Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Schlagwort: Idylle

Am Rande der Republik – Einkehr bei einem Waldimbiss im Vogtland

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Das südliche Vogtland mit den Kurorten Bad Brambach und Bad Elster liegt im südlichsten Winkel Sachsens und damit auch Mitteldeutschlands. Wer es bis dahin geschafft hat, wird Ruhe und womöglich auch Erholung finden, seien es auch nur für wenige Stunden. Der Musikantenradweg ist eine gute Möglichkeit, diese Region mitsamt dem ‚Musikwinkel’, wo bis heute Streichinstrumente höchster Qualität gefertigt werden, zu erkunden.

Meine mit gut 15 km wirklich kurze Radtour im Juni führte von Bad Brambach (von Zwickau / Plauen leicht mit der Vogtlandbahn zu erreichen) über Landwüst, wo sich in Ortsnähe auf dem Wirtsberg ein wunderbarer Aussichtsturm  befindet (mit Blick hinein ins böhmische Becken), bis nach Sohl, einem Ortsteil von Bad Elster. Unweit des Sohler Bahnhofs gibt es einen kleinen Badeteich, wo man sich wunderbar kurz vor der Rückfahrt erfrischen kann.

Die kurze Tour wird mir vor allem dank des Waldimbisses ‚Zum Hammer’l’ im Weiler Hennebach in Erinnerung bleiben. (Leider führt der offizielle Musikantenradweg nicht daran vorbei, so dass ein kurzer Abstecher nötig ist.) Allein die Lage in unmittelbarer Nähe zu Tschechien (buchstäblich ist es ein Katzensprung bis ins Nachbarland) ist mehr als eine Erwähnung wert. Über eine stille einsame Straße (eine Sackgasse für Autofahrer) geht es an diesen wunderbar entrückten, nicht ausgeschilderten Ort. Ohne Online-Kartenstudium hätte ich ihn nicht niemals gefunden.

Man fühlt sich intim wie in einer Gartenkolonie für kurze Zeit aufgenommen, weil die wenigen Tische wie in einem privaten Garten aufgestellt sind. Laut Besitzerin ist ein fast 100-jähriger Stammgast gerade anwesend, der gut in eine familiäre Runde eingebunden scheint. Auf Nachfrage erfahre ich, dass vor der Zeit des Eisernen Vorhangs der Weiler deutlich größer gewesen sei. Die Zahl der heute noch intakten Grundstücke kann man an einer Hand abzählen. Ohne ein längeres Gespräch zu führen genieße ich für eine halbe Stunde einfach nur den Augenblick. Die wenigen angebotenen Speisen und Getränke gibt es anderswo auch, doch nur selten in dieser lauschigen Atmosphäre. Ich bin als Radfahrer mit einem alkoholfreien Bier zufrieden.

Waldimbiss "Zum Hammer'l"
Idylle am Waldimbiss ‚Zum Hammer’l’ im Weiler Hennebach (bei Bad Brambach)

Bevor ich aufbreche, möchte ich noch vor Ort etwas Konkretes hören oder anschauen. Eine Anekdote hat die Wirtin gerade nicht parat, doch ich stoße auf einen schlichten dialektalen Kurztext am Eingang der Gaststube, die wie ein Gartenhäuschen daherkommt:

Perpetuum mobile
Kurztext Perpetuum mobile im vogtländischen Dialekt (unbekannter Verfasser)

Als ich mir diesen Text erneut anschaute, fühlte ich mich bereits in Bayern. Wie kaum eine andere Region in Deutschland ist das Vogtland (mit sächsischen, thüringischen und bayrischen Ortschaften) trotz der Abgeschiedenheit eine sprachlich hybride Region par excellence. Die Schlüsselworte „Raadla“ (Fahrrad), „Benzingöld“ (Benzingeld), „Böia“ (Bier) und „kaafm“ (kaufen) sind noch einfach zu verstehen, doch was ist mit dem „naouchat“ bzw. „naouchet“? Obwohl ich vor Ort nachgefragt habe und ich mir sicher war, dass ich die Auskunft behalten würde, musste ich erneut nachschlagen. Erst nach einiger Zeit wurde ich fündig: Die Fundgrube Bayerns Dialekte Online (BDO) zeigt mir an, dass das Wort  – als Suchbegriff gibt es nur auf ‚nachet’ eine Antwort –  ‚dann’ bzw. ‚danach’ oder ‚nachher’ bedeutet, was in der Logik auch Sinn ergibt. Zusammengefasst ist der Text eine eigenwillige Werbung fürs Radeln: Mit dem durch die Muskelkraft eingesparten Benzingeld lässt sich Bier kaufen, womit man neue Kraft tanken kann, was wiederum zum Radfahren nützlich ist. Und dann ist das „Perpetuum mobile“ komplett. Wenn man komplizierte Begriffe immer so leicht veranschaulichen könnte!

Ich denke an einen nimmermüden Radler, der Bier als Energieträger auf einer Reise durch die Welt konsumiert. Wie weit würde er damit kommen, gerade wenn er die alkoholfreie Variante wählt? Wahrscheinlich ziemlich weit, gerade wenn er sich auf ein gutes Gefährt verlassen kann. An jenem 18.06. komme ich jedoch nicht an meine persönlichen Grenzen. Die geografische Grenzerfahrung hat eindeutig ausgereicht!

Leider ist (Stand: Juni 2023) der Imbiss nur zweimal die Woche (Mittwoch- und Sonntagnachmittag) geöffnet. Auch hier ist deswegen sehr gutes Timing gefragt! Ich habe keine weitere empfehlenswerte Internetseite (einige Seiten lokalisieren den Imbiss sogar in Tschechien!) gefunden, deswegen gebe ich nur die Telefonnummer des Waldimbisses an: 037438 – 21733 (Mitte August 2023 ist der „gewünschte Gesprächspartner nicht erreichbar“.)     

