Als Kind habe ich – sicher aus rein ästhetischen Gründen – um kurz vor 20 Uhr des öfteren die Ziehung der Lottozahlen gesehen. Sie war lange (von 1965 bis 2013) vor der Tagesschau auf einem festen Sendeplatz in der ARD. Die „Lottofee“ Karin Tietze-Ludwig schien dafür die Idealbesetzung gewesen zu sein. Heute ist die Ziehung ins Internet-Fernsehen abgewandert. Gab es früher während der Ziehung sanfte Combo-Musik oder auch mal Electro-Beats, wird heute regelrecht gelabert. Das Kamerabild der im gläsernen Rund geschwenkten Lottozahl-Kugeln scheint mitsamt der einzeln hinauskatapultierten Kugeln nicht mehr Spannungsmoment genug zu sein.
In der Konschthal von Esch-sur-Alzette dachte ich sicher noch nicht an die Ziehung der Lottozahlen, als ich mir auf mehreren Stockwerken die kinetische Installation Distance von Jeppe Hein anschaute. Hier sind es mit Hilfe eines Startknopfs vom Ausstellungbesucher in Gang gesetzte weiße Kugeln (etwa in Bowling-Größe), die scheinbar unendlich lang in buchstäblich geregelten Bahnen rollen und wiederholt über Hebelifte auf ein höheres Energielevel gehoben werden. Die Langsamkeit des Rollens ist beeindruckend. Mitunter ist mal ist ein Looping eingebaut, mal geht es rasant abwärts. Man folgt der Kugel, was Aufmerksamkeit erfordert: Das Aus-den-Augen-Verlieren ist möglich, wenn mehrere Kugeln im Umlauf sind. Das Scheppern als Nebeneffekt vermittelt das Ungeschönte, Materielle. Die Gesetze der Physik soll man eben auch als Geräuschkulisse erfassen können.
Wenig ist im Internet über die Installation geschrieben
worden. Liegt es daran, dass sie kaum erklärungsbedürftig ist? Oder dass man sie mit den eigenen Sinnen eingefangen
haben muss? Ein Foto und ein sehr kurzes Video zeigen mich beim Betrachten der Installation. Dabei wird deutlich, dass der Unterschied zwischen den Medien im Kinetischen und Akustischen liegt: Das Foto kann die Dynamik und das Atmosphärische, wozu auch die Tonkulisse beiträgt, einfach nicht einfangen:
Distance von Jeppe Hein ( Besichtigung am 21.08.2022 in der Konschthal Esch-sur-Alzette ) Distance von Jeppe Hein (Besichtigung am 21.08.2022 in der Konschthal Esch-sur-Alzette)
Die Installation kann man gut nutzen, um physikalische Prozesse zu illustrieren. Ebenso lässt sich damit ein System als Konstrukt beleuchten. Wenn nur ein Bauteil defekt ist, dann ist das ganze System lahmgelegt. Oft ist das nur abstrakt vorstellbar, doch in dem ehemaligen Möbelhaus, der heutigen Konschthal, merkt der Betrachter, wie stark es auf die Konzeption des Ganzen und auch auf jedes einzelne Element ankommt. Die Wahrnehmung wird auf das Wesentliche gerichtet, nämlich auf den Ablauf. So wie jeder Ausstellungsbesuch einen gewissen Ablauf hat, so wird hier deutlich, wie Wege vorgezeichnet und dann mit räumlichen Besonderheiten in Einklang gebracht werden. Man könnte hierbei auch an Lebenswege gehen, die auch energetisch gesteuert werden, Stichwort: „Lebensenergie“. In dieser Erkenntnis hat für mich die Installation auch etwas Modellhaftes. Distance steht für etwas Abstraktes, schwer zu Begreifendes. Ein Systemtheoretiker könnte hierzu Stellung nehmen.
Meist nimmt ein Modell die Gestalt einer Miniatur an. Davon kann bei Jeppe Hein nicht die Rede sein. Ich würde von einer monumentalen Installation sprechen. Wir fühlen uns eher vom Spektakel übermannt. Das wäre beispielsweise bei einer Modelleisenbahn-Anlage nicht der Fall. Die kaum zu überschauenden Wahrnehmungsreize entsprechen auch eher unserer Erfahrungswelt. Die recht unbekannte Kulturhauptstadt – immerhin die zweitgrößte Stadt Luxemburgs – hat in zentraler Lage diese unsere Welt bereichert. Dafür sind wir ihr als Besucher dankbar.
Grüßt euch! Da sind wir wieder und möchten euch auch dieses Mal auf eine kleine Reise, die über die Grenzen der Republik hinaus geht, entführen.
Wie ihr sicherlich schon erahnt habt, sind wir nicht einfach direkt in die Vogesen gefahren. Nein, wer uns kennt, weiß, dass wir zu Umwegen neigen und gerne an eher ungewöhnlichen Orten verweilen und die Umgebung auf uns wirken lassen; so auch dieses Mal.
In Klettbach, unserer ersten Station, verbrachten wir zwei angenehme Tage im Poul‘s Hof. Klettbach? Werdet ihr womöglich denken; wo mag das nur liegen? Nun, hier möchte ich euch natürlich nicht allzu lange auf die sprichwörtliche Folter spannen. Klettbach ist tatsächlich sehr verkehrsgünstig gelegen und befindet sich nur unweit von Erfurt, Weimar und Gotha entfernt. Also kamen wir natürlich nicht umhin, uns zumindest Erfurt und Gotha einmal anzuschauen.
