Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Kategorie: AufgeLesen. Seite 3 von 7

Kunterbunte Episoden aus Schriftstücken, die mich beschäftigen und mitunter auch faszinieren. Unerhörtes, Unglaubliches; einfach nur zum Staunen.

Reiserelationen  – Über Sibylle Bergs „Die Fahrt“

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Hätte ich früher im Deutschunterricht Sibylle Bergs Die Fahrt gelesen und diskutiert, wäre ich wohl eher auf den Trichter gekommen, dass Literaturstudien auch nach der Schulzeit von großem Interesse sein können.

Sibylle Berg ist als Persönlichkeit und Schriftstellerin streitbar und sicher auch streitlustig:   sie hat sich für die Satire-Partei (mit dem blassen Namen Die Partei) im Europawahlkampf 2024 als Kandidatin aufstellen lassen. Ihre Werke fallen allgemein mit einem gewissen „pessimistisch-sarkastischem Ton“ auf, neben dem „formale Experimentierlust“ spürbar ist, wie die FAZ ihr Werk am Rande eines Interviews mit Edo Reents formulierte (Ausgabe vom 25.09.23). Nachdem ich am Silvesterabend 2021 im Maxi-Gorki-Theater von ihrem Stück Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden (u.a. mit Katja Riemann) mäßig begeistert war, wird mir Die Fahrt besser im Kopf bleiben. 

Dass unter anderem die Kulturstiftung Helvetia und das Globetrotter Reisebüro Bergs Romanprojekt unterstützt haben, wie man im Impressum erfahren kann, zeigt ein gewisses Engagement für die Sache, und die Sache heißt Literatur, für die gerade bei einer einschlägigen Thematik das Reisen essentiell ist.

Die Fahrt, zuerst erschienen 2007, erzählt von Reisenden, die sich untereinander mehr oder weniger gut kennen. Sie sind oder werden vor und während ihrer Reisen Bekannte. Insofern gibt der Romantext Reiserelationen in doppelter Hinsicht wieder: Personen und Orte werden miteinander so verknüpft, dass beide Kategorien zueinander eine Beziehung eingehen: Die Orte werden meist in Bezug von Relationen innerhalb von Städten oder Orten oder zwischen ihnen beschrieben, so dass die Wahrnehmung der Erzählstimme weniger das Wesentliche als das Flüchtige thematisiert, so dass das Erzählte mitunter grob-verzerrt herüberkommt. Sibylle Berg hat damit den Stempel ihrer Reisen auf die verschiedenen Charaktere aufgedrückt.

Zwei der gut zehn Figuren sollen als kleine Kostprobe dienen: Frank und Ruth. Während die ihm gewidmeten ersten drei Kapitel in Berlin und die letzten drei Kapitel in Reykjavík verortet sind, so begegnen wir Ruth in Franks erstem Berlin-Kapitel, bevor wir in sieben folgenden Kapiteln ihrer Reise bruchstückhaft folgen können: Drei Kapitel handeln in Tel-Aviv, drei weitere jeweils in Wien, Neu-Ulm und Paris, bevor wir sie im letzten Kapitel in Reykjavík wiederfinden.

Von Frank erfahren wir in sechs Kapiteln genau so viel, dass wir uns ihn als daheim in Berlin Dahinlebenden vorstellen können, der mit sich zufrieden ist, vielleicht deswegen, weil „eine Abwesenheit von Erwartungen“ vorherrscht:

Frank konnte heute verstehen, dass Berlin gemeinhin als wenig anziehend galt, denn die Stadt war definitiv eine äußerst hässliche Angelegenheit. Keiner hätte geglaubt, dass dieser Klumpen eingezäunten Drecks jemals wieder so etwas wie eine Metropole werden konnte. Nun war es eine, mit all den dazugehörigen Luxusläden, Kiezen, Parallelwelten, die sich nicht berührten. Es gab ein paar ästhetisch ansprechende Orte, doch hielten die sich immer so weit entfernt von einem selbst auf, dass man sie nie aufsuchte.  (…) So grenzten die Menschen mit zunehmendem Alter ihren Radius ein, gewöhnten sich an die Kneipen, Läden, Grünflecken in ihren Vierteln, die nicht größer waren als ein Dorf. Vermutlich sind Menschen von jeder Ansiedlung, die die Größe einer Kleinstadt überschreitet, überfordert.

Das Glück blitzt kurz auf, als er Ruth kennenlernt, als er einen aus seinem Nest gefallenen Vogel erstversorgt, mit ihr und einer Flasche Wein eine Nacht verbringt und anschließend das Leben des Vogels bei sich zu Hause für drei Tage verlängert. Eine Fernreise nach China bricht er ab, als er in einem startklaren Flugzeug sitzt; schließlich nutzt er einen dienstlichen Kontakt in Island aus, als er sich endlich einen Ruck heraus aus einem festgefahrenen Leben geben kann.  Lebensglück kehrt somit andernorts im Geiste der Gemeinschaft ein:

Am Abend war Frank so verabredet, wie man es in Island tat. Komm doch vorbei, sagte man, und dann kamen alle vorbei und hockten in Küchen, gingen später noch in eine Bar oder irgendeine andere Wohnung, um da herum-zuhocken. Dabei wurde immer nett geschwiegen, bis mehrere Isländer umfielen. Ohne Umfallen war der Abend kein gelungener. Frank, der nie ein Freund von Gesellschaft gewesen war, fühlte sich inmitten dieser merkwürdigen Menschen ausnehmend wohl. Vielleicht war es das Abhandensein von Eitelkeit, das die Atmosphäre so angenehm machte. Alle waren irgendwie verwandt, wer wollte da angeben?

Ruth lebt zu Anfang des Romans recht einsam als Übersetzerin ohne große Leidenschaft in Tel-Aviv. Statistiken übermitteln lakonisch-sarkastisch die Gefahren des Alltags, die leider im Oktober 2023 eine brutale Aktualität erfahren mussten: „Sie hatte gelernt, Autos mehr zu fürchten als Terroristen, es gab 6000 Verkehrstote jedes Jahr, dagegen nur 200 Terrortote.“ Wenige Abschnitte später heißt es : „3838 Terroranschläge gab es im letzten Jahr, täglich wurden 40 Attentatsversuche vereitelt. Alltag ging da nur mit Verdrängen.“ Zwei weitere Kapitel begleiten wir Ruth desillusioniert in Israel, bevor sie unfreiwillig auf der Rückkehr in die Heimat einen Kurzaufenthalt in einem Wiener Stundenhotel einlegt, ebenso unfreiwillig auf der Zugfahrt nach Berlin in Neu-Ulm strandet, zur Ablenkung ihre Sommerferien im brütend heißen Paris verbringt, wo sie zur ersehnten Abkühlung ein weiteres „Sommersonderangebot“ aufschnappt, nämlich zwei Wochen Island. In einem Reykjavíker Café trifft sie im fünftletzten Kapitel unverhofft Frank wieder. Sie erinnern sich an ihr erstes Zusammentreffen; in einem Leuchtturm verbringen sie gemeinsam eine romantische Nacht, als ihnen das Meer den Weg zum Festland versperrt. Einige Wochen herrscht das Glück in neuer Zweisamkeit vor, nachdem sie sich in das von Gunner zurückgelassene Haus eingemietet haben, der auch sein Todesort sein wird: Frank stirbt schließlich krebskrank „im Morphiumnebel“ im Beisein von Ruth.

Das letzte Kapitel knüpft an das erste Kapitel an, als von eben diesem Gunner die Rede war, der sein Haus nach der Trennung von seiner Freundin verlässt. Hier ist die Beziehung mit einer weiteren Figur also keine persönliche, sondern rein örtlich. Dadurch, dass die Reisen aller Charaktere flüchtig geschildert werden, festigen sich keine Konstellationen. Das Raum-Zeit-Kontinuum hat im Buch keine Relevanz, was eine aufmerksame Lektüre erfordert: Das Sprunghafte wird in diesem Roman zur erzählerischen Tugend: Wer das Buch ein zweites Mal liest, wird zuvor verborgene Bezüge auftun können.

Leider kommen die beigefügten Fotografien in der rororo-Taschenbuchausgabe (Rowohlt Verlag) qualitativ nicht gut weg. In der Ausgabe von Kiepenheuer & Witsch (Kiwi) entfalten sie eine deutlich bessere Wirkung. Sie geben dem Erlebten buchstäblich noch eine größere Dimension, da mit ihnen die beschriebenen Orte noch präsenter wirken. Die Lust zu fabulieren  macht aus diesen Schnappschüssen zusammen mit präzisen, meist skurrilen Reisebeobachtungen an kaum zu überblickenden Orten eine zeitlose, rasante Erzähl-Fahrt,  gleichsam ein literarisches Fahrtenbuch. Die vielleicht vorhandene Reisekostenabrechnung von Sibylle Berg wäre im Literaturmuseum Marbach sicher gut aufgehoben!