Ansichtssache: Über das Gemälde “Ländliche Idylle” von Volker Böhringer

Ende November 2021 besuchte ich endlich mal wieder das Städel-Museum in Frankfurt am Main.  Die hochkarätige Dauerausstellung wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erweitert. Ein Gemälde fiel mir besonders auf, das im Jahre 2009 erworben wurde: Es ist die Ländliche Idylle (1935) von Volker Böhringer (1912-1961). Bedauerlicherweise ist Böhringer laut dem Städel-Museum „nur noch Spezialisten ein Begriff“ und bekam erst ein Jahr vor seinem Tod eine Einzelausstellung zugesprochen, wie man der Wikipedia entnehmen kann. Insofern lohnt sich ein genauer Blick auf dieses besondere Kunstwerk:

Volker Böhringer: "Ländliche Idylle"
Volker Böhringer: “Ländliche Idylle”, Tempera auf Öl auf Pappe, 1935; Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.

Als ich am 04.01.2022 vom Kloster Engelberg aus eine vergleichbare, leider in Regenwolken gehüllte Landschaftsformation in Churfranken betrachtete, nämlich das Maintal bei Miltenberg, hat sich das Gemälde noch stärker in meiner inneren Anschauung einen Platz verschafft. Die im Bild gezeigte Idylle ist sicher nicht romantisiert, wie es die klassische Idylle vermag, und gerade deswegen ist es für mich so nahbar. Böhringer hat seine Heimat als urbar gemachte Kulturlandschaft – das Neckartal bei Esslingen – auf eine ganz besondere Weise eingefangen. Sie berührt mich wohl deswegen, weil hier keine unberührte Natur  auf mich einwirkt. Das gesamte Hügelland scheint vom Menschen heimgesucht, wobei Heimsuchung hier auf keine Katastrophen hindeutet, sondern auf den Versuch, in klaren Strukturen sich Flächen verfügbar zu machen und nichts dem Lauf der Dinge zu überlassen. Mir fällt hierzu das Stichwort „Landnahme“ ein. Selbst der blühende Boden scheint zweckgebunden, und sei es nur aus dem Grund, sich bewusst an der Schönheit der Blüten in einem definierten Bereich erfreuen zu wollen.

Die für mich sonderbare Verschmelzung zwischen surrealistischem und expressionistischem Stil lässt sich an zwei verschiedenen Blautönen festmachen: Der Himmel erinnert mich mit den rätselhaft geformten Wolken an Salvador Dalís Werk, während die dreieckigen tiefblauen Dachfensterseiten die Formsprache eines Karl Schmidt-Rottluff geradezu zitieren. Der Körperkontakt zwischen der jungen Frau mit nur angedeutetem Profil und dem verfremdet dargestellten (Nutz-) Tier – vermutlich eine Ziege – weist auf ein stillschweigendes Verständnis  im gegenseitigen Umgang hin. Diese dargestellte Harmonie lässt mich in meinem Kopf Bilder weiterer Künstler, insbesondere von Franz Marc und August Macke abrufen.

Aus einem Bruch mit dem Entstehungsjahr im Nenner und dem Buchstaben
„b“ (wahrscheinlich für „Böhringer“) im Zähler die Wurzel ziehen zu wollen ironisiert das seriöse Datieren eines Kunstwerks. Es lässt an eine vollkommen andere Zahl denken, die eben keine Zeitkonnotation mehr hätte. Der mathematisch unbestimmbare Wert ist auf einer Zeitungsseite mit dem Titel „Bote“ abgedruckt, woraus sich eine nicht zu entschlüsselnde Botschaft ergibt.

Was mich an diesem Gelände fasziniert ist das Nebeneinander von Ort und Raum.  Die Betrachterposition nimmt mehrere Dimensionen in den Blick, die auf Bewegung hinweisen. Explizit nehme ich im Bild rechtsunten Linien sowie ein Signal wahr, die mich an eine (Fahr-)Bahn denken lassen. Es herrscht deswegen keine Starre, sondern eher eine mitgedachte Dynamik in der Ruhe vor, die auf großes künstlerisches Können hinweist. Die Kombination aus milden und kräftigen Farben unterstützt diesen Gesamteindruck.

Die linke Seite des Gemäldes enthält Utensilien und Konstruktionen, die auf tradierte Praktiken hinweisen. Ihre Anordnung verrät eine gewisse Unstimmigkeit, so als ob sie ausgedient hätten. Auffallend ist, wie detailtreu die verwendeten Materialien mit ihren Strukturen gezeichnet sind. Hier werden Stilpraktiken  aus längst verflossenen Zeiten eingebracht. „Ave Maria“ können wir an einem Bildstock lesen, der mächtig gen Himmel ragt, während der Fabrikschlot perspektivisch keine besonders luftige Höhe erreicht. Althergebrachtes und Neuartiges stoßen in der Idylle aufeinander, thematisch und strukturell: In der Zusammenschau entsteht hier auf den Betrachter der Eindruck einer Disharmonie, wodurch der Begriff „Idylle“ subtil hinterfragt wird.

Ländliche Idylle belegt, wie sehr die Sinne geschärft für alte und neue Zusammenhänge geschaffen werden, die im Betrachter selbst entstehen. Eine Einladung, seinem eigenen Bildgedächtnis habhaft zu werden und es neu zu vergegenwärtigen.

In sehr guter Bildauflösung lässt sich die Ländliche Idylle noch einmal über die Digitale Sammlung des Städelmuseums betrachten. Die Galerie Valentien bietet digital weitere Gemälde von Volker Böhringer zur Ansicht an.

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