„Kaum einer seiner Tage vergeht ohne Premiere, mondänes Frühstück, Vernissage oder Souper.“ Was denkt der Leser einer Biografie über solch einen Satz? Da muss jemand ganz schön abgefahren sein. In der Tat: Der Historiker Peter Grupp schreibt schonungslos über den Intellektuellen Harry Graf Kessler. Über einen Mann, der wie kaum ein anderer die Widersprüche der deutschen Geschichte zwischen 1870 und 1940 in sich vereint. Wenn man über ihn liest, wird man verstehen, dass selbst die ambitioniertesten Menschen mit außergewöhnlich hoher Bildung und kosmopolitischer Weitsicht mehrfach scheitern können, und zwar gewaltig. Ein Biograf hat nun mal die Aufgabe, auch über die Schattenseiten zu schreiben, nicht nur über Glanzlichter eines Lebens. Das tut mitunter weh, gerade wenn man an (künstlerische) Lebensläufe denkt, die glänzend darstellen (müssen).
Harry Graf Kesslers Tagebücher, die sich über fast einen Zeitraum von sechs Jahrzehnten abdecken, fielen mir schon bei meinem Großvater auf; dann las ich einige Bemerkungen über ihn in Julien Greens Tagebüchern; schließlich begegneten mir sie erneut in einer Weimarer Villa von Henry van de Velde, die noch nicht allzu lange für die Öffentlichkeit zugänglich ist (Haus Hohe Pappeln). Stets war ich angetan von Kesslers Kunst der Beobachtung. Und doch lehrt einem die Biografie: Intrigen, Beleidigungen und Spott waren Kessler nicht fremd. Er trat gerne nach, obwohl er lange ein Netz-Werk (14000 Kontakte an 4000 Orten sind belegt!) pflegte, um das ihn viele noch heute beneiden würden; er schacherte nach Posten, die er überhaupt nicht brauchte. Doch: Sein Machtinstinkt verlangte danach. Im Sinne einer Meinungsführerschaft, weniger einer politischen Führung. Oft hatte bei ihm das Ästhetische, zum Beispiel sein prestigeträchtiger Verlag Cranach-Presse, Vorrang vor dem Politischen. Das eine hatte mit dem anderen bei Kessler wenig zu tun: Seine Druckkunst war einer winzigen Elite vorbehalten. Leider gingen im 2. Weltkrieg viele wertvolle Materialien aus der Potsdamer Werkstatt verloren.
Es ist schwer zu verstehen, warum ein finanziell abgesicherter Mensch wie Kessler Kopf und Kragen riskierte und seinem Ruf schweren Schaden zufügte. Lag es am allzu hohen Ehrgeiz, der durch das häufige Scheitern eher noch angetrieben wurde? Eine Biografie holt eben noch mehr hervor, als der dargestellten Person lieb gewesen wäre. Zum Glück nicht so viel, dass der Glanz-Lack ab wäre. Kein Autor kann rütteln am „Amalgam aus Weltfülle und Zeitdiagnose, das Kesslers Journal zu einem einzigartigen Kaleidoskop macht für seine Epoche der Umbrüche und Paradoxien“, wie Oliver Pfohlmann im Deutschlandfunk meint und den Tagebuchschreiber nicht gerade charmant, doch anerkennend als „Treibhausgewächs“ und als „Videokamera auf zwei Beinen“ beschreibt (siehe Link). Ab dem 20.04.2019 wird nun das gesamte neunbändige Tagebuch im Klett-Cotta-Verlag erhältlich sein. Die wenigsten werden es kaufen, selbst wenn es irgendwann antiquarisch für weniger als 473 Euro (Neupreis) zu haben sein wird. Angeblich arbeitet das Marbacher Literaturarchiv an einer Online-Edition. Ein lohnenswertes Unterfangen, denn klar ist: Harry Graf Kessler gewährte mit seinen Tagebüchern schonungslose Einblicke in die „High Society“, deren Fragwürdigkeit wohl über alle Gesellschaftsformen hinweg zeitlos bleiben wird.
Zum Nachlesen:
Peter Grupp: Harry Graf Kessler. 1868-1937. Eine Biografie. C.H.Beck 1995 (später im Insel-Verlag nachgedruckt). Eine damalige kurze Rezension findet sich im Spiegel-Archiv.
Hier geht es zur Tagebuch-Edition von Klett-Cotta.
Aktuelle und äußerst kurzweilige Informationen über Harry Graf Kessler liefert der Deutschlandfunk in der Sendung Büchermarkt vom 20.01.2019.
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