Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Schlagwort: Kammermusik

Sonne und Garten im Konzertsaal – Gedanken zu zwei Werken von Lili Boulanger

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Gerne wird gesagt, das Internet vergesse nicht. So ganz pauschal lässt sich das nicht bestätigt, wie ich neulich festgestellt habe. Wie gut, dass auf meine Erinnerung weitgehend Verlass ist und die Erinnerungslücken sich in Grenzen halten.

Am 29.09.23 weilte ich im Mendelssohn-Saal des Leipziger Gewandhauses. Das elektronische Ticket habe ich recht leicht noch digital gefunden. Das Konzert unter dem Namen „Europäische Brücken. Paris-Leipzig-Brno“ ist namentlich nicht nur auf diesem Dokument erwähnt, sondern findet sich auch im Internet. Die Hauptakteure waren der Gewandhauschor Leipzig unter der Leitung von Gregor Meyer sowie die Pianistin Kyra Steckeweh, deren Dokumentarfilm Komponistinnen ausgezeichnet wurde. Nur was damals gespielt und gesungen wurde, erfordert eine aufwändige, lästige Recherche. Die sozialen Netzwerke (Facebook, Instagram) geben auch keine weiteren Informationen an die Hand, sicher auch weil diese Veranstaltung schlecht beworben bzw. präsentiert wurde. Mich rettete schließlich das Programmheft, das ich nach meinem Umzug nach Chemnitz vorübergehend aus den Augen verloren und neulich unverhofft wiedergefunden habe.

Aus der Erinnerung weiß ich, dass ein ganz wunderbares Stück für Klavier, Solo-Altstimme und Chor von Lili Boulanger (1893-1918) gegeben wurde, dessen Text vom Schriftsteller August Lacaussade (1817-1897) stammt. Ich konnte mich nicht täuschen, denn die Hymne an die Sonne (Hymne au soleil) aus dem Jahr 1912 hat sich in meinem Gedächtnis fest eingebrannt. Eine Aufnahme mit dem SWR Vokalensemble zeugt von der ungeheuren Kraft dieses Kammermusikwerkes. Wie man vor 100 Jahren es wohl aufgenommen haben mag? Heute habe ich es wieder gehört, und sogleich ein weiteres Klavierstück von ihr angespielt, nämlich D‘un vieux jardin, das sie zwei Jahre später in Rom kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs in der Villa Médicis komponierte. Während das eine Werk eine aufgehende Sonne mit all ihrer Gestaltungskraft zeichnet, ist im Garten-Werk eine Melancholie spürbar, viel stärker als in D’un jardin clair, ebenfalls aus den Trois Morceaux. Ich hatte nicht mehr in Erinnerung, dass ich es an jenem 29.09. auch live gehört hatte. Der Höreindruck der Hymne schien das restliche Programm ebenfalls zu überstrahlen. Auf der Homepage des Carus Verlag steht dazu Folgendes: „In der Hymne au soleil (Hymne an die Sonne) wird in ekstatischen Akkordschichtungen die Sonne bejubelt. Die dabei entstehenden Tonfolgen und die wechselnden Taktarten haben es in sich.“ Zum Vergleich: Im Programmheft ist die Rede von einer „Klangsprache, die in wüsten Akkordschichtungen und ungestümer Polyphonie um sich greift.“ Der Pianist sollte übrigens am zu Anfang eine dritte Hand („troisième main“) hervorzaubern; mit zwei Händen kann er die Akkorde immerhin leicht versetzt (als Arpeggio) spielen, so dass kein zweiter Pianist engagiert werden muss.

Das einen alten Garten (vielleicht an der Villa Medicis) heraufbeschwörende Klavierstück wird von der französischen Pianistin Anne-Lise Gastaldi in Form einer Masterclass detailliert analysiert. Jeder Akkord stellt ein Hörabenteuer dar, auch weil die Harmonik zwischen Dur und Moll oszilliert. Dass neben der Melancholie auch an die Nostalgie gedacht wird, die in Marcel Prousts Romanuniversum Auf der Suche nach der verlorenen Zeit prominent literarisch verarbeitet wird, zeigt, wie sehr auch hier eine Textwelt hervorscheint:

D’un vieux jardin est une pièce proustienne par sa nostalgie, sa douceur, son rapport au temps et elle évoque un lieu (…) si plein de secrets et d’histoires enfouies dans la délicatesse de sa taille humaine.

Der Schwermut wird gerade durch die Schönheit des Erinnerten und des Sichtbaren beflügelt. Wer tatsächlich in einem alten Garten lustwandelt, sollte sich dieses Stück ans Ohr halten und dann in Stille verweilen. Ich werde es diesen Sommer einmal ausprobieren; sodann werden wieder andere Gedanken aufscheinen!

Das ganze Werk von Lili Boulanger für Klavier solo dauert nur 20 Minuten! Es wurde von Duco Burgers eingespielt. D’un vieux jardin ist ab 2‘57‘‘ zu hören. Mit einem anderen Video mit Brian Woods als Pianisten lassen sich die Noten dieses Stück verfolgen.