Lieferbar ist die KiWi-Ausgabe direkt beim Verlag. Die längeren Zitate befinden sich in der rororo-Ausgabe auf den Seiten 15 und 311, die kürzeren auf den Seiten 36f.

Beethovens Chorfantasie in neuem Text-Gewand

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Mit einem gewissen Augenzwinkern könnte man es als Jahrhundertereignis bezeichnen, dass die Chorfantasie von Ludwig von Beethoven 2020 eine neue, längere (acht statt sechs Strophen!) Textfassung erhielt. Und das von niemand geringerem als von Prof. Norbert Lammert, dem langjährigen Bundestagspräsidenten. Das ungewöhnliche Werk für Chor, Orchester und Klavier (Opus 80) hätte im Beethoven-Jahr 2020 mit dieser Fassung in der Essener Philharmonie Premiere gehabt; aufgrund der Pandemie wurde sie am 10. Juni 2023 innerhalb eines festlichen, gattungsübergreifenden und deshalb aus der Reihe fallenden Rahmens aufgeführt. Nur durch diese mehrjährige Verspätung kam ich in den Live-Genuss, da mein Vater seinen 75. Geburtstag mit diesem Beethoven-Abend krönte. Übrigens hatte eine Kammermusik-Version (für Chor und Klavier zu vier Händen) am 3. Oktober 2020 Premiere; selbstverständlich am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Lammert leitet.

Prof. Lammert äußert sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung er verweist auf seiner Homepage auf seinen Artikel zu dem ungewöhnlichen Arbeitsauftrag. Er erinnerte dabei daran, dass Beethoven „Rahmen aufgebrochen hat, ohne sie zu zerstören“. Die Chorfantasie und die Weiterentwicklung in eine Sinfonie, nämlich der Neunten, erwähnt Lammert als Beispiel für eben jenen aufgebrochenen Rahmen. Der Melodiekern der Vertonung von Schillers An die Freude findet sich nämlich schon in der außergewöhnlichen Chorfantasie.

Den ersten Text steuerte ebenfalls ein politisch Tätiger bei, nämlich der Dichter und „Geheime Staats- und Konferenzrat“ Christoph Kuffner (1780-1846) im Jahre 1808. Der „Dichter und Kulturminister“ der Deutschen Demokratischen Republik, Johannes Becher (1891-1958), textete 1951 die zweite Version. Also auch zumindest im weiteren Sinne ein Politiker.  Was liegt näher, die drei Textversionen der Chorfantasie miteinander zu vergleichen? Vorarbeit wurde schon geleistet: In der Zeitschrift Musik und Kirche werden in der sechsten Ausgabe des Jahres 2021 die drei Versionen gegenübergestellt. Der Autor Stephan Eisel betont in seinem Aufsatz (Titel: „‚vielleicht einen anderen Text’. Drei Texte für Beethovens Chorfantasie“) , dass der Frieden in allen drei Versionen thematisiert werde. Weitere inhaltliche Angaben macht er aber so gut wie nicht.

Kuffners Text wurde schon zu seinen Lebzeiten eher als mäßig beschrieben. In seiner dritten Strophe heißt es:

 Wenn der Töne Zauber walten

 Und des Wortes Weihe spricht

 Muss sich Herrliches gestalten

Nacht und Stürme werden Licht.

Wenn das keine Ode an die Kunst ist? Der Begriff ‚Schönheitssinn’ in der zweiten Liedzeile wird hier noch einmal in einer Überhöhung künstlerischer Gestaltung vor Augen geführt. Becher verändert nicht viel in seiner Version, doch eindeutig wird die Kunst in Zusammenhang mit einer friedfertigen, freiheitsliebenden Menschheit gebracht :

Wo sich Völker frei entfalten

Und des Friedens Stimme spricht

Muss sich Herrliches gestalten

Nacht und Träume werden Licht.  

Vor der künstlerischen Gestaltungsmacht ist also Frieden die Vorbedingung; die politische Dimension wird bereits deutlich spürbar. Bei Norbert Lammert wird der hohe Wert des Friedens innerhalb Europas Gesellschaften nun vollends in den Vordergrund gestellt, wenn wir in der fünften Strophe hören:

Traut dem Frieden, Europäer

Schätzt und schützt ihn allezeit

Glaubt den Aufgeklärten eher,

Als den Gegnern weit und breit.

Die Kunst wird in der dritten Version nicht noch einmal neu besungen – an ihrem hohen Wert gibt es keinen Zweifel. Doch wir haben gelernt, dass das Schätzen und Schützen von Werten, also auch dem Frieden, einer gewissen Anstrengung bedarf. Diese beiden wichtigen Verben, die phonetisch nur ein Umlaut unterscheidet, kann man in der Chorfantasie deutlich heraushören. Die Botschaft beinhaltet auch, dass es auf der Welt noch zu viele Friedensgegner gibt.

Die Vorstellung des Aufgeklärt-Seins bezieht sich hier weniger auf das Jahrhundert der Aufklärung, sondern mehr auf das Verständnis von Frieden und dessen Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander, das sich im europäischen Geist als Friedensethik ausformulieren lässt.

Lammert sprach im Sommer 2017 vor dem serbischen Parlament und erläuterte dabei, inwieweit ein Demokratieverständnis konstitutiv (also wie eine Verfassung) diesen europäischen Geist prägt:

Aus der Diktaturerfahrung und der Wahrnehmung einer entsetzlichen historischen Schuld, die wir auch und gerade gegenüber unseren europäischen Nachbarn eingegangen sind, ist ein neues Verständnis von Demokratie und Verfassung gewachsen, auch ein neues Verständnis vom notwendigen Umgang von Demokraten miteinander: ein anderes Verständnis von der notwendigen Balance zwischen Konkurrenz und Konsens, zwischen Konflikt und Kompromiss, zwischen Interessen und Überzeugungen. […]

Europa ist nicht nur ein großes Versprechen, es ist auch eine große wechselseitige Verpflichtung und nur mit der Erfüllung dieser freiwillig eingegangenen Verpflichtungen lässt sich das große Versprechen einlösen.

Ich persönlich höre nach Lammerts Text die Chorfantaise und ebenso Beethovens 9. Sinfonie anders als vorher. „Freude schöner Götterfunken“ klingt poetisch-erhaben, doch kann ich mich mit diesem Text nicht vollkommen identifizieren. Euphorie mag sich für mich bei diesen Worten und Klängen nicht einstellen. Ich finde es zugänglicher, Elemente der (problematischen) Wirklichkeit in einen Gesangstext aufzunehmen. Denn so werden Herausforderungen akzentuiert und nicht nur ferne, unerreichbare Höhen, die nur im Augenblick einen Klang-Rausch erzeugen können. Lammerts Worte dringen tiefer ein, auch wenn andere meinen könnten, dass bei ihm ästhetisch-klangvolles Vokabular ein wenig zu kurz kommt. Das mag sein, doch das haben Kuffner, Becher und natürlich auch Schiller in seiner Ode An die Freude schon geleistet. Die Appellfunktion ist nun stärker denn je; und das ist der Ruf des Augenblicks. Der Konzertsaal ist die eine Bühne, das europäische Parlament die andere Wirkungsstätte. Und wenn ich beide Orte zusammen denke, so erscheint mir die Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version mit eigenständiger Akzentsetzung wie eine musikalische Klammer, die es auch nach Brüssel zur Aufführung schaffen sollte. Vielleicht hört dann der eine oder andere EU-Parlamentarier zu; natürlich sollte die Textversion auch in alle im Parlament vertretenen Sprachen übertragen werden. Ob dann noch jemand an die Vokabel „feuertrunken“ (das Reimwort zu Götterfunken) denkt?

Ein Mitschnitt der Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version findet sich online noch nicht. Deswegen kommt hier ein Mitschnitt mit der Kuffner’schen Textversion aus dem Jahr 2014 (Solist: Frank Dupree). Und hier noch einmal das ungewöhnliche Programm mit dem Titel Ewig uns in der Essener Philharmonie am 10.06.23, bei dem auch Frank Dupree mitwirkte.  