Vor einigen Jahren, als ich noch jünger war, besuchten meine Familie und ich Erfurt; die Geburtsstadt meines Großvaters und meiner lieben Mama. Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, dass ich etwas sentimental durch die Stadt wandelte, in der Hoffnung, einige der besuchten Orte wieder zu erkennen. Das gelang mir mal mehr, mal weniger gut, was sicherlich nicht zuletzt meinem eher mangelhaft ausgeprägten Orientierungssinn geschuldet ist.
Impressionen aus Erfurt
In Zeiten der Pandemie war es schön, im alten Stadtkern viele Menschen beim Bummeln oder an den zahlreichen Verkaufsständen zu sehen. Endlich war wieder Leben eingekehrt, was sich auch in der sichtlichen Freude der umherstreifenden Passanten zeigte.
Eine Dame erklärte ihrer etwas älteren Mutter, die sie im Rollstuhl vor sich her schob, was wohl diese riesige Absperrung und die große Bühne auf dem Domplatz zu bedeuten hätten. Nun, für diejenigen unter euch, die ebenso neugierig sind, wie die ältere Dame es zu sein schien, will ich das Rätsel natürlich sogleich auflösen. Zu jener Zeit, als wir Erfurt besuchten, gaben Die Ärzte ein paar Konzerte in der Stadt. So begegneten wir auch immer wieder auf unserem Spaziergang anderen Touristen, die es wegen des Konzertes in den Ort zog.
Auf unserem kleinen Stadtspaziergang begegnete uns aber auch ein netter Herr aus der Umgebung, der uns, weil er bemerkte, dass wir Hundefreunde seien, sogleich darüber informierte, dass erst kürzlich ein Hund ausgesetzt worden war und sich die Polizei nun der Sache angenommen habe, um den Halter zu ermitteln. Seinen Unmut darüber könnt ihr sicherlich nachvollziehen.
Später am Tag ging es dann nach Gotha. Dort besuchten wir neben dem Herzoglichen Museum auch das Ekhof-Theater auf Schloss Friedenstein. Dieses kleine Theater zeichnet sich v. a. dadurch aus, dass die Bühnentechnik, mit der die Kulisse schnell umgestaltet werden kann, nahezu im originalen Zustand des 17. Jahrhunderts erhalten ist.
Eindrücke aus Gotha
Der Theaterabend war ein riesiger Spaß; voller Witz, einem „vermeintlich“ tödlichen Liebeselixir, Intrigen und Verlangen. So richteten die Akteure und Aktricen immer wieder auch das Wort an das verzückte Publikum. So zum Beispiel der Mönch, der sein „Gebräu“ unter das Volk bringen wollte, indem er kokett fragte: „Welche der Damen möchte heute alleine nach Hause gehen?!“ Ein Lachen ging durch die Reihen, als eine der Damen ihren Arm etwas zu spät wieder herunternahm.
Nach unserem Besuch in Klettbach und Gotha ging es dann in Richtung Luxemburg. Esch-sur-Alzette, die diesjährige Kulturhauptstadt Europas überraschte mit einem überdimensionierten, künstlerischen „Murmelprojekt“ und einem Universitäts-Campus, der sich wirklich sehen lassen konnte; alleine schon von der Farbgebung her. Ein Besuch des ehemaligen Hochofens durfte natürlich nicht fehlen. Hier galt es einige Treppenstufen und „Höhenmeter“ zu überwinden.
Kulturhauptstadt Esch-sur-Alzette
Danach hieß es endlich Urlaub in Frankreich. Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie unglaublich aufgeregt ich war. Schon alleine die Fahrt durch den Tunnel in Richtung Frankreich bereitete mir große Freude. Selbstverständlich bestand ich darauf meine Betty (ja, so heißt mein Auto!) über die Grenze zu bewegen. Unsere erste Station war dann Nancy. Bei schönstem Wetter flanierten wir mit den beiden Hündchen durch die Stadt, genossen tolle Gespräche und eine wirklich sehr sehr leckere Quiche. Selbstverständlich durfte die eine oder andere Besichtigung dabei nicht fehlen.
Nancy in der Region Grand Est
Nach einigen Stündchen ging unsere Reise schließlich weiter. Hier übernahm Thomas nun das Steuer; und bei den Serpentinen, die wir teils durchqueren mussten, war ich auch wirklich sehr dankbar dafür. Mit dem Auto galt es nämlich einige Höhen und Kurven zu überwinden.
Letztlich erreichten wir unser Ziel und waren sichtlich glücklich und zufrieden. Auch die kleinen Hündchen freuten sich über ihren Auslauf auf der Ferme de Jean in Saulxures-sur-Moselotte.
Ankunft und erste Erkundung der Umgebung
Christophe, der Hausherr unserer Gîte, empfing uns freudig und zeigte uns die Unterkunft. Jeden Morgen bereitete er uns leckeres französisches Frühstück mit Käse, Croissants, Ei und Kaffee. Wer Marmelade oder Honig haben mochte, bekam natürlich auch dies. Christophe wirkte dabei stets entspannt und wir Deutschen machten unserem Ruf, sehr ordentlich und diszipliniert zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes alle Ehre. Darüber scherzten wir dann auch gerne mit Christophe.
