Am Abend des 15.01.23, im ruhig dahingleitenden ICE von Berlin nach Leipzig, begann ich den Lektüre-Endspurt von Christian Krachts vor gut zehn Jahren erschienenem Roman Imperium. Auf der anderen Seite des Gangs saßen zwei junge Damen, deren schweres Gepäck unter anderem ein Kamerastativ umfasste. Viel imponierender für mich waren bloße zwei Wörter, die ich aufschnappte, als kurz die Rede von einem Freund war, der sich auf Martinique in einer „Kajüte“ in der Nähe eines „Vulkans“ aufhalte. Mehr konnte und wollte ich nicht in Erfahrung bringen; mir reichten diese Wortschnipsel für meine Lektüre, die sogleich surreal wirkte, denn in jenem gerade begonnenen elften Kapitel ist tatsächlich die Rede von einem „rauchenden Kegel des Vulkans“ und von einer „Kapitänskajüte“. In Leipzig Hauptbahnhof zeigte ich den kurz als Beleg für diese unglaubliche Koinzidenz das Buchcover vor, bevor ich mich schnellen Schrittes vom Bahnsteig entfernte. Ich bereue fast, dass ich nicht eins, zwei Minuten länger die eine oder andere Frage zum Südsee-Abenteuer stellte, doch ein S-Bahn-Anschluss wollte und sollte erreicht werden.

Nun, Imperium ist umfangreich rezensiert worden – eine weitere Besprechung wäre hier unangebracht. Was mich erstaunte, ist die Tatsache, dass ich den Roman zunächst ohne Quellenrecherche gelesen habe und ich bis Schluss dachte, die geschilderten Sachverhalte seien von Christian Kracht erfunden worden. So ließ ich mich durch einen fiktionalen Text unbewusst auf historisches Verbürgtes ein. Die Biografie von August Engelhardt (1875 – 1919) ist etwa ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts im doppelten Sinne abwegig. Ab 1902 siedelte er auf einer Insel namens Kabakon, die zum heutigen Papua-Neuguinea gehört und noch nicht einmal einen Quadratkilometer groß ist.

Für mich lehrreich ist bei aller Absurdität des Lebensreformskonzepts der Hauptfigur August Engelhardt, der mit seinem allen Ernstes erdachten Kokovorismus elend auf der Südseeinsel Kabakon Schiffbruch erlitt und dort kurz nach Ende des ersten Weltkrieges verstarb, die Kraft der Symbolik. Im Roman wird diese Kraft auf die Spitze getrieben und verpufft, doch ist das Symbol der Kokosnuss im Hinduismus präsent, wie man in einem religionswissenschaftlichen Blog nachlesen kann. Während die Schale das Körperliche beschreibt, steht das Fruchtfleisch für unser Fühlen, Denken und Handeln, „für das Anhaften an der illusorischen Wirklichkeit“.  So lassen sich abstrakte Zusammenhänge in etwas Fassbares transportieren, analog zu einem Granatapfel, dessen Frucht in der jüdisch-christlichen Tradition Fruchtbarkeit symbolisiert.

Der Roman – der Titel spielt darauf an – entlarvt imperiales Gedankengut, in dem Allmachtsphantasien nicht unmittelbar in einen politischen Kontext gestellt werden. Auch auf die heutige Zeit könnte folgende Kostprobe anspielen:

Engelhardt war, nachdem er durch einen Eliminierungsprozess alle anderen Nahrungsmittel für unrein befunden hatte, unvermittelt auf die Frucht der Kokospalme gestoßen. Es gab gar keine andere Möglichkeit; cocos nucifera war, so hatte Engelhardt für sich erkannt, die sprichwörtliche Krone der Schöpfung, sie war die Frucht des Weltenbaumes Yggdrasil. Sie wuchs an höchster Stelle der Palme, der Sonne und dem lichten Herrgott zugewandt; sie schenkte uns Wasser, Milch, Kokosfett und nahrhaftes Fruchtfleisch; sie lieferte, einzigartig in der Natur, dem Menschen das Element Selen, aus ihren Fasern wob man Matten, Dächer und Seile, aus ihrem Stamm baute man Möbel und ganze Häuser; aus ihrem Kern produzierte man Öl, um die Dunkelheit zu vertreiben und die Haut zu salben; selbst die ausgehöhlte, leere Nussschale lieferte noch ein ausgezeichnetes Gefäß, aus dem man Schalen, Löffel, Krüge, ja sogar Knöpfe herstellen konnte; die Verbrennung der leeren Schale war nicht nur jener herkömmlichen Brennholzes bei weitem überlegen, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel, um kraft ihres Rauches Mücken und Fliegen fernzuhalten, kurz, die Kokosnuss war vollkommen. Wer sich ausschließlich von ihr ernährte, würde gottgleich, würde unsterblich werden. August Engelhardts sehnlichster Wunsch, ja seine Bestimmung war es, eine Kolonie der Kokovoren zu erschaffen, als Prophet sah er sich und als Missionar zugleich.

Es fällt nicht schwer, hier die Kokosnuss als universales Produkt angepriesen zu sehen, auf dem kommerzielle Interessen beruhen. Halbwahres  (Stichwort: Selen als nicht nur in Nüssen vorhandenes  Spurenelement)  wird mit pseudoreligiösem Popanz und germanischen Sagenwelten (Stichwort: Yggdrasil) kombiniert und dabei Exklusivität als Heilsbringer mit Hilfe von konsumistischer Werbesprache ad absurdum geführt.  Bitterböse wird hier auch auf zeitgenössische Geschäfts- und Lebenspraktiken – Stichwort ‚Allheilmittel’ geschaut. 

Das Ende von meiner Lektüre-Geschichte ist – die Ironie muss sein – auch mir als Konsumenten anheimgestellt. Am Abend des 02.02.23 griff ich beim Einkaufen ungeplant zu einem Produkt, dass „Kokosblütenzucker“ enthält – und kaufte es. Als ob sich da noch eine Spur von August Engelhardt darin verloren hätte….

Exemplarisch folgen hier die Rezensionen im Politik-Magazin Cicero, in der (leider 2020 eingestellte) Zeitschrift Der literarische Monat sowie in der Neuen Zürcher Zeitung. Auch ein Blog, der sich zentral mit der der Kokosnuss befasst, besprach den Roman genauso wie das einschlägige Forum literaturkritik.de.  Die handliche Fischer-Taschenbuch-Ausgabe kann u.a. bei Weltbild bestellt werden. Das lange Zitat befindet sich dort auf den Seite 21 und 22.  Einige Fotos und Dokumente aus der Südsee hat Der Spiegel zur Verfügung gestellt.