Ein Ausflug im Sommerloch: Über kurfürstlich-herzögliches Terrain im Thüringischen

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Trockenborn-Wolfersdorf, ca. 30 km südöstlich von Jena, hat für einen gelungenen Sommerausflug genau die richtigen zwei Programmpunkte parat: Ein zauberhaftes Jagdschloss mit dem poetischen Namen Fröhliche Wiederkunft und ein idyllisch gelegenes Waldbad Herzog Ernst.

Ich hatte großes Glück, dass ich Ende Juli 2023 beide Orte genießen konnte, denn zum einen war das Wetter alles andere als stabil und zum anderen ist das Schloss nur an Wochenenden mit einer Führung zu besichtigen.

Zunächst zum Waldbad: Als ich gegen 18 Uhr nach der letzten Schlossführung dort vorfuhr, war es vollkommen verlassen. Zeitgleich mit mir fuhren zwei weitere Badegäste und ein Mitarbeiter vor, der sich als „Bürgermeister“ vorstellte und etwas wegen der „Chemie“ im Bad anschauen wollte. Vom Bademeister keine Spur. Doch: Sein rotes Auto war am Eingang geparkt; an der Fahrertür stand ein Eimer frisch gepflückter Äpfel. Offenbar war er ausgeflogen, da am Nachmittag das Wetter sehr windig war und Regen drohte, der dann eher im Umkreis fiel. Gegen Abend heiterte es auf, und er schien kaum damit zu rechnen, dass noch jemand schwimmen wollte. Der Bürgermeister (Siegfried Häfner) versuchte ihn vergeblich telefonisch zu erreichen; nach einigem Hin und Her öffnete er für uns drei das Bad und erlaubte schließlich auch das Baden, obwohl er ja nicht offiziell die Aufsicht haben durfte. Es war schließlich auch nur an eine Frage der Zeit, bis die Aufsichtsperson eintreffen würde. Einige gesammelte Pilze auf einem Tisch im Waldbad zeugten offensichtlich von dessen Müßiggang, da ein richtiger Badebetrieb sich an dem Tag nicht einstellen wollte. Gegen 18.30 Uhr trudelte der Bademeister ein, so dass ich bis zum Ende der Öffnungszeit den Abend genießen konnte.  Ein wahrlich besonderer Genuss, für den sich die anfängliche Ungewissheit lohnte.

Waldbad Herzog Ernst
Waldbad Herzog Ernst in Trockenborn-Wolfersdorf

Zuvor, im Jagdschloss, hatte ich Kaffee und Kuchen genossen, bevor dann die besonders informative Führung anstand. Der Bauherr des Schlosses, Kurfürst Johann Friedrich I. (1503-1554), der auch als Herzog von Sachsen betitelt wurde, wählte den Namen Fröhliche Wiederkunft, weil er nach seiner fünfjährigen Haft aufgrund seiner Anhängerschaft zur Reformation an das Wiedersehen seiner Frau Sibylle von Kleve und seinen Kindern erinnern wollte, das der Legende zufolge am Ort des Jagdschlosses stattfand. Das Schloss wurde 1550 nach dreijähriger Bauzeit fertiggestellt und dann später ab den 1850er Jahren von Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg im neugotischen Stil umgebaut, wohlgemerkt, nachdem es etwa 300 Jahre lang in einen Dornröschenschlaf gefallen war und dadurch verfiel. Sein letzter adeliger Besitzer war Ernst II. von Sachsen-Altenburg, nach dem auch das Waldbad benannt ist. Er lebte noch zu DDR-Zeiten bis zu seinem Tod 1955 im Schloss. Sein eigentlicher Herrschaftssitz in Altenburg erschien nicht als geeigneter Rückzugsort.  Er mauerte schon Anfang der 1920er Jahre eine „Zeitkapsel“ mit Papiergeld in einem „begehbaren Safe“ ein. Das Unheil der Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging also auch nicht an ihm spurlos vorüber. Mehrere Jahrzehnte diente dann das Schloss als „Jugendwerkhof“ für „schwer erziehbare Jugendliche“ und in den 90er Jahren als „Jugendlernhof“.  Restauratorische Arbeiten wurden vor Jahrzehnten auch von talentierten Jugendlichen vorgenommen.

Schloss Fröhliche Wiederkunft
Jagdschloss Fröhliche Wiederkunft in Trockenborn-Wolfersdorf

Eine Besichtigung des Schlosses ist vor allem deswegen interessant, weil es architektonisch herausragende Elemente mehrerer Jahrhunderte zusammen mit offensichtlichen Stil-Brüchen dem Betrachter vor Augen führt. Es wäre lohnenswert, wenn in Zukunft mehr öffentliche Zuschüsse in weitere Renovierungsarbeiten fließen würden.  

Kurzum:  An jenem 29.07. fühlte ich mich selbst wie in einer Raumkapsel, der im 21. Jahrhundert Boden der früheren Jahrhunderte betritt, die sich wie in nebeneinander liegenden Miniaturwelten offenbaren. 

Informationen zum Schloss „Fröhliche Wiederkunft“ und zum Waldbad „Herzog Ernst“ sind hilfreich, gerade hinsichtlich der wechselnden Öffnungszeiten. Zur Schlossgeschichte stieß ich in der Zwickauer Ratsschulbibliothek auf einen kurzen Aufsatz von Joachim Thiele mit dem Titel Jagdschloss Wolfersdorf „Fröhliche Wiederkunft“ aus der im Greizer Land erschienenen Zeitschrift Der Heimatbote (Ausgabe 5, 2010), die leider eingestellt wurde. Aus diesem Aufsatz stammen die Zitate. Vielen Dank an die Bibliotheksmitarbeiter für die freundliche und rasche Bereitstellung des Artikels! Ein Dankeschön gilt auch an die Bundesfreiwilligendienstleistende Josephine Hoffmann, die mich mit zwei weiteren Personen durch das Schloss führte. Und zuletzt an Siegfried Häfner, der als Bürgermeister mir Tür und Tor zum Waldbad öffnete.

Am Rande der Republik – Über einen Waldimbiss im Vogtland

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Das südliche Vogtland mit den Kurorten Bad Brambach und Bad Elster liegt im südlichsten Winkel Sachsens und damit auch Mitteldeutschlands. Wer es bis dahin geschafft hat, wird Ruhe und womöglich auch Erholung finden, seien es auch nur für wenige Stunden. Der Musikantenradweg ist eine gute Möglichkeit, diese Region mitsamt dem ‚Musikwinkel’, wo bis heute Streichinstrumente höchster Qualität gefertigt werden, zu erkunden.

Meine mit gut 15 km wirklich kurze Radtour im Juni führte von Bad Brambach (von Zwickau / Plauen leicht mit der Vogtlandbahn zu erreichen) über Landwüst, wo sich in Ortsnähe auf dem Wirtsberg ein wunderbarer Aussichtsturm  befindet (mit Blick hinein ins böhmische Becken), bis nach Sohl, einem Ortsteil von Bad Elster. Unweit des Sohler Bahnhofs gibt es einen kleinen Badeteich, wo man sich wunderbar kurz vor der Rückfahrt erfrischen kann.

Die kurze Tour wird mir vor allem dank des Waldimbisses ‚Zum Hammer’l’ im Weiler Hennebach in Erinnerung bleiben. (Leider führt der offizielle Musikantenradweg nicht daran vorbei, so dass ein kurzer Abstecher nötig ist.) Allein die Lage in unmittelbarer Nähe zu Tschechien (buchstäblich ist es ein Katzensprung bis ins Nachbarland) ist mehr als eine Erwähnung wert. Über eine stille einsame Straße (eine Sackgasse für Autofahrer) geht es an diesen wunderbar entrückten, nicht ausgeschilderten Ort. Ohne Online-Kartenstudium hätte ich ihn nicht niemals gefunden.

Man fühlt sich intim wie in einer Gartenkolonie für kurze Zeit aufgenommen, weil die wenigen Tische wie in einem privaten Garten aufgestellt sind. Laut Besitzerin ist ein fast 100-jähriger Stammgast gerade anwesend, der gut in eine familiäre Runde eingebunden scheint. Auf Nachfrage erfahre ich, dass vor der Zeit des Eisernen Vorhangs der Weiler deutlich größer gewesen sei. Die Zahl der heute noch intakten Grundstücke kann man an einer Hand abzählen. Ohne ein längeres Gespräch zu führen genieße ich für eine halbe Stunde einfach nur den Augenblick. Die wenigen angebotenen Speisen und Getränke gibt es anderswo auch, doch nur selten in dieser lauschigen Atmosphäre. Ich bin als Radfahrer mit einem alkoholfreien Bier zufrieden.

