Als bis etwa Mitte 2020 An- und Durchsagen auf deutschen Bahnsteigen recht blechern klangen, lag dies an einer schwer erträglichen Computerstimme. Diese hat endlich ausgedient. Nun hat die Stimme des Profi-Sprechers Heiko Grauel das Zepter übernommen; womöglich werden Bahnreisende seine Stimme Jahrzehnte lang hören.

In Österreich hat die Moderatorin, Autorin und ehemalige Fernsehansagerin Chris Lohner die Stimm-Rechte für die ÖBB inne. Mit einer mehrjährigen Unterbrechung durch eine Computerstimme, die scherzhaft „Petra aus Cottbus“ genannt wurde, hört man sie schon seit Ende der 1970er Jahre an den Bahnsteigen und in den Zügen. Und laut ÖBB ist Lohners Vertrag auf Lebenszeit geschlossen. Wie Lohner auf „köstliche Erfrischungen “ im OBB-Bordrestaurant hinweist, ist allein von der Stimmführung köstlich und erfrischend zugleich!

Nun habe ich also die digital aufgezeichnete dialektfreie Stimme des Hanauers Grauel, der natürlich Hessisch beherrscht, gegenüber der österreichisch gefärbten Chris Lohner im Ohr. Zum Glück ist die Stimmführung jeweils natürlich, so dass ich mich einfach wohler auf Bahnsteigen fühle als früher. Und doch kommt mir die Profi-Stimme von Grauel, der sich in einem Casting vor Hunderten Mitbewerbern durchsetzen konnte, gegenüber Lohners Stimme merkwürdig unauffällig vor. Woran liegt das? Mir scheint es, als ob Grauel die Sprecher-Rolle übernimmt, während Lohner sich wie eine Ansagerin anhört. Ihre Stimmführung kommt insgesamter mir charmanter und nuancierter vor, wohl auch deswegen, weil ihr Deutsch österreichisch gefärbt ist.

Ein weltweiter Zusammenschnitt von Bahnhofsdurchsagen würde eine enorme Vielfalt an den Tag bringen: Welten liegen (zumindest bis Ender der 2010er Jahre) beispielsweise zwischen den französischsprachigen und den slowakischen Durchsagen, die mir beide recht vertraut sind. Die eine ist extrem poetisch-klangvoll, die andere hart-herrschaftlich. Das liegt sicher nicht an den Sprachen oder am Geschlecht, sondern an der Intonation der beiden Sprecherinnen. Ich bin froh, dass man keine Einheits-Stimme für ganz Europa wird suchen wollen.

Es ist eine Herausforderung, Stimmen natürlich „herzustellen“. Die Digitalisierung macht es möglich, aus einem mit Sprachbausteinen gefüllten Setzkasten unendlich viele Wörter schöpfen zu können. Doch erst mit einem Schöpfer bzw. einer Schöpferin dieser Bausteine kann dies optimal realisiert werden. Der Mensch steht hier ganz klar vor der vervielfältigenden Technik.

Durchsagen an Bahnhöfen werden nicht aussterben, anders als Ansagen im Fernsehen, die seit den frühen 2000er Jahren nicht mehr zum Programm gehören. Die Dosis ist entscheidend: Keinem Fahrgast bringt es etwas, wenn eine im wahrsten Sinne des Wortes gut abgestimmte Geräuschkulisse zu einer Dauerbeschallung wird. Mag man noch sehr vertraut mit dem Smartphone sich durch die reale Welt navigieren, wäre eine Totenstille an Bahnhöfen auch nicht erwünscht. Es macht einen Unterschied, ob man akustisch darauf hingewiesen wird, dass ein Zug einfährt, gerade wenn es noch zu einem spontanen Gleiswechsel kommt. Nicht jede Information ist digital sofort verfügbar, so dass irgendwie nachgeholfen werden muss.

Ein akustisches Flair braucht ein Bahnhof, nicht nur ein visuelles. Der Begriff Sound-Design zeigt schon an, dass der Zufall kein guter Kooperationspartner ist. Eine Marke besticht häufig auch durch eine unsichtbare Kompetente. Heiko Grauel und Chris Lohner werden in den 2020er Jahren zu einem gewissen Bahn-Image beitragen. Je weniger Verspätungen und Zugausfälle es geben wird, desto angenehmer wird man die Durchsagen empfinden, unabhängig von der Stimmqualität.  Freuen wir uns auf neue stimmige, vor allem auch über live von einer bestimmten Leitstelle produzierte Beiträge, für die es einfach keine Standards geben kann und die nicht auf der Strecke bleiben sollen.

Repräsentative Stimmproben und ein Kurzporträt von Heiko Grauel geben einen näheren Eindruck. Demgegenüber lohnt sich die Lektüre eines Die-Presse-Artikels zu Chris Lohner und ihrer Stimm-Leistung für die ÖBB (inkl. Hörprobe im Vergleich zu „Petra aus Cottbus“) . Zuletzt gibt es Hinweise zum Ende 2020 eingeführten neuen ÖBB-Gong, der ja auch zu den Durchsagen gehört.