Wir genossen viele tolle Gespräche und ich konnte ein wenig an meinem Französisch üben.
Schöne Wanderungen durften in den Vogesen natürlich nicht fehlen. Meine zwei kleinen Hündchen benötigten allerdings einmal eine etwas längere Pause, um sich von den „Wanderspaziergängen“, denn diese waren eigentlich sehr hunde- und Cindy-freundlich konzipiert, wieder zu erholen.
Wandereindrücke aus den Vogesen
Für mich als Berlinerin, mit vergleichsweise wenig Gebirgserfahrung (Wie hoch ist unser höchster „Berg“ in der Stadt? Etwa 120 Meter?!) waren die gut 1.000 Meter über dem Meer (unsere Ferme lag laut outdooractive.com auf 888 Metern :-)) eine tolle Abwechslung und kleine „Herausforderung“. Ihr könnt euch sicherlich denken, wie freudig erregt ich war, als ich das Gipfelkreuz des Hausbergs, dem Haut du Roc, erreichte. Der Anblick, der sich dabei bot, war einfach malerisch.
Ein Naturfreibadbesuch in der Base de Loisirs von Saulxures-sur-Moselotte durfte selbstverständlich nicht fehlen; ebenso wenig wie der Besuch zweier unglaublich schöner Gärten in Cornimont und Granges-Aumontzey (ehemals Granges-sur-Vologne). Längere, anregende Gespräche blieben dabei natürlich nicht aus; wenngleich ich dabei häufig eher im Hintergrund fungierte. Man spürte in beiden Gärten einfach die pure Liebe zur Natur; ein unvergessliches Erlebnis.
Kunst in La Bresse und Cornimont (Jardin et Objets des Panrées)
Artgerecht gehaltene Freigänger-Katzen, aber auch Freigänger-Gänse begegneten uns auf unserer Reise durch die Vogesen und sorgten immer wieder für schöne, einprägsame Momente.
Tierische Bekanntschaften 🙂
Sehr guter Wein, anregende Gespräche, kulturelle Höhepunkte, wie der Besuch des Musée du Bois und viel Natur bereiteten uns ein unvergleichliches Erlebnis.
Musée du Bois in Saulxures-sur-Moselotte
Über Haguenau im Elsass ging es schließlich zurück nach Deutschland.
Impressionen vom Festival du Houblon in Haguenau
Ein Dank gilt allen, die diesen Urlaub zu etwas ganz Besonderem gemacht haben; durch die vielen guten tiefgründigen Gespräche mit unserem Gastgeber Christophe und den lieben Menschen in Cornimont, La Bresse, Saulxures-sur-Moselotte und Berchigranges, die uns u. a. auch Anregungen für unser eigenes kleines künftiges Balkon-Gartenreich gaben und für das Gefühl, irgendwie zu Hause zu sein und sich willkommen zu fühlen, obwohl man vielleicht noch nicht so sicher in der französischen Aussprache war.
Jardin de Berchigranges
Ich jedenfalls werde diesen Urlaub ganz sicher nicht so schnell vergessen und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen mit Christophe und Gribouille, Familie Dronet, den Gartenfreunden aus Cornimont und all den anderen lieben Menschen, denen wir in den Vogesen begegnet sind. Am Liebsten wäre ich nie wieder fortgegangen.
À bientôt!
P. S. Für all diejenigen, die sich fragen, wer sich hinter Gribouille verbirgt… 🙂
Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, so sind doch gewisse überlieferte Ereignisse rund um das Thema Erinnerungspolitik wieder brandaktuell: Als Ende August 2022 in Riga ein Obelisk aus Sowjetzeiten geschleift wurde, weil er den Totalitarismus verherrlichte, musste ich an ein besonderes Guckkastenbild denken. Es wurde bis zum 11.September 2022 in einer feinen Ausstellung mit dem einprägsamen Titel „Die Welt im Kasten“ im Chemnitzer Schlossbergmuseum gezeigt. Bereits 2021 waren mehrere Guckkastenbilder aus der hauseigenen Sammlung im nahen SMAC (Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz) ausgestellt, als es um das Thema Stadt ging. In einem kurzen Video, das Teil des digital verfügbaren Ausstellungsdossiers ist, skizziert Kuratorin Katja Manz die Geschichte von Guckkastenbildern, die vom 17. – 19. Jahrhundert einen Blick in die Welt ermöglichten, spätestens im 18. Jahrhundert auch für die breite Masse.
