Der Besuch im Sächsischen Eisenbahnmuseum in Chemnitz-Hilbersdorf war angesichts der Landesausstellung „Boom“ nur eine Frage der Zeit. Nun, im November 2020, während der erneuten Zwangspause im Kulturbetrieb, ist es mehr als nur eine erfreuliche Perspektive, dass in den nächsten Jahren die Stadt Chemnitz aufgrund des Status als Kulturhauptstadt 2025 einen weiteren Schub erhalten wird – darauf ist so gut wie Verlass.
An einem ehemaligen riesigen Güterbahnhof ist dieses Museum gut aufgehoben. Wir hatten Glück, dass wir ohne Anmeldung auch eine 150-minütige Führung durchs Museum mitmachen konnten, dank der Just-in-time-Ankunft um 14 Uhr am dritten Oktobersonntag. Man sollte schon gut zu Fuß sein, denn zwischen dem Empfangsgebäude und dem mit Raritäten aus dem Dampfzugzeitalter gefüllten Lokschuppen liegt nicht weniger als ein guter Kilometer.
Von der Kommandobrücke aus sieht man die Schalt- und Waltzentrale für die Seilablaufanlage. Die dortige Person hieß „Ablaufmeister“ und stand in Kontakt mit dem „Seilwagenwärter“ oben am kaum als solchen erkennbaren Ablaufberg, von wo einzelne Güterwagen ohne Dampf- oder Diesellok an den richtigen Ort gesteuert wurden. Auf diesen kaum sichtbaren „Berg“ war der Blick gelenkt. Für die richtige Weichenstellung sorgte das zuständige Stellwerk, das in unmittelbarer Nähe zum Ablaufmeister bedient wurde. Kaum vorstellbar: Mit Hilfe der Steuerräder für die Seilwagen wurden bis zu 3600 Wagen auf drei Gleispaaren täglich behandelt; vergleichbar mit der heutigen Leistung auf dem Güterbahnhof in Maschen bei Hamburg (tägliche Leistung: bis zu 4000 Wagen). Es wird deutlich: Hier läuft vieles ab, wobei das ‚ab’ auch als ‚berg-ab’ physisch zu verstehen ist…
Wenn man heute durch die Scheiben auf die teils herausgerissenen Gleise blickt, lässt sich die große logistische Meisterleistung von damals kaum mehr nachvollziehen. Link im Bild sieht man die Hauptstrecke Chemnitz-Dresden, die immerhin elektrifiziert ist. Das trifft auf so manche Hauptstrecke besonders in Süddeutschland immer noch nicht zu. Und der Güterverkehr ist im Vergleich zum Lastkraftwagen auf der Schiene immer noch nicht so richtig in Fahrt gekommen. Man sollte die unterschiedlichen Verkehrsmittel jedoch nicht gegeneinander ausspielen, denn viele Industriegebiete lassen sich einfach besser mit einem Straßenfahrzeug erreichen.
Ganz zufällig entdecke ich im Internet einen Zeit-Artikel vom Jahresende 2019. Der im Vergleich zu anderen Transportmitteln relativ teure Schienengüterverkehr in Deutschland ist, so erfahre ich, seit dem Jahr 2000 immerhin um 40 % gestiegen, obwohl der Anteil am „Gesamtgüterverkehr“ weiterhin nur bei 19% liegt. Es gebe nach Ansicht der Bundesregierung weitere 40% Wachstumspotenzial zwischen 2010 und 2030. Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Christian Böttge spricht jedoch davon, dass der „Einzelwagenverkehr […] dramatisch in der Krise“ sei. Der Artikel aus dpa-Quellen erläutert genau einen wichtigen Grund dafür, der in der im Sächsischen Eisenbahnmuseum dokumentierten logistischen Leistung dieses Einzelwagenverkehrs liege:
Dabei werden Einzelwaggons beim Kunden abgeholt und in großen Rangierbahnhöfen zu langen Zügen zusammengestellt. Am nächsten Rangierbahnhof werden die Züge dann wieder auseinandergenommen und die einzelnen Waggons weiter zum Ziel transportiert. Das ist aufwendig und derzeit unwirtschaftlich.
Es brauche angeblich „[d]igitale Stellwerke, automatisiertes Fahren, automatische Kupplungen“, also „technische Innovationen“. Es scheint, dass das Sächsische Eisenbahnmuseum in Zukunft diese technischen Innovationen gut wird vermitteln können, weil es auf dem großen Gelände trotz manchen schon umgesetzten Abrissvorhaben der Deutschen Bahn viel zu sehen gibt. Man sollte nicht in Nostalgie verfallen, sondern auf den Erkenntniswert von Technik- und Industriegeschichte mit all ihren Verwerfungen setzen.
Dank gilt der technischen Auskunft von Dr. Maximilian Claudius Noack bezüglich der Seilablaufanlage. Das Museum hat auf seiner Homepage für jeden Eisenbahnfan viele interessante Infos zu bieten. Passenden Lesestoff bietet auch der erwähnte Zeit-Artikel.