Auf der Rückfahrt von einem sonnigen Winterspaziergang im Erzgebirge hörte ich im Autoradio das Lied Regenwahrscheinlichkeit 100% von Michel van Dyke, der schon fast 40 Jahre im Musikgeschäft tätig ist. Als Teenager kam er aus den Niederlanden nach Deutschland, wo er sich dann auch niederließ. Von ihm hatte ich noch etwas gehörteindeutig ein Versäumnis.  Sein Album Bossa Nova, bereits 2005 veröffentlicht, verrät das Genre dieses Liedes, das vom Text her nicht besonders leicht verständlich ist:

„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen muss“ als letzte Liedzeile bleibt neben dem Titel im Kopf. Die Melancholie des Liedes kann nur eine alles andere als romantische Stimmung widerspiegeln: „seltsam vertraut“, „irgendwie diffus“ sind Zuschreibungen, die eindeutig Ambivalenz ausdrücken.  Nähe und Distanz halten sich die Waage.  Immerhin hat die Liebesbeziehung, von der die Rede ist, eine tiefe Krise überstanden. Ob sie ein gutes Ende nehmen wird, bleibt natürlich offen. Die 100% drücken definitiv eine gewisse Sicherheit aus, was die Prognose anbetrifft. Mit anderen Worten: Vollkommen uneindeutig ist die Stimmung nicht.

Das vom Grafikdesigner mit dem Künstlernamen geboren thielsch gestaltete Album (ab den späten 90er Jahren bekannt unter dem Namen Walter Welke; davor unter Walter Thielsch) kann man jedenfalls ironisch betrachten, da auf dem Cover nichts auf Regenwahrscheinlichkeit hinweist. Auch hier halten sich das Artifizielle und das Natürliche die Waage: Das Motiv zog mich sofort in den Bann, auch weil das auf den ersten Blick außergewöhnliche Landschaftsmotiv, das ein bürgerlich eingerichtetes Wohnzimmer als Ausblick zu bieten hat, als starker Kontrast zum Interieur wirkt.  

Michel van Dyke: Bossa Nova
Albumcover von “Bossa Nova”, gestaltet von geboren thielsch; Interpret: Michel van Dyke

Es wird explizit auf der Internetseite des 2011 verstorbenen Grafikers auf den „Sound  der Sechziger“ verwiesen, der kreativ neu aufgesetzt wird. Man hat den Eindruck, dass hier ein digitales Hörerlebnis nicht ausreicht, sondern die Hardware, also das Album als Produkt zum besseren Einhören einfach dazugehört.  Ganz ohne (mentale) Bilder kommt diese feinfühlige Musik jedenfalls nicht aus.

Bei Bossa Nova als seit den 1960er Jahren verbreitetem brasilianischen Tanz, gekoppelt mit einem deutschsprachigen Text, empfiehlt sich ein genaueres Zuhören. Der 4/4 Takt (oder handelt es sich um eine andere Taktart?) wirkt schleppend, dazu dieser sperrige Titel, den man ansonsten nur von Wettervorhersagen kennt, mit der Betonung auf den Silben „re“, „schein“, „Hun“ und „zent“.

Zum Vergleich hat die mit Jan Josef Liefers liierte Schauspielerin und Sängerin Anna Loos 2023 einen Disko-Fox-Song mit dem Titel Regenwahrscheinlichkeit in ihrem Album Das Leben ist schön veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Loos van Dykes Song kennt, da dieser mit ihrem Ehemann zusammengearbeitet hat. Der Song ist recht konventionell komponiert, wobei der Inhalt ebenfalls auf den dunklen Kontext der Liebesbeziehung abzielt, dessen Botschaft im Refrain recht klar ist:

Wir haben uns verlaufen / Sind nass bis auf die Haut / An all den dunklen Tagen / Wächst die Regenwahrscheinlichkeit.

Selbst wenn dunkle Wolken aufziehen/ und uns das Wasser bis zum Hals steht / Dann soll es so sein /Es geht schon wieder vorbei / mit der Regenwahrscheinlichkeit.

Die erlebte und gefühlte Distanz zueinander soll überwunden und schließlich die „Wolkenwand“ durchbrochen werden. Die letzte Refrainzeile kann mich jedoch nicht überzeugen: Warum und wie sollte eine Regenwahrscheinlichkeit vorbei gehen? Wie kann ein Phänomen auf 0% gedrückt werden?

Allgemein freut es mich, dass Regenwahrscheinlichkeit als Begriff im Zeitalter von häufig abgerufenen Wetterradardaten Hitpotenzial hat. Oft ist auch die Wetterküche unvorhersehbar; und Regen kann nicht per se als negativ interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne in naher Zukunft wieder scheinen wird, liegt jedenfalls auch bei 100%.

Übrigens lohnt sich auch der Song Neu in dieser Stadt aus van Dykes Album. Hier wird mit einem eingängig komponierten Soundteppich die Melancholie auch ohne Präsenz des Textes vergegenwärtigt. Das Album ist in geringen Stückzahlen gebraucht auf verschiedenen Plattformen erhältlich, z.B. auf rebuy.