Im Schlossbergmuseum ist auch Forschung präsent: Die Bachelor-Arbeit von Susanne Görnert, 2019 an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig unter dem Titel Die Guckkastenblattsammlung des Schlossberg-museums Chemnitz. Datierungsvorschläge und Vorlagenforschung vorgelegt, ist eine wichtige Quelle angesichts vieler noch offener Fragen. Aus der Arbeit erfahre ich, dass der Herausgeber der Guckkastenbilder, die Académie Impériale, von 1770 bis 1790 etwa 500 Exemplare als Kupferstiche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Anders als ein Fotograf ist ein Kupferstecher selten leibhaftig vor Ort; vielmehr muss er aus Beschreibungen und Erzählungen sein Werk schaffen. Das hier thematisierte Guckkastenbild mit dem Titel „La Destruction de la Statue royale à Nouvelle Yorck“ (deutsch: Die Zerstörung der Königlichen Bild Säule zu Neu Yorck) wurde von Franz Xaver Habermann (1721 – 1796) in Augsburg gestochen, wo auch der Herausgeber ansässig war:
Franz Xaver Habermann: Die Zerstörung der Königlichen Bild Säule zu Neu Yorck, um 1780 (Online-Quelle: Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz: www.stadt-im-smac.de)
Zu diesem Guckkastenbild schreibt Görnert auf Seite 49 ihrer Bachelorarbeit:
Die Ansicht New Yorks bezieht sich auf das historische Ereignis des Reiterstandbildes König Georg III. am 9. Juli 1776 im Bowling Green Park. Habermann nutzte hierfür als Vorlage den Kupferstich eines unbekannten französischen Stechers, welcher diesen wenige Monate nach dem Ereignis herausbrachte. Der Franzose schien New York nicht zu kennen. Statt dem 1760 erbauten Reiterstandbild König Georg III. ist eine Statue abgebildet. Auch die Stadtarchitektur erinnert eher an Paris als an die typisch koloniale Bauweise der amerikanischen Großstadt. Ebenso entspricht die revoltierende Menschenmenge welche aus Turban tragenden, dunkelhäutigen Männern besteht nicht der damals in New York lebenden Bevölkerung.
Welche
Aussage sollte mit diesem Guckkastenbild transportiert werden? Immerhin ist das
Motiv alles andere als malerisch. Die Zerstörung eines Vertreters aus der
europäischen Monarchie ist doch starker Tobak, gerade für eine „Académie“, die
das Kaiserliche in ihrem Namen führt. Doch Vorsicht: Augsburg war damals (bis 1805) Freie
Reichsstadt und genoss mehr künstlerische Freiheit als manch andere Stadt.
Georg III. (1738-1820) stammte aus dem Haus Hannover; seine Mutter war Augusta von Sachsen-Gotha-Altenburg. In seine fast 60 Jahre lange Regentschaft fiel als Zäsur die Unabhängigkeitserklärung der USA 1776. Wenn nur fünf Tage nach dem Independence Day der König im wahrsten Sinne des Wortes nach nur einem Jahrzehnt vom Sockel gehauen wird, dann geht es hier nicht um ein singuläres, isoliert zu betrachtendes Ereignis. Es ist nämlich nicht ohne den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg denkbar, der mehrere Jahre (1775 – 1783) dauerte.
Solch eine historische Umwälzung konnte nicht verschwiegen werden. Das Guckkastenbild mag bei Unwissenheit auch erschütternd wirken: fremde, „wilde“ Menschen scheinen die Akteure zu sein, während die wahrhaftigen politischen Kämpfer eher zuschauen. Auch dieses Zuschauen lässt verschiedene Interpretationen zu. Sind sie bestürzt oder eifern sie einfach nur mit? Der Kupferstecher Habermann versuchte, über ein Guckkastenbild den Betrachter in den Bann zu ziehen. Das Werk verrät gewisse (historische) Ungereimtheiten und verzerrt überlieferte Ereignisse. Es gibt einen Blick auf Historie frei, das auf eine ästhetische Wirkung abzielt. Der Akt der Zerstörung und seiner Betrachtung von einer überschaubaren Anzahl von Schaulustigen auf der Gasse – quasi vom Parkett – und am Fenster und auf der Veranda – quasi von den Rängen – wirkt inszeniert, während die Statue in ihrer Wirkung blass erscheint, da sie vergleichsweise unterdimensioniert dargestellt ist. Hat hier nicht einmal mehr der Künstler scharfen Durchblick hinsichtlich der Wucht der Geschichte bewiesen? Zumindest ist die Nachwirkung vorhanden: Man wird die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung anders lesen, wenn man dieses Guckkastenbild gesehen hat. Und man wird den im September 2022 erneut angestimmten Vers „God save the King“ besonders hochhalten. Möge Charles III. nicht vom Sockel gestoßen werden! Doch wird man ihn je als Statue verewigen?
Früher hörte ich meine Großmutter am Telefon sagen: „Ja, is’ gut!“. Zumindest habe ich diese Worte von ihr in meiner Erinnerung abgelegt. Damit bestätigte sie nur, dass ich zu einer bestimmten Zeit, etwa zur Teestunde, vorbeikommen könnte. Also zu einer wahrlich guten, passenden Zeit.
Das Gute kann manchmal auch bloß ausreichend sein: Laut dem Online-Nachschlagewerk OWID, betreut vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, ist seit den Nullerjahren die verwandte Wendung „Und gut is‘“ im Gebrauch. Umschrieben wird sie folgendermaßen:
es ist ausreichend, man sollte es dabei belassen
Der „Belegblock“ legt nahe, dass die Wendung schon vor dem
Jahr 2000 existierte. Vielleicht ist sie ja entscheidend dadurch beflügelt
worden, dass kurz vor der Jahrtausendwende Berlin Bundeshauptstadt wurde. Ich
kann mir lebendig vorstellen, dass die vorwiegend in der mündlichen Sprache
kursierende Floskel dort, wo massiv investiert wurde, in die Lande exportiert
wurde. Besser lässt sich alltagstaugliche Schnoddrigkeit einfach nicht in
Worten ausdrücken. In einem Geschäft
könnte die Geburtsstunde (zumindest die in Lettern dokumentierbare) geschlagen
haben, wenn man sich folgenden Beleg anschaut:
[eine] Verkäuferin, die mich an der Kasse eines […] Lebensmittelmarktes ungehalten auffordert, beim Einkauf nicht so viele verschiedene Mineralwasser zu wählen: “Nehm ‘se sich ‘ne Kiste von einer Sorte und gut is’. Da kommt man ja ganz durcheinander mit den Preisen und is’ doch sowieso alles die gleiche Plempe.” (taz, 14.05.1999)
Am 09.08.2022 verwendete eine Variante, nämlich „Und fertig is‘“, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in einem Fernsehinterview im ZDF-heute-journal, als es um das sensible Thema der im Herbst 2022 neu zugelassenen Impfstoffe ging. Spätestens seit diesem Interview ist mir klar, dass dieser Phraseologismus in der deutschen Sprache etabliert ist. Im größeren Kontext verwendete der Minister das Adjektiv ‚simpel’ in der Absicht, für mehr Klarheit zu geplanten Schutzregeln in Verbindung mit dem Impfstatus-Nachweis zu sorgen.