Angriffslustig: Zu einem höchst kurzweiligen Klaviertrio

Ich musste mir einen Ruck geben, von Zwickau zu einem Kammerkonzert nach Bayreuth zu fahren. Auch wenn dies dank der guten Autobahnverbindung  in ca. 75 Minuten zu bewältigen ist, so klingt es merkwürdig, für einen Konzertabend von Westsachsen nach Oberfranken den Weg auf sich zu nehmen. Bis in die 1990er Jahre, also bis zur Fertigstellung der Elstertalbrücke der A72, muss dieser Weg auch noch nach der Wiedervereinigung zäh gewesen sein – und bis zum heutigen Tag hat man so gut wie keine Chance, angemessen mit der Bahn in den späten Abendstunden diesen Weg zurückzulegen. Die Gefahr des Strandens in Hof ist nicht gerade niedrig. 

Doch weil ich unbedingt einmal den renovierten Veranstaltungsort „Das Zentrum“ wiedersehen wollte, den ich im Festspielsommer 2004 so oft als Praktikant des Festival Junger Künstlers aufsuchte, hatte ich einen Grund mehr, mich nach der Arbeit ins Auto zu setzen. Dass während der Konzertpause von zwei Konzertbesucherinnen abfällig über diesen, etwas spröden Ort gesprochen wurde, konnte und wollte ich nicht hinnehmen, denn ein Jugendkulturzentrum sollte kein prachtvoller Ort sein. Es steht für neuartige Formate zur Verfügung, was das Publikum  auch anzuerkennen wusste:  Das schöne Wort „extravagant“ schnappte ich als Kommentar zum Programm auf. Der Ort schafft letztlich den Rahmen für dieses positive Urteil!    

Mich reizte besonders ein hervorragend zusammengestelltes Konzertprogramm, das als „Trios des femmes“ betitelt war. Die Kulturfreunde Bayreuth luden dazu Ende November 2022 das junge Trio Lilium (Silvia Rozas Ramallai, Flöte; Max Vogler, Oboe; Knut Hanßen, Klavier) ein. Ausschließlich wurden Werke von Komponistinnen aufgeführt, von denen ich zuvor nur Clara Schumann und Lili Boulanger zuordnen konnte. Vor allem reizte mich das zuletzt gespielte Trio der aus London stammenden Madeleine Dring (1923-1977), das anders als die zuvor gespielten Trios von Germaine Tailleferre und Mélanie Hélène Bonis für die Originalbesetzung Flöte, Oboe und Klavier komponiert worden war.

Zu Beginn  des Neuen Jahres könnte keine Spielanweisung besser passen als „with attack, but not too heavily“. Sie steht am Anfang des Trios aus dem bewegten Jahre 1968. Dieses strahlende C-Dur-Harmonie ist zusammen mit dem ausgeklügelten Rhythmus unverwechselbar. Das Notenbild zeigt die vielen Taktwechsel, die mich an einen Schwank erinnern, wobei im Wort ja auch das Schwankende, Wechselhafte steckt. Humor, Witz und Freude lassen sich kaum besser instrumentieren:

Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 1 – 10.
Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 11-22.

Was mich beeindruckt, ist die lebensnahe Charekteristik dieser Musik, die sich auch im schlichten zweiten Satz, der Ohrwurmpotenzial hat, und dem teils anmutigen („gracioso“), teils virtuosen („brillante“) dritten Satz zu hören ist. Sonst hätte auch nicht die Intendanz der Bielefelder Philharmoniker ein kleines (Appetizer-) Video mit dem schönen Titel Der Klang der Stadt gedreht , in dem der erste Satz von Drings Trio vom Trio Tastenwind interpretiert wird, wobei hier die Oboe durch die Klarinette ersetzt wurde.

Im Programmheft, das das Trio Lilium ausdrücklich vor dem Konzert als gut recherchiert lobte, steht zu Madeleine Dring:

Dring strebte danach, in ihren Kompositionen Neuheiten und überraschende Momente zu präsentieren in der Hoffnung, dass ihre Musik einerseits ein klein wenig schockierend wirkte, andererseits aber den Hörer auch zum Schmunzeln brachte.

Der Pianist Knut Hanßen vergaß nicht zu erwähnen, dass Drings Ehemann ein Oboist gewesen ist, was sich sicher förderlich für die Komposition auswirkte. Darüber hinaus steckt in dieser Musik so viel Bühnenreifes, dass es nicht verwundert, wenn ich lese, dass Dring „Musik für Revuen, für Theaterstücke und für Fernsehproduktionen von Bühnenstücken“ schrieb. Mit diesem Schaffen ist es nicht leicht, bekannt zu werden, weil es sicherlich keine großen, opulenten Werke sind. Das ist bei vielen Komponisten nicht anders – nur die wenigsten werden wirklich bekannt.  Umso wichtiger, sich regelmäßig Kompositionen zu widmen, die einem womöglich nur einmal im Leben live begegnen. Dem Trio Lilium bin ich genauso dankbar wie den Kulturfreunden Bayreuth.

Das Konzertprogramm findet sich hier. Die Noten des Trios lassen sich über die Seiten der Pianistin Caecilia Boschman finden. Auf Youtube gibt es eine gute Aufnahme mit Jeanne Baxtresser (Flöte), Joseph Robinson (Oboe), und Pedja Muzijevic (Klavier).

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