Waldimbiss "Zum Hammer'l"
Idylle am Waldimbiss ‚Zum Hammer’l’ im Weiler Hennebach (bei Bad Brambach)

Bevor ich aufbreche, möchte ich noch vor Ort etwas Konkretes hören oder anschauen. Eine Anekdote hat die Wirtin gerade nicht parat, doch ich stoße auf einen schlichten dialektalen Kurztext am Eingang der Gaststube, die wie ein Gartenhäuschen daherkommt:

Perpetuum mobile
Kurztext Perpetuum mobile im vogtländischen Dialekt (unbekannter Verfasser)

Als ich mir diesen Text erneut anschaute, fühlte ich mich bereits in Bayern. Wie kaum eine andere Region in Deutschland ist das Vogtland (mit sächsischen, thüringischen und bayrischen Ortschaften) trotz der Abgeschiedenheit eine sprachlich hybride Region par excellence. Die Schlüsselworte „Raadla“ (Fahrrad), „Benzingöld“ (Benzingeld), „Böia“ (Bier) und „kaafm“ (kaufen) sind noch einfach zu verstehen, doch was ist mit dem „naouchat“ bzw. „naouchet“? Obwohl ich vor Ort nachgefragt habe und ich mir sicher war, dass ich die Auskunft behalten würde, musste ich erneut nachschlagen. Erst nach einiger Zeit wurde ich fündig: Die Fundgrube Bayerns Dialekte Online (BDO) zeigt mir an, dass das Wort  – als Suchbegriff gibt es nur auf ‚nachet’ eine Antwort –  ‚dann’ bzw. ‚danach’ oder ‚nachher’ bedeutet, was in der Logik auch Sinn ergibt. Zusammengefasst ist der Text eine eigenwillige Werbung fürs Radeln: Mit dem durch die Muskelkraft eingesparten Benzingeld lässt sich Bier kaufen, womit man neue Kraft tanken kann, was wiederum zum Radfahren nützlich ist. Und dann ist das „Perpetuum mobile“ komplett. Wenn man komplizierte Begriffe immer so leicht veranschaulichen könnte!

Ich denke an einen nimmermüden Radler, der Bier als Energieträger auf einer Reise durch die Welt konsumiert. Wie weit würde er damit kommen, gerade wenn er die alkoholfreie Variante wählt? Wahrscheinlich ziemlich weit, gerade wenn er sich auf ein gutes Gefährt verlassen kann. An jenem 18.06. komme ich jedoch nicht an meine persönlichen Grenzen. Die geografische Grenzerfahrung hat eindeutig ausgereicht!

Leider ist (Stand: Juni 2023) der Imbiss nur zweimal die Woche (Mittwoch- und Sonntagnachmittag) geöffnet. Auch hier ist deswegen sehr gutes Timing gefragt! Ich habe keine weitere empfehlenswerte Internetseite (einige Seiten lokalisieren den Imbiss sogar in Tschechien!) gefunden, deswegen gebe ich nur die Telefonnummer des Waldimbisses an: 037438 – 21733 (Mitte August 2023 ist der „gewünschte Gesprächspartner nicht erreichbar“.)     

Im Strudel des (Welt-) Geschehens – Über eine Collage namens „Berlin Alexanderplatz“

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Schaut man sich zwei Buchcover von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) an, so scheinen collagenartige Abbildungen sehr gut zum multiperspektivischen Stoff zu passen:

Döblin: Berlin Alexanderplatz
Buchcover von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. dtv, 1990.
Berlin Alexanderplatz: Buchcover
Buchcover von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz in der englischen Übersetzung, Penguin Classics, 2019.

In der von der Berlinischen Galerie von Anfang November 2022 bis Anfang Februar 2023 gezeigten Ausstellung Magyar Modern bildeten viele eher unbekannte Werke ungarischer Künstler unter anderem das Berliner Stadtleben zwischen 1910 und 1933 ab. Eine ausgestellte Collage blieb mir dabei am meisten im Gedächtnis. Sie heißt ebenfalls Berlin Alexanderplatz und entstand zwei Jahre vor Döblins Roman zu einer Zeit, als der U-Bahn-Bau im wahrsten Sinne des Wortes den gesamten Platz umwälzte. Der Künstler Lajos d’Ébneth (1902-1982) war mir bis dato womöglich schon bekannt, da seine abstrakten Kompositionen in unterschiedlichen Techniken mit dem Bauhaus-Stil in Verbindung stehen. Einfache raumbildende Strukturen sind auch in dem ungewöhnlichen Werk sichtbar:

Lajos d'Ebneth: Berlin Alexanderplatz
Lajos d’Ebneth: Berlin Alexanderplatz, 1927. © Fundación Ebneth-Scholten

Nach Auskunft von Philip Gorki, Archivar in der Berlinischen Galerie, scheint (noch) kein Aufsatz zu diesem Werk, das für die Ausstellung vom Centraal Museum in Utrecht zur Verfügung gestellt wurde, zu existieren. Das Gute daran ist, dass ich so ohne Expertenwissen mir selbst einen Zugang zu dieser Collage verschaffen kann: Mich beeindruckt die ungewöhnliche Perspektivierung der dargestellten Passanten und der baulichen Strukturen, die der Kulisse sowohl Fülle als auch Leere und Elementen aus der Wirklichkeit etwas Unwirkliches verleiht. Der Alexanderplatz wird bei Ébneth nicht in Gänze nachgebildet, sondern mit futuristischer Architektur mitsamt dem Menschenstrom auf die zentralen Charakteristika des Platzes reduziert, nämlich auf die damals vorhandenen drei Kaufhäuser (Hahn, Tietz, Wertheim) sowie den Fußgänger- und Autoverkehr.

Als ich im September 2007 öfter den Alexanderplatz besuchte, war mir in der Wirklichkeit jegliche Faszination abhanden gekommen. Die Eröffnung des Einkaufszentrums Alexa wurde in der Presse vor allem deshalb erwähnt, weil es aufgrund von Tumulten von Schnäppchenjägern einige Verletzte gab und sogar ein Sicherheitskonzept hermusste. Ein wirklich trauriges Schauspiel, das der Tagesspiegel damals unmissverständlich festhielt! Als ich einige Tage später das Alexa besuchte, vermisste ich die Fenster in Richtung Außenwelt (sie sind vor allem an den Eingangsbereichen vorhanden, aber eben nur recht spärlich). Ich hatte fast Mitleid mit den dort Beschäftigten, weil das Tageslicht scheinbar gänzlich fehlte! Wie konnte diese triste Atmosphäre zu einem Shopping-Erlebnis führen? Wenn ich mehr als 15 Jahre später in der S-Bahn am Alexa vorbeifahre, bleiben die negativen Assoziationen im Kopf. Und dabei hat der Alexanderplatz doch zeitgeschichtlich viel zu bieten! Zwischen einmaliger Historie (vor allem dank der dort stattgefundenen Reden während der Wendezeit) und der austauschbaren Shopping- und Gastronomiewelt, für die heute der Alex steht, könnte kaum ein größerer Kontrast herrschen.

Lajos d’Ébneth hat in seiner Collage Wort- und Bildkreationen geschickt platziert. Wörter wie „Wunderseife“ oder „Cold Cream“ lassen an verführerische Artikel denken. Sie werden auch heute noch eingesetzt. Das in unterschiedlichen Farben vorkommende „DEDE“ sowie das vertikal angeordnete „OJA“ scheinen der Phantasie entsprungen, doch dem ist nicht so. Ein Deutscher mag hier reine Lautmalerei vermuten, doch in Ungarn und in der Türkei bezeichnet ‚Dede’ einen Großvater (im Tschechischen gibt es übrigens das ähnliche Wort ‚děd’ ). Auch als Anrede bzw. Titel in islamischen Gemeinschaften wird ‚Dede’ verwendet.  Im Rumänischen bedeutet ‚ojă’ Nagellack, was auch gut zum (Werbe-)Kontext passt.  Aus der Aufschrift ‚SENZA BENZ’ am Fahrzeug ganz links kann man so viel wie eine ironische Werbebotschaft („ohne Benz“) herauslesen, wenn man „senza“ italienisch deutet. (Leider kann man das Wort auf der hier verkleinerten Abbildung durch das abgeschnittene ‚s’ nicht erkennen.)