An was lässt mich diese Wendung noch denken? Spontan fällt
mir ein Instant-Getränk ein, das auch nach dem Motto „Und fertig ist es“
zubereitet werden kann. Es geht darum, möglichst schnell zum Ergebnis zu
kommen, ohne dass der Prozess sich zu lange in die Länge zieht. Es schwingt ein gewisses Genervt-Sein mit
hinein, dass auch im zitierten Beleg schön herauskommt.
Für mich bleibt es merkwürdig, dass das mickrige, semantisch leere und dazu noch dialektal markierte „is‘“ an das Ende eines Hauptsatzes gestellt wird, ohne jegliches Pronomen oder Substantiv. Was ist eigentlich gut? Man scheint das Urteil des Gegenüber vorweg zu nehmen. Dass ‚gut’ bzw. ‚fertig’ eine gewisse Simplizität beanspruchen (in einem gewissen Äußerungs-Moment), macht die Sache auch nicht leichter. Auch dieses Belassen von etwas ist trügerisch: Understatement oder Bescheidenheit klingt jedenfalls anders (der Ton macht die Musik!). Das „gut“ ist deswegen als Urteil mehr als fragwürdig. Es wird entwertet, denn es klingt nach: Hauptsache, etwas ist ‚fertig’. Klar, wenn etwas fertig ist, dann können wir sagen: Gut so! Eine Erledigung, mag sie noch so banal sein, ist produktiv! Scheint in „Und gut is‘“ nicht auch „Es reicht!“ durch, was wiederum Ärger ausdrückt? Das Verb ‚reichen’ reicht eben nicht immer aus, um jemanden zufrieden zu stellen. So wie im Belegbeispiel: Gut ist es, wenn ich jetzt die Sache (also den Getränkeeinkauf) beende, es reicht! Alternativ ließe sich noch sagen: Punkt. Aus. Ende.
Im erwähnten Fernsehinterview ist die Wendung „Und fertig is‘“, bei 5’40” zu hören.
Die offizielle Devise lautet: „Durch die wilde Österreichs“. Wildnis ist demnach das Schlagwort des seit 2019 bestehenden Luchs Trails, auf dem ich vom 27. Juli bis zum 01. August 2022 zusammen mit meinem Bruder wanderte. Über das Panorama-Magazin des Deutschen Alpenvereins bin ich dank eines Artikels von Axel Klemmer im Jahr 2020 auf ihn aufmerksam geworden. Der Weg verläuft insgesamt durch drei österreichische Bundesländer; wir liefen die ersten sechs Etappen von Reichraming (ca. 20 km südlich von Steyr im oberösterreichischen Teil des Ennstals) bis nach Gstatterboden bei Admont, wo wir die Enns im steirischen Teil wieder in der Nähe hatten. Mit dem Rad kann man beide Orte an einem Tag verbinden; der Weg führt den Wanderer auf dieser ca. 100 km langen Teilstrecke durch die beiden Nationalparks „Kalkalpen“ und „Gesäuse“, die zum wichtigen Habitat des Luchses gehören. Durch einen kleinen Obolus trägt man im Falle einer Buchung bei den „Trail Angels“ auch zum Schutz dieser scheuen Wildkatzenart bei, die sich natürlich nicht vor unseren Augen im (Buchen-)Wald zeigte.
Auch Engel sind eher im Verborgenen tätig: Es wurden im Angebotspaket ganz unterschiedliche Unterkünfte (inkl. Halbpension) zusammen mit Gepäcktransport ausgewählt. So waren wir in Gasthöfen, im Matratzenlager auf Almen und einmal in einem Admonter 4-Sterne-Hotel („Spirodom“) untergebracht, so dass kein gewöhnlicher Standard auf uns wartete. Und genau das macht ja das Reisen aus: Besondere Momente soll es geben, nicht nur angenehme.
Zahlreiche gab es tatsächlich davon auf dem Weg, die man kaum durch Bilder dokumentieren kann. Hier nur ein paar davon: Eine Anliegerin namens Zita („wie die letzte Kaiserin“) erzählte von ihrer reichhaltigen Ernte („10 Kilo Tomaten und 21 Kilo Gurken“) , ein plötzlicher Bremsenangriff, den wir mit der zivilen Defensivwaffe „Anti Brumm“ ganz gut abwehren konnten; eine „Panoramadusche“ auf der Anlaufalm (nach der 1. Etappe) im Reichraminger Hintergebirge, die im Freien zusammen mit Kaltwasser die luftigste Erfrischung war, die man sich nach einem achtstündigen Tag vorstellen kann; eine völlig verwaiste Laussabaueralm (nach der 2. Etappe) am Hengstpass, wo die Stille zusammen mit der abendlichen Brise hinein in die geöffneten Fenster eine unwirklich spürbar war, da man es einfach nicht gewohnt ist, stundenlang allein auf einem fremden Privatgrundstück zu verweilen und wir die charmante Wirtin Sieglinde Baumann erst nach Einbruch der Dunkelheit antrafen. Die nachmittägliche Brotzeit wirkte zum Glück bei mir noch nach; an jenem 28.07. fiel das Abendessen einfach aus: Sei’s drum, es gab genug „flüssig Brot“, gekühlt im Brunnen!
Hier ist nicht der Platz, den Weg näher zu beschreiben, die Luchs Trail-Homepage ist dafür genau die richtige virtuelle Anlaufstelle. Ein Bild pro Tag möge genügen:
In Reichraming, am Start des Luchstrails (an der Eisenbahnbrücke kommen die Enns und der Reichramingbach zusammen)Almgelände der Anlaufalm auf etwa 1000 m Seehöhe (im Hintergrund die Gesäuse-Berge)Ortsteil von Hall mit den Haller Mauern, der Gebirgskette, an deren Flanke das Admonter Haus auf gut 1700 m Höhe liegtKlinkehütte auf etwa 1500 m, unterhalb des Admonter Kalbling (2196m) im Nationalpark GesäuseOberhalb der Mödlinger Hütte (ca. 1500m), dahinter der Admonter Reichenstein (2251m); links daneben: Admonter Kalbling und SparafeldDie Enns mit dem Admonter Reichenstein
Der Weg lässt sich gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen (Reichraming besitzt sogar von Linz aus S-Bahn-Anschluss); Gstatterboden ist mit dem Bus mit dem IC-Bahnhof Liezen verbunden. Allgemein ist jedoch ein Auto zu empfehlen, wenn Gipfeltouren in den Nationalparks geplant werden. Dieses Gipfelerlebnis ist zwar auch auf dem Luchs Trails möglich (zum Beispiel werden zwei Kogel auf der 5. Etappe „bezwungen“), jedoch werden die prominenten Berge des geheimnisvoll entrückten „Gesäuse“, die es durchaus mit gewissen Dolomitengipfeln aufnehmen können, nur in den Blick, nicht in den Angriff genommen. Die Charakteristik des Weges ist also moderat, jedoch ist die angegebene Marschzeit oft zu knapp bemessen: Sieben Stunden für 21 km (2. Etappe) kann man beispielsweise bei über 1000 Höhenmetern schaffen, doch nur dann, wenn keinerlei Pause eingeplant wird oder man sich sehr athletisch fortbewegt. Bei Wärme und Gepäck ist das nahezu unmöglich; auch der Warnhinweis „Vorsicht bei Nässe und Höhenangst“ hinunter von der Anlaufalm hinunter zum Hintergebirgsbach ist unbedingt ernst zu nehmen. Selbst bei trockenem Wetter fühlten wir uns nicht gerade sicher auf diesem steilen Wegeabschnitt, was auch daran liegen kann, dass nach zwei Jahren Pandemie gewisse Wege von der Natur partiell zurückerobert werden.
Im wahrsten Sinne des Wortes sind liegengebliebene Bäume einfache Hindernisse. Das schwierigere Hindernis ist sicher das Mentale. Sechs Tage hintereinander wandern zu wollen ist nicht selbstverständlich. Und doch gibt einem der gesunde Körper das Vermögen mit auf den Weg, durchhalten zu können. Er hat oftmals genug Reserven; wenn genug Wasser aufgenommen wird, sollte bei durchschnittlicher Kondition kein Einbruch kommen. Wir hatten durchweg gute Wetterbedingungen; bei schlechtem Wetter wird man nicht auch daran gehindert, mal eine Etappe ausfallen zu lassen. Das meinte auch zurecht Gottfried Härtel, Wirt des Admonter Hauses: Nur weil man Anspruch auf eine Buchungsleistung hat, sollte man niemals diese „auf Teufel komm raus“ (diese Wendung kommt mir angesichts bestimmter Wetterküchen in den Sinn) einlösen wollen. Mut und Verstand müssen zusammen passen; auch das gilt für den eher harmlosen Luchs Trail. Wenn bei sechs Etappen eine davon sprichwörtlich „ins Wasser fällt“, sollte man damit gut leben können. Und gewisse Defizite (teils spärliche Ausschilderung) lässt man einfach links liegen; die Wege-Engel halten ganz gewiss die Stellung über den heißen Draht, sprich: über eine Hotline!
Es könnte eine Szene aus einem film noir sein, wie ich sie kurz nach 22 Uhr am Karfreitag 2022 erlebt habe: Kurz vor meinem Ziel in Berlin musste ich auf der Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Köpenick und Kaulsdorf in einem Waldgebiet (in der Nähe des S-Bahnhofs Wuhlheide) einen Güterzug abwarten, der in einem quälend langsamen Tempo den Bahnübergang passierte. Und bei den im wahrsten Sinne des Wortes ungezählten Güterwaggons dachte ich mir, dass hier noch eine veritable Geduldsprobe auf mich wartete.
Der Liedermacher Sebastian Krämer hat das „Telefonlied“ eingeführt, und wahrscheinlich wird man ihn nicht dabei kopieren. Mit der einen Hand Klavier spielen und mit der anderen Hand telefonieren, das ist natürlich dämlich, doch es passt genau in sein „Güterzug“-Lied hinein. Es ist eine Realsatire genau auf das, was ich erlebt habe, nur mit dem Unterscheid, dass ich in Berlin unterwegs war und der Interpret in seiner Heimat Vlotho an der Weser. Auch wenn Krämer im Mitschnitt behauptet, real vor der Schranke nicht zum Smartphone gegriffen zu haben, so ist es ein plausibler Gedanke, während des Passieren-Lassens eines nicht aufhörenden Güterzugs live die Außenwelt über die Verspätung zu informieren. Auch das Filmische kommt zur Geltung. Erst ist es im Lied nur die Situation, die filmische Züge (Stichwort: Güterzug als störendes, womöglich retardierendes Motiv in der Handlung) trägt, dann werden die Waggons zur Projektionsfläche für filmische Bilder und damit zum Motiv:
Der Zug ist ein Kino, das mir einen Kurzfilm zeigt.
Auf den Planen der Wagen sind Bilder
zu einem Film angehäuft,
der hier mir vor mir als Spot
und gütiger Gott
in ‘ner Endlosschleife läuft.
Auch der Film zeigt ‘nen Güterzug und einen Mann.
Es hat was von Schlingensief:
Der Mann springt in den Zug;
Das ist nicht gerad’ sehr klug.
Denn Blut spritzt aufs Objektiv.
Doch stets wenn der Kurzfilm vorbei ist
entsteht eine Lücke im Lauf;
‘ne Sekunde lang
prangt nur Schienenstrang
Und der Zug hört für kurze Zeit auf.
(…)
Ich glaube, dass das meine Chance ist:
Ich schaff’ mir den Rhythmus drauf.
Es ist alles nur Timing,
ich springe mich frei,
bis dann Schatz, ich leg jetzt auf.
Als das Sänger-Ich auflegt, ist neben dem Lied, das in der Klavierstimme hämmernd den Güterzug nachahmt und die Singstimme einen gehetzten Tonfall anschlägt (auch das ist authentisch) – auch das Leben vorbei. Der Pianist fällt buchstäblich vom Hocker, als er sich frei springt! Hier könnte man an einen Filmriss denken. Diese Horrorvorstellung gehört zum film noir, sonst wären Genreerwartungen nicht erfüllt.
Das Fiktive in das Reale so einzuarbeiten, dass ein Güterzug geradezu surreale Züge erhält, lohnt eine nähere Untersuchung. Einen Kurzfilm als Endlosschleife vor sich zu sehen – besser lässt sich die in die Länge gezogene Wartezeit mitsamt der Ungeduld des Wartenden nicht bebildern. Die Filmlücke ist gleichsam eine Zeitlücke, die zur vermeintlichen Befreiung dient. Doch ein Ausbruch aus dem Lauf der Zeit, den der Zuglauf materialisiert, ist unmöglich. Auch wenn das Sänger-Ich Timing und Rhythmus plant, bleibt es buchstäblich auf der Strecke. Im Französischen ist übrigens „train“ mit „(Lebens-)Tempo“ und gleichsam als Doppel-Gespann (also „train-train“) mit Alltagstrott gleichbedeutend , was ja auch ein gewisses Tempo suggeriert. Und da wären wir wieder bei der Musik. Ganz klar zeigt sich: In ihrer Vielschichtigkeit erschafft die Kleinkunst von Sebastian Krämer in kürzester Zeit großes Kino!
Dass der Westfale Sebastian Krämer im Vereinsheim Schwabing (der Mitschnitt vom Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2021 ist leider nicht mehr verfügbar) auftreten durfte, ist für einen „Preißn“ natürlich Ehre genug. Im „Feierabend TV“ gibt es ab 1 h 40 Min. etwas kürzere Alternative: Die knapp vier Minuten sind wirklich kurzweiliges Kabarett! Seine Tourneedaten lassen sich auf seiner Homepage einsehen.
Das Jahr 2022 wird noch lange in Erinnerung bleiben: Die Stichwörter „Tankrabatt“ und „9-Euro-Ticket“ sind unter anderem für mich schon jetzt Kandidaten für das Wort des Jahres. Als Anfang Juni diese Vergünstigungen im wahrsten Sinne des Wortes in den Verkehr kamen, zahlte ich gerne extra: Auf der Wisentatalbahn gab ich 8 Euro für eine Fahrt aus, und ich fühlte mich mit diesem Preis so richtig glücklich.
Fahrkarte für die Wisentatalbahn
Ich nahm an dem Tag gegen 17 Uhr den letzten Schienenbus, der sich von Schönberg im sächsischen Vogtland (Bahnhof auf der Strecke Hof-Zwickau) auf den ca. 16 Kilometer langen Weg ins thüringische Schleiz machte. Im Grunde waren außer mir nur Vereinsmitglieder und -sympathisanten an Bord, die sich mit großem Engagement seit 2007 um die reaktivierte Wisentatalbahn kümmern. Sie sorgen sich auch um das leibliche Wohl ihrer Fahrgäste. Aufgrund des leeren Wagens durfte ich direkt hinter dem Lokführer Platz nehmen – direkt neben meinem aufgehängten Fahrrad. Das war eine große Freude für mich! Die Leere erschien bizarr angesichts der oft überfüllten Regionalzüge an jenem Pfingstwochenende.
Abzweig von der Hauptstecke Hof-Zwickau (Langsamfahrstelle!)
Ein freies Plätzchen direkt hinter dem Triebfahrzeugführer!
Man merkt es bereits an der Homepage und den ausliegenden Flyern an, dass hier Eisenbahnliebhaber mit Leidenschaft am Werk in einer Region sind, die touristisch unterbelichtet ist. In einem Sommer mancher Engpässe ist es auch ein Vorteil, dass trotz des naheliegenden „Thüringer Meers“ (Bleilochtalsperre) und Schloss Burgk der Ort Schleiz überregional unbekannt ist, obwohl er auf der Autobahn A9 eine eigene Ausfahrt besitzt.
Drei bis
viermal am Tag fahren meist zweimal im Monat jeweils samstags die Uerdinger
Schienenbusse aus den 1950er Jahren auf der idyllischen Strecke, die von der
Deutschen Regionaleisenbahn (DRE) gepachtet wurde. Jeder einzelne Zug muss, auch wenn kein
Gegenverkehr zu erwarten ist, in Kommunikation mit dem Fahrdienstleiter in Pretsch
an der Elbe (Sachsen-Anhalt) stehen, der auch andere Nebenbahnen beaufsichtigt,
die nicht von der Deutschen Bahn betrieben werden.
Die Rangierfahrt in den Lokschuppen wurde mir am Fahrtende kurz vor Schleiz auch gezeigt. Ich staubte anschließend die letzte Frikadelle ab und schwang mich bei angenehmen Temperaturen aufs Rad. Dafür brauchte ich gutes Kartenmaterial, da ein lückenloser Radweg zum Startpunkt nicht ausgeschildert ist. Das konnte ich auch nicht erwarten. Hauptsache, ich machte mir ein schönes Bild von der Landschaft. Manchmal sind es 2-3 Aufnahmen, die in Erinnerung bleiben. Im Nachhinein muss ich sagen, dass die Strecke Schleiz-Schönberg am besten wandernd in ca. 3-4 Stunden zurückgelegt werden kann. Es rollt sich einfach nicht so gut im recht langen Waldstück zwischen Oberböhmsdorf und Mühltroff. Wer auf den Europäischen Bergwanderweg (EB) gerät, der ist ganz sicher gut unterwegs. Auf der Karte ist die „Alte Mühltroffer Straße“ zur Orientierung gut. Ein malerischer Ausblick zwischen Wald, Feld und Gewässer steht für die Freude, das Abendlicht von seiner schönsten Seite zu erwischen:
Abendstimmung einige Kilometer südöstlich von Schleiz (bei Oberböhmsdorf)
Nachdem die
Fahrt es am späteren Nachmittag losging, fühlte es sich geradezu kurzweilig an,
wieder gegen 20 Uhr zurück am Auto in Schönberg anzukommen. Das Abendlicht ist
an langen Sommertagen besonders wertvoll, weil es so lange vorherrscht und man
gerade bei Sonnenschein noch mehr die Ruhe der Region genießen kann. Zudem ist es ein zusätzlicher Luxus, dass das
Auto unweit des Bahnhofsganz ohne Fahrplan auf mich wartet. Und auch die Rückfahrt hielt noch die eine
oder andere Entdeckung bereit….
Wer sich auf einen Besuch des Lügenmuseums einlässt, der schließt von Beginn an einen Pakt mit der Lüge. Er verinnerlicht sie quasi, denn zur Begrüßung wird dem Besucher vom Museumsleiter Reinhard Zabka „Lügentee“ nach einem vermeintlichen Rezept der heiligen Hildegard von Bingen serviert. So ein Unfug, gerade zusammen mit einem Reim, der aus einem Schwank stammen könnte! Da fehlte nur noch eine bühnenreife Vertonung.
Untergebracht in einem ehemaligen Gasthof kann einen das Museum eigentlich kalt lassen. Denn das Inventar ist ein zusammengestoppeltes Sammelsurium, wo es mal scheppert und quietscht und mal ruhig ist, je nach Art des Ausstellungsstücks. Es dürfte klar sein, dass man es mit keinerlei Kunstwerken (oder in moderner Diktion vielleicht doch??) zu tun hat. Man bekommt lediglich vorgeführt, wie man Fake produzieren kann. Zum Glück habe ich wenig für das Gezeigte übrig, da es mich nicht in den Bann ziehen kann. Manchmal scheint bei einem Objekt eine gewisse verlogene Ideologie durch, mal sind es nur Bezüge auf Künstler und historische Figuren, denen man einfach nicht glauben kann und mag. Es sind sozusagen Anekdoten, die vom Wahrheitsgehalt her sowieso halbseiden sind, um es mal gewagt auszudrücken. Neben den Objekten sind auch die Worte zusammengeschustert, bis die Schwarte kracht.
Am Ende des Besuchs kommt es zu einer unerhörten Begebenheit. Bei der Betrachtung eines wohl authentischen DDR-Comics für Grundschüler mit dem prägnanten Titel „In Lügenwerda“ taucht auf einmal auf der Glasplatte das Sandