-Dunkle einer Moll-Tonart zuweist: „Das Bildfeld wird so in zwei Farbzonen geteilt, die mit einem Tonart-Wechsel von ‚durverwandten’ nach ‚mollverwandten’ Tönen einhergeht.“ Es komme laut Hölzel also nicht auf den Gegenstand an, wenn es um das Harmonische geht.

Über das vorliegende Pastellbild Komposition (Anbetung) habe ich wenig Informationen gefunden, wohl auch deswegen, weil das Bild bisher nun im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum für die Öffentlichkeit zu sehen war.

Man könnte meinen, dass man bei der Betrachtung in ein Farbenklangbad aus kalten und warmen Tönen eintaucht. Dabei strukturieren gleichermaßen Linien und Flächenformen das Bild. Recht schnell bemerkte ich jedoch, dass das Unterscheidungsprinzip Linie-Fläche hier nicht aufgeht: Am rechten Bildrand lässt sich schön untersuchen, wo genau sich eine Linie und wo eine Fläche wahrnehmen lässt. Die Zuordnung fiel zumindest mir schwer, was wohl daran liegt, dass das Gemälde teilweise keine eindeutig bestimmbaren geometrischen Formen enthält. Ebenso wird mir bewusst, dass die Betrachter die Anbetenden und den Angebeteten nicht eindeutig von der Umgebung abgrenzen können. Das Objekthafte fehlt und kann nur imaginär mitgedacht werden. Genau das macht ja die Bildkomposition aus: Es gibt keine Hierarchien, weder ein Zentrum noch eine Peripherie. Nur aus unserem visuellen Erfahrungswissen können wir uns das geneigte Haupt im wahrsten Sinne des Wortes einbilden. Es wird ganz sicher vom Bilderfahrungsschatz des Betrachters abhängen, ob, und wenn ja, wie stark eine Anbetungsszene imaginiert wird. Zweifelsohne hätten viele Betrachter – mich eingeschlossen – ohne den Titel keine Anbetung wahrgenommen. Nun, ein wacher Blick mag die Grundfarben Rot-Blau-Gelb in relativ mittiger Position ausmachen, die in ihrer Anordnung die Interpretation mit dem Inhalt vorgebeugter Oberkörper plausibel erscheinen lässt. Nicht nur mein Auge, so vermute ich, wird wohl zu dieser Farbkonstellation hingeführt, ohne dass es eines längeren Suchvorgangs bedürfte. Und schließlich öffnet sich das ganze Werk hin zu diesem Anbetungsmotiv, da es in manchen ähnlichen Formen, in denen sich unabhängig von der Farbwahl ein geneigter Kopf erkennen lässt, angedeutet wird. So erfüllt sich auch der Titel Komposition: Das Werk ist quasi durchwirkt von einem zentralen Konzept, das Bildgestaltung und -inhalt miteinander verknüpft.

Ein langes Künstlerleben ging erst 1934 in Stuttgart zu Ende. So erlebte Adolf Hölzel viele Stilrichtungen, ohne dass er einer bestimmten Epoche zugeschrieben würde. Das macht sein Werk besonders spannend. Eine große (Wieder-) Entdeckung seines eher vernachlässigten Werks steht wohl noch aus. Ganz klar: Der alte Goethe hat diesen Farbrausch nie zu sehen bekommen. Dass wir diese Komposition(en) entdecken können, ist unser großes Privileg!

Herzlichen Dank an das Lindenau-Museum Altenburg, insbesondere an Frau Anna Lutz, und an die Felix und Herlinde Peltzer-Stiftung für die Abbildungsgenehmigung! Ebenso sei Vincent Rudolf, ehemaliger Mitarbeiter des Suermondt-Ludwig-Museums für seine bibliografischen Auskünfte gedankt. Die Zitate aus dem Aufsatz von Karin von Maur finden sich auf den Seiten 130ff. im Sammelband Vision Farbe. Adolf Hölzel und die Moderne, herausgegeben 2015 von Christoph Wagner und Gerhard Leistner im Wilhelm Fink Verlag.

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