In der Collage kommt die Welt mit ihren Facetten zum Ausdruck: Das in einem ungewöhnlichen Verpackungsdesign präsentierte Shampoo Pixavon, eine damals verbreitete reale Marke der in Dresden produzierenden Lingnerwerke AG, die auch das Odol-Mundwasser auf den Markt brachten, wird mit einer quasi hier als Werbeträger fungierenden Person afrikanischer Abstammung zusammengebracht und somit als eine Art Weltkulturprodukt präsentiert. Man könnte meinen, dass das Shampoo in Afrika entwickelt und hergestellt worden sei! So werden in der Zeit des Kolonialismus auch bewusst traditionelle Vorstellungen von üblicher Werbe(bild)sprache hinterfragt. Auch Akrobatik wird zur Schau gestellt, was mich an die expressionistische Kunst jener Epoche denken erinnert. Das aufkommende Automobil dominiert natürlich als Werbebild und auch als raumfüllendes Element die Collage.

Eindeutig ist hier die Vielsprachigkeit und auch die Vielfältigkeit des Alexanderplatzes in den 1920er Jahren erkennbar. Lajos d’Ébneth lebte nie länger in Berlin und hatte vermutlich nicht im Sinne, lokale (Bauhaus-)Pläne, die ja mit dem Alexanderhaus und dem Berolinahaus um 1929 vor Ort auch realisiert wurden, zu kommentieren. Ob die Forschung dazu noch etwas ans Tageslicht fördern wird? Jedenfalls wird er nach einem Besuch in Dessau 1926 dem Bauhaus-Umkreis zugeordnet. Ein Stück Wirklichkeit und ein Stück Vision von der Miniaturwelt am Alexanderplatz werden in der Collage allgemein mit neuwertigen architektonischen Strukturen des Jahrzehnts amalgamiert. Anders als in rein abstrakten Gemälden des Künstlers wird hier das Leben in der Großstadt spürbar und mit seiner faszinierenden Unübersichtlichkeit und Uneindeutigkeit dem Betrachter vor Augen geführt.

Unter diesem Link der Sammlung Online (Berlinische Galerie) kann man die Collage auch in sehr guter Auflösung im Detail betrachten. In einer taz-Online-Rezension von Paula Marie Kehl zur Ausstellung wird die Collage auch gezeigt und in der Bildunterschrift dazu kommentiert: „Berlin inspirierte zu gewagten Formen“. Ein interessanter Blogartikel von Alexander Glintschert widmet sich der Warenhaus-Historie auf dem Alexanderplatz.

Liebesspielglück – Julia Schochs „Selbstporträt mit Bonaparte“

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In den Jahren 2006 / 2007 bin ich bei Casino sicherlich einige Hundert Euro losgeworden. Wohlgemerkt nicht im Casino! Ich meine nämlich die französische Supermarktkette, die knapp ein Jahr meines Lebens oft eine Anlaufstelle für Besorgungen im Alltag war.

Erst kürzlich, nach der Lektüre von Selbstporträt mit Bonaparte (2012) von Julia Schoch, bin ich auf diesen Gedanken gekommen, dass auch der Gang ins richtige Casino zur Routine werden kann.  Eigentlich habe ich dieses Buch ohne große Begeisterung gelesen, doch die Nachbetrachtung bringt mich zu dem Ergebnis, dass die Inhalte sich ohne jegliches Pathos um die großen Themen Liebe, Spiel und Glück drehen. Das Casino dient dabei als geeignete Kulisse.

Schon auf der ersten Seite steht die Zahl 688. So oft war die Ich-Erzählerin im Casino zu Gast. Das muss man erst einmal schaffen. Die wenigen Zeilen zuvor sind als Romananfang ganz besonders gut gewählt:

Und dann, in jener langen Sekunde, wenn die Kugel noch unterwegs ist, wenn sie sich noch nicht entschieden hat für eine Zahl, ist alle Zeit ausgelöscht.  Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Für diesen einen Moment kann man beruhigt sein, die Welt, sie wartet noch. In welch sonderbarer Zeit spielt das, was ich erzähle?

Der Roman verweigert sich einer chronologischen Handlung; dafür ist er auch nicht geschrieben. Wie das Cover schön darstellt, haben wir es mit Momentaufnahmen einer Liebe zu tun, die nicht mehr existiert:

Selbstporträt mit Bonaparte
Cover des Romans Selbstporträt mit Bonaparte (2012) von Julia Schoch (Piper Verlag)

Ganz zum Schluss wird die Gegenwart mit einem „undurchdringlichen Später“ und das Leben mit einem „Dasein in solch einem Hotelzimmer“ verglichen, „in dem man auf dem Bett unter einem geöffneten Fenster liegt.“ Das dortige Warten füllt eine „erschöpfte, auf jeden Fall übrig gebliebene Leidenschaft“ aus, so dass das Früher mit hineinragt. Die Erzählerin folgt hier dem legendären österreichischen Roulettespieler Erich Puch, der sich angeblich nach dem Spielrausch in Hotelzimmer flüchtete, um erfolglos zu versuchen, „an die Zukunft zu denken, an etwas, das das GANZ ANDERE wäre, etwas noch Unvorstellbares“.

So liegt es nahe, das Vergangene, also das Früher in Worte zu fassen.  Laut der Erzählerin gebe es eine „Art rückwärtiger Existenz“, „auf die es tatsächlich ankommt.“ Weniger würde diese lebenslaufrelevante Einzelheiten beinhalten als vielmehr Nebensächlichkeiten, wie zum Beispiel Casinobesuche. Deswegen wird das Casino als Ort auch nicht umfassend als Schauplatz beschrieben; es wirkt mehr wie ein Routine-Ort („kein Klub oder Geheimbund“), der sich nicht von anderen abheben soll. Erzählerisch ist dies eben unauffällig und zugleich überzeugend gelöst. Nicht der Ort, sondern das Spiel namens Roulette ist „der Inbegriff einer gänzlichen anderen Welt“, anders als das „Leben in einer verschlafenen Kleinstadt am äußersten Rand eines verriegelten Landes“, in dem die aus Bad Saarow in Brandenburg stammende Autorin Julia Schoch durchscheint. Da ich zu Pandemiezeiten Bad Saarow besuchte, habe ich eine lebhafte Vorstellung davon, wie man als Schriftstellerin zu solch einem Satz kommt. Das soll als biografische Randnotiz genügen.

Außerdem wird das Spiel als „das Ritual“ der geschilderten Liebe angesehen. Es ist eben keine bloße „Metapher“ und es steht auch nicht für „Verirrung“. Man hat als stets den Eindruck, die beiden Spieler behalten die Kontrolle über das, was sie tun. Kein Spielrausch, keine Spielsucht ist zu erkennen. Insofern gibt es auch keine Dramatik in diesem Text. Erklärungsversuche zur gescheiterten Liebesbeziehung unterbleiben, so wie auch Spielserien im Casino eher Chaos widerspiegeln als irgendeine logische Ordnung.

Kennengelernt haben sich die beiden Protagonisten ironischerweise auf einer „Konferenz für Historiker, die den Titel trug Ansichten der Vergangenheit oder Vergangene Ansichten, vielleicht auch Angesichts des Vergangenen.“ Von Chaos ist also beruflich keinesfalls die Rede, eher von einer mangelnden Präzisierung bestimmter Ereignisse! Hier wird deutlich, dass es programmatisch im Roman darum geht, wahrheitsstiftende Bilder der Vergangenheit zu erzeugen, wobei das Vergangene im Titel bewusst unscharf bleibt. Und somit sind auch die Bilder nicht vollkommen scharf zu stellen. Dass Bonaparte daheim mit einer ungewöhnlich gestalteten, beim ersten Rendezvous mit dem Erzählerin-Ich kaum auffälligen Napoleon-Büste aufwarten kann, ist geschickt inszeniert, da die Ähnlichkeit mit dem Herrscher sich keineswegs aufdrängt („Er sei mindestens drei Köpfe größer und habe daher keinerlei Lust zu erobern, was oder wen auch immer“). Sein wirklicher Name bleibt dem Leser verborgen; Bonaparte ist ein Einfall der Erzählerin. Auch hier entzieht sich der Roman des bloßen Abbildhaften und versucht bewusst, mentale Bilder zu verzerren. Er hinterfragt chronologische Zusammenhänge und sicherlich Ursache-Wirkungsbeziehungen. So wie man in Spiel auch nicht klar Erfolge begründen kann: Spielglück kennt einfach keine Ursache!

Anschlussfrage: Ist das Schreiben in der Auswahl der Worte nicht auch ein Spiel?  In einem Seminar zum Spiel in der Literatur hätte Selbstporträt mit Bonaparte einen Ehrenplatz sicher!

Auf der Homepage des Piper Verlags ist das Buch nur noch als E-Book lieferbar. Lesenswert sind die Rezensionen im Deutschlandfunk und im Spiegel. Die Zitate stehen (nach aufsteigender Seitenzahl geordnet) auf den Seiten 9, 12, 17, 19, 28, 50, 54, 141, 142. Die kursiven und in Großbuchstaben gedruckten Wörter stehen auch so im Original.

Die Erleuchtung des Geistes – Über ein vorrevolutionäres Gemälde

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In der Oberstufe konnte ich wenig mit Georg Büchners Woyzeck anfangen. Nun habe ich mir Alban Bergs Oper Wozzeck vorgenommen, um den Stoff noch einmal zu ergründen. Dabei wird mir ein Gemälde von Wilhelm Joseph Heine (1813-1839) aus dem Jahre 1838 helfen, das ich Anfang des Jahres im Museum der bildenden Künste in Leipzig gesehen habe.  Allein der Titel Gottesdienst in der Zuchthauskirche ist alles andere als gewöhnlich: 

Wilhelm Joseph Heine: Gottesdienst in der Zuchthauskirche
Wilhelm Joseph Heine: Gottesdienst in der Zuchthauskirche (1838); Herkunft/Rechte: Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Andres Kilger

Es handelt sich um ein „politisches Zeitzeugnis der deutschen Kunst des Vormärz“; dabei ist die „kultivierte  Farb- und Lichtgestaltung“ ein besonderer Hingucker. Der revolutionäre Geist des Bildes ist bereits in der Perspektive wahrnehmbar, da der Blick des Betrachters eben nicht in Richtung Altar gerichtet ist und kirchliche Insignien weitgehend fehlen. Man kann nicht umhin, sich auf die Antlitze der Insassen zu konzentrieren, die in ein ganz intensives Licht getaucht sind. Natürlich kommt das Licht von oben, also vom Himmel herab, so dass man es auch als göttliches Licht interpretieren könnte. Entscheidender finde ich, dass Individuen auch mental in ihrem Geiste erleuchtet werden, um damit politische Überzeugungstäter zu verkörpern. Das Licht-Symbol steht auch für irdische Erkenntnisse, mit denen Gesellschaften mehr und mehr demokratisiert worden sind. Hierin liegt die Brisanz des Gemäldes, denn die Abgebildeten sind ja hauptsächlich wegen ihrer unliebsamen Gesinnungen an dem Ort zu finden.

Der geschulte Kunsthistoriker-Blick mag auch erkennen, dass Heine „zum Zeichen der Verbundenheit“ vor allem in die Figur des neben den Bewachern stehenden Mannes mit verächtlicher Miene „selbstbildnishafte Züge“ eingearbeitet habe. Er trägt einen „Weberkittel“, was einem Betrachter wie mir auch nicht aufgefallen ist. Für den Laien ist sofort ersichtlich, dass Gespräche und Buchlektüren im hinteren Kirchenbereich damals nichts Ungewöhnliches waren. Insofern erscheint das heutige Kirchenvolk geradezu aufmerksam, wenngleich sich natürlich die Kirchenbesuche seitdem deutlich verringert haben.

In den gemalten Figuren kommen nach meiner Lesart individuelle Gesichtszüge klar zur Geltung. Man kann Charaktereigenschaften hier quasi aufleuchten sehen.  Der junge Mann, der recht entspannt gegen die mächtige Säule lehnt, ist ebenfalls ins besonders helle Licht gerückt und richtet selbstbewusst, wenn nicht gar trotzig als einer der wenigen den Blick nach vorne. Ob er den Gottesdienst zur Klage gegen sein Unheil nutzt?

In jedem Fall hat der früh verstorbene Künstler hier einen unglaublich tiefsinnigen Einblick in Gemüter mit einer revolutionären Gesinnung gewährt. Was wohl zeitgenössische Betrachter gedacht haben mussten? 

Angesichts der harten Lebensumstände in einer Anstalt muss ein Gottesdienst eine vorübergehende Erholung vom Alltag gewesen sein. Man konnte besser als sonst mit seinen Gedanken eine Verbindung zu seinen Mitmenschen und natürlich zu Gott aufbauen, wenn man das Bedürfnis dazu spürte.

Soziale Begegnungen waren ja nicht selbstverständlich während der Haftzeit. Es hat den Anschein, als ob hier die Gespräche frei und ohne stärkere Überwachung ablaufen konnten. Der Besuch in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt und heutigen Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im April 2023 hat mir erneut gezeigt, dass psychologische Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts auch zur drastischen Verschärfung von Haftbedingungen führen konnten. Dort waren die Häftlinge sich keinesfalls darüber im Klaren, wo sie sich genau befanden. Begegnungen mit Gleichgesinnten waren ausgeschlossen. Insofern ist Heines Gemäldes auch ein Bild, in dem gedankliche Freiheit als Momentaufnahme erspürt werden kann. Auch in Haftzeiten kann man sich gegenseitig zur mentalen Befreiung Gedankengut näherbringen.

Das Bild ist im Kleinformat mit den zugehörigen Erläuterungen von Birgit Verwiebe oder in vergrößerter Einstellung zu bestaunen.

Flanieren oder Herumstreunen: Gedanken zum Roman “Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze” von Wilhelm Genazino

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Die Bundesliga-Saison 2022/ 23 endete genauso mit einem Herzschlagfinale wie die Saison 2000/2001. An jenem Maitag vor nunmehr fast genau 22 Jahren fuhr ich mit dem Auto von Dieburg zum Hessentag nach Dietzenbach. Ich weiß noch genau, dass ich während der Parkplatzsuche vor Ort live im Autoradio hörte, wie Schalke 04 in buchstäblich letzter Stunde die Meisterschaft von Bayern München abgeluchst bekam. Konsterniert stieg ich damals aus dem Auto, auch wenn ich kein Schalke-Anhänger bin. Damals wurde zudem Abschied vom legendären Parkstadion gefeiert, wo ich in den Neunziger immerhin ein- oder sogar zweimal die Schalker spielen sah (Gastmannschaft war der SC Freiburg, den ich damals schon sehr schätzte).

Ich habe mich an diesen Hessentag erinnert, als ich zum wiederholten Mal den Anfang von Wilhelm Genazinos letztem Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze aus dem Jahr 2018 las:

Die Ankündigung eines Straßenfests bedeutete, dass die in einer Einkaufsstraße ansässigen Bäcker, Metzger, Juweliere, Optiker, Apotheker und so weiter für einen Tag ihre Geschäfte verließen und auf der Straße Holzbuden aufstellten und ihre Bratwürste, Vollkornbrote, Sonnenbrillen auf Holztischen verkauften, vieles etwas billiger als sonst. Andere Geschäftsleute verschenkten kleine Artikel, die sie das Jahr über nicht hatten verkaufen können. Ich gehörte zu den vielen Herumstreunern, die nicht recht wussten, was sie hier zu suchen hatten. Viele Streuner langweilten sich, andere verbrachten hier ihre Mittagspause, wieder andere ließen sich von dem Getümmel ein wenig abschrecken, um mit einem guten Grund an ihre Schreibtische oder Computer zurückzukehren.

Ich wähnte mich damals auch als Streuner, denn ein Hessentag gleicht eben einem (zu) groß geratenen Straßenfest. Ich hatte keine bestimmten Anlaufstellen, kannte niemanden in diesem Provinznest südlich von Frankfurt und habe auch deswegen keine Erinnerung mehr an bestimmte Verkaufs- oder Präsentationsstände. Damals suchte ich auch noch nicht das Gespräch, und was sollte ich eigentlich speziell auf einem Hessentag zu suchen haben??  Ein Flaneur war ich abseits der Großstadt auch nicht – diese Rolle füllt man ja nur aus, folgt man bestimmten Schriftstellern seit etwa 150 Jahren, wenn auch ein künstlerischer (Selbst-)Anspruch gegeben ist.

Der Erzähler beobachtet bei Genazino genau seine Umwelt, auch wenn er sich dabei nicht wohlfühlt: „Mein Überdruss machte mich ratlos und flößte mir ein wenig Angst ein.“ Das kann auch mit seiner Biografie in Verbindung stehen: „Ich war schon dreimal gescheitert, verteilt auf elf Jahre,
einmal als Bibliothekar, dann als Wertpapierhändler und zum Schluss als Provinzredakteur.“ Im Erzählton schwingt somit das Scheitern mit hinein, und es liegt nahe, auch Bewegungsmuster im Zusammenhang mit einer gewissen Ziellosigkeit als „Herumstreunen“ zu interpretieren. Beim Flaneur ist das Ziel- und Richtungslose Prinzip und Ideal, während der Streuner eigentlich kein Ideal kennt. Oder doch?

Was für ein Zufall, dass ich diesen Monat Paul Austers Roman Timbuktu gelesen habe, der einfühlsam die Mensch/(Haus-)Tier-Beziehung auf unnachahmliche Weise poetisiert hat. Zunächst werden allgemein „Streuner“ in Zusammenhang mit gejagten Hunden vor China-Restaurants in Baltimore erwähnt, später dann spezifischer in der Beschreibung des Hunde-Herrchens Willy G. Christmas, ganz nach dem Geschmack des Vierbeiners Mr. Bones:

Sein Herrchen war ein Mensch mit dem Herzen eines Hundes. Er war ein Streuner, ein rauhbeiniger Glücksritter, ein einzigartiger Zweibeiner, der sich die Regeln nach Belieben zurechtbog.

In diesem Verhalten gleicht sich der Mensch dem Säugetier an, denn Streunen scheint anders als das Flanieren nicht von einem kulturphilosophischen Überbau gekennzeichnet zu sein: Der Flaneur ist durch und durch Kulturmensch – er schweift eher durch die Stadt – während der Streuner erst einmal seinen Sinnen folgt, was ein Hund ebenso beherzigt. Das Aufspüren wird zum Leitgedanken.

Bei aller Melancholie ist bei Wilhelm Genazino indirekt doch auch Hauch Lebenskunst spürbar, die das Scheitern nicht ausblenden kann. Der Erzähler sucht mit dessen Ex-Ehefrau Sibylle weniger das Trennende als das Verbindende in Beziehungsfragen, sonst würden sich beide nicht wieder freundschaftlich begegnen und versuchen, sich erneut anzunähern. Das Streunen, oder intensiver ausgedrückt, das Herumstreunen, enthält ja auch das Lexem „Streu“ und führt letztlich zur Zerstreuung. Kein Wunder, dass der Erzähler sich Gedanken zu einem Divertimento von W. A. Mozart macht. Solche Musikstücke dienen doch gerade der niveauvollen Zerstreuung, mehr als der bloßen Unterhaltung!

Die Genazino-Zitate sind in der Hanser-Ausgabe (inklusive Leseprobe) in der Reihenfolge ihres Erscheinens auf den Seiten 7, 10 und 15 zu finden, die Auster-Zitate sind auf den Seiten 9 und 34 zu finden (Rowohlt-Ausgabe). Ich bin Kerstin Pistorius darüber dankbar, dass sie in ihrem Blog atalantes bereits sehr originell auf das Herumstreunern bei Genazino eingegangen ist und dabei auch das schöne Wort „Zerstreuung“ verwendete. Eine weitere Online-Rezension zu Genazinos Roman von Peter Mohr findet sich im Online-Magazin titel kulturmagazin.

Bild-Kontemplation: Über einen gläsernen Guten Hirten in Berlin

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Verkehrsumtost steht die evangelische Kirche Zum Guten Hirten am Rande der Bundesallee, einer der größten Nord-Süd-Ausfallschneisen Berlins auf dem Friedrich-Wilhelm Platz im Stadtteil Friedenau. Auch die direkt unterhalb der Kirche verlaufene Trasse der U9 ist mit ihren Erschütterungen wahrnehmbar. Die Kirche bietet gerade hier einen Rückzugsraum vom harten Alltag der Großstadt. An einem Sonntag ist die Kirche als Andachtsraum für das ganze Areal ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Im Advent 2022 fokussierte sich mein Blick während eines bunten Kindergottesdienstes auf das Glasmosaik, das unverkennbar einen Guten Hirten abbildet. Es grenzt sich von den üblichen Darstellungen ab, da ein Mosaik das Licht in vielen Farben wunderschön bricht und in der Form oberhalb des Altars ungewöhnlich ist. Auch das Antlitz des Guten Hirten hat etwas Entrücktes und zugleich etwas Nahbares an sich.  Die vier weiblich anmutenden Antlitze, die wie Himmelsrichtungen rund um den Hirten angeordnet sind, repräsentieren wahrscheinlich die Missionsschwestern, die im „Auftrag“ des Guten Hirten tätig waren. Der Kontext, der unter anderem auf die weltweit wirkende Gossner-Mission verweist, wurde hier verewigt.  Offensichtlich wurde, wenn man biografische Angaben berücksichtigt, die Künstlerin Eva-Maria Lokies zusammen mit ihrem Vater Hans vom Glaubenszeugnis indischer Christen derart geprägt, dass der abgebildete Hirte von dieser Erfahrung künden soll. Hans Lokies war lange Zeit „Direktor und Inspektor“ der Gossner Mission, die vor knapp 200 Jahren in Berlin von Pfarrer Johannes Evangelist Gossner gegründet wurde. Er war auch auf dem indischen Subkontinent präsent.

Rosette_Berlin_Friedenau
Glasmosaik nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies in der Evangelischen Kirche „Zum Guten Hirten“ in Berlin-Friedenau

Die Glasrosette wäre genauso wie die Missionsarbeit ohne die Heilige Schrift so nicht denkbar gewesen. Kirchen- und Kunstgeschichte beziehen sich seit jeher auf theologische Auslegungen, worin das Gehörte bzw. Gelesene in unterschiedlichen Materialien verewigt wird. Wer auch das einfallende Licht berücksichtigen wollte, konnte mit einer Glasmalerei besondere Effekte erlangen. Glas ist ein schwer herzustellender und zu verarbeitender Werkstoff, so dass bis in die Zeit der Hochindustrialisierung nur wenige Künstler in der Lage waren, damit zu arbeiten. Chor- und Altargestaltung bieten sich dafür verständlicherweise besonders an, um das Geheimnis des Glaubens an diesen Orten noch stärker hervortreten zu lassen.

Der Hirte ist ein oft verwendetes Motiv in der Bibel. Besonders eindrücklich wird es im Psalm 23, dem Hirtenpsalm mit dem bekannten ersten Vers „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.“, im Buch Ezechiel und im Johannes-Evangelium dargestellt. Gott, der Herr, ist im Alten Testament von den Hirten seiner „Schafe“ tief enttäuscht. Die Herde, das Volk Israel, hat bekanntlich harte Zeiten durchlebt, bevor es nach den Worten des Propheten Ezechiel vom Herrn gerettet wird:

Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollten nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein. (…) Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben. 

EZECHIEl 34, Verse 10-12

Jesus erweitert den Aspekt der Rettung vor Gefahren, wenn er im Johannes-Evangelium zusätzlich sein Wirken in der Analogie der Tür konkretisiert :

Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (…) Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. 

JOHANNES 10, Verse 7-9, 11

Die zweiteilige Rolle als Tür und als Hirte könnte so interpretiert werden, als dass der Sohn Gottes den Zugang zum Himmelreich ermöglicht und gleichzeitig sich für seine Nachkommenschaft hingibt.

Eva-Maria Lokies konnte sich auf einen hervoragenden Produzenten verlassen, ohne den eine solches groß angelegtes Werk kaum möglich gewesen wäre: Die Berliner Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Treptow hatte die Rosette im Jahr 1949 hergestellt und geliefert, nachdem Kriegseinwirkungen die Originalausstattung zerstört hatten. Sie ist mitsamt dem repräsentativen Firmensitz seit Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre von der Bildfläche verschwunden. Mehr als 150 Jahre, etwa von 1890 an, vor allem dank des Engagements des Kaufmanns August Wagner und des Ingenieurs Friedrich Puhl, hatte die Firma durch die wechselvollen Zeiten hindurch eine Monopolstellung für sämtliche Aufträge im Bereich Glasmosaikkunst inne. Mehr Weltruhm konnte man in diesem Metier kaum erlangen. Vor der Gründung der Firma waren Auftraggeber auf italienische Glasmosaik- und Glasmalerei-Werkstätten angewiesen gewesen.

Am Ostermontag 2023 sahen wir in der Dorfkirche Marzahn weitere Glasmosaiken von Eva-Maria Lokies: die vier Evangelisten und der gekreuzigte Christus sind ebenfalls unverwechselbar, nicht nur aufgrund der Farbwirkung.

Dorfkirche Alt-Marzahn: Glasfenster
Der Evangelist Markus: Glasfenster von Katharina Peschel nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies, Dorfkirche Marzahn, 1949/50

Lokies’ Werk, vor dem Bau der Berliner Mauer fertiggestellt und installiert, hat die Zeit der Teilung überlebt und strahlt nun jeden Tag in der wiedervereinigten Stadt, je nach Wetter und Sonnenstand. Eine wiederholte Betrachtung lohnt sich daher zu jeder Witterung.

Vielen Dank an Pfarrer Peter Martins für die Bereitstellung von Informationsmaterialien zur Rosette in Berlin-Friedenau.

Grauzone – Über „Graue Bienen“ von Andrej Kurkow

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Wer von Grauzonen spricht, hat oft nur eine unzureichende oder gar keine Vorstellung davon, welche Zone gemeint ist. Meist handelt es sich um keine geografischen Zonen. Der auf russisch schreibende, in Kiew aufgewachsene Schriftsteller Andrej Kurkow hat in seinem 2018 erschienenen Roman Graue Bienen (die deutsche Übersetzung folgte 2019) die Konfliktregion Donbass in der Ostukraine im Blick, die von 2014 bis 2022, also vor der Zeitenwende, trotz der immer wieder auflodernden Kampfhandlungen nur gelegentlich in den Nachrichten auftauchte. Die Hauptfigur Sergejitsch ist Einwohner der fiktiven Ortschaft Malaja Starogradowka als Bienenzüchter und auch Einwohner der „grauen Zone“, die politisches und militärisches Niemandsland bezeichnet, denn „Grau ist die Farbe des Übergangs und der Schattierung zwischen den Polen.“ 

In dieser Logik erfordern militärische Auseinandersetzungen zweier Kriegsparteien als „Pole“, die sich durch keine klare Offensive auszeichnen, ein schattiertes Gebiet, das quasi als Pufferzone für beide Kriegsparteien dient:

Die graue Zone überfiel niemanden! Deshalb war sie ja auch grau, weil sich nichts in ihr ereignete und sich fast niemand in ihr befand. Und da gingen nun beide Horizonte mit Waffengewalt gegen die graue Zone vor. Obwohl beiden die graue Zone völlig egal war, sie wollten durch sie hindurch den anderen treffen. Wenn die einen wie die anderen fortgingen, dann würde die graue Zone wieder zum Mutterland!

Sergejitsch  verlässt seine Heimat in Richtung Zentralukraine nur, um seine durch näherkommende Geschosse verschreckten Bienen in Freiheit ausfliegen zu lassen, damit sie endlich ihrer Arbeit nachgehen können. Er ist nach seiner Ansicht „nicht nur Herr des Bienenstandes, sondern auch gleichsam Vertreter der gesetzlichen Interessen der Bienen“. Auch wenn das Honigsammeln nicht explizit als gesetzlich verankertes (Tier-)Recht angesehen werden würde, so sind seit den 1990er Jahren EU-Tierschutzvorschriften in Kraft, in denen fünf Freiheiten für Tiere formuliert sind, unter anderem auch die „Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens“. In diesem Sinne ist die „Road Novel“, um einen Ausdruck von Sigrid Löffler auf Deutschlandfunkkultur aufzunehmen, ein Versuch, den für den Tiernutzen und damit auch für den Nutzen des Menschen wichtigen Aspekt der Freiheitssuche konkret darzustellen.  Wenn man bedenkt, dass Bienen für ein Glas Honig „rund 40000 mal ausfliegen und dabei 4 bis 7 Millionen Blüten besuchen“ müssen, wie man in Ralph Dutlis Kulturgeschichte der Bienen mit dem schönen Titel Das Lied vom Honig nachlesen kann, dann  ist der Begriff der Freiheit eng mit stofflichem Ertrag verknüpft.

Sergejitschs Reise führt in das Mutterland, wo keine Kriegshandlungen stattfinden. Im realen Dorf Wessele (ein buchstäblich fröhlicher Ort) kommt er auch näher mit einer Händlerin namens Galja in Kontakt und kann Honig zu Geld machen. Der soziale Friede ist auch dort brüchig, ein „traumatisierter Kriegsheimkehrer“ beschädigt sein Hab und Gut, unter anderem seine Bienenstöcke, die auch für den Imker als Bettstatt dienen. So beschließt Sergejitsch, Achtem, einen krimtatarischen Bienenzüchter-Freund  auf der schon damals russisch besetzten Krim-Halbinsel aufzusuchen.

Bei der Einreise auf die Halbinsel werden die Bienen an der Grenze einer gründlichen Inspektion unterzogen, während Journalisten genau den Ankommenden mit seinem beschädigten Besitz filmen und ihm „Blicke zuwarfen, in denen weder Interesse noch Mitleid lag“. Der Verdacht liegt nahe, dass sie mit dem Bildmaterial im wahrsten Sinne des Wortes eine prorussische Geschichte drehen.

Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass Achtem verschwunden ist.  Seine Familie, die keinen Minderheitenschutz genießt, weist Sergejitsch den Weg zu den verwaisten Bienenstöcken. Die angestellten Recherchen verheißen nichts Gutes; es gibt keine Hoffnung, dass Achtem noch am Leben ist. Nach dessen Begräbnis wird Achtems Sohn Bekir aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Sergejitsch wird zudem beim Honigschleudern vom Geheimdienst FSB mitten in der Natur aufgespürt. Ihm wird ein Bienenstock abgenommen, um eine „veterinärbehördliche Grenzkontrolle“ nachzuholen, da es möglich sei, dass Krankheiten von den Tieren übertragen werden. Auch wenn die Kontrolle ohne Beanstandungen verläuft, hat sich etwas bei den untersuchten Bienen verändert. Sie zeigen ein merkwürdiges Verhalten: Nur mit einer „Schwarmkiste mit Deckel“ und dem Beschweren der Flügel mit Hilfe von zerstäubtem Wasser kann Sergejitsch sie wieder einfangen. Die Zeit für die Rückkehr in die Ukraine ist gekommen: Er nimmt in seinem ramponierten Auto Achtems Tochter Ajsche mit an die russisch-ukrainische Grenze, von wo sie sich auf den Weg zu seiner Ex-Frau Witalina nach Winnyzja machen soll, um dort ein Studium aufzunehmen.

Auf der Reise wird Sergejitsch von Träumen geplagt, in denen seine Bienen sich „wie Aufklärer des Militärs“ verhielten und „grau waren, weil sie einen Tarnanzug trugen, vielleicht auch nur einen Regenumhang, auf jeden Fall etwas Militärisches“. Auch nach dem Aufwachen „wirkten sie grau auf ihn!“ Das Unheil scheint sich auf die Bienen übertragen zu haben.  Der Roman endet folglich tragisch damit, dass der „Herr des Bienenstandes“ sich seiner in einem der nicht kontrollierten Bienenstöcke überraschend wiederentdeckten Handgranate, die er vor seiner großen Reise daheim von einem Soldaten geschenkt bekommen und nachts im trunkenen Zustand in der Nähe seiner Bienen versteckt hatte, entledigen möchte, um nicht wegen Waffenbesitz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anstatt sie einfach explodieren zu lassen, nimmt er mutwillig in Kauf, den merkwürdigen, kontrollierten Bienenstock zu zerstören. Nur wenige „graue“ Bienen scheinen danach überlebt zu haben.

So handelt auch Sergewitsch schließlich irrational. Die Angst vor einer Manipulation der Bienen führt ihn zu dieser Tat, bevor er wieder zu Hause eintrifft. Das Graue steht hier für etwas Diffuses, das eher Schaden als Nutzen anrichtet. Der Alptraum hat auch Konsequenzen auf die erzählte Wirklichkeit: Die eigenen grauen Nutztiere genießen keinen Schutz vor Gewalteinwirkung mehr.

Ralph Dutli schreibt: „Es gibt eine Nachtseite des Bienenwesens, Geschichten um Tod und Vernichtung“. Diesem Gedanken folgt der Roman, da er ja auch Ein- und Auswirkungen des damals schwelenden Krieges in der Ostukraine mit dem Schicksal von Tieren verknüpft. Diese Nachtseite ist bei Andrej Kurkow auch dem Verhalten von Menschen eigen, selbst vom harmlosen Bienenzüchter und Frührentner Sergej Sergejitsch.

Der Roman lässt sich bei Diogenes bestellen (auch als E-Book). Das lange Zitat steht auf Seite 164. Die übrigen Zitate sind den Seiten 228, 262, 276, 372, 412, 429 und 441 entnommen (in der Reihenfolge ihres Auftretens im Roman). Die beiden Zitate in Ralph Dutlis Kulturgeschichte stehen auf den Seiten 18 und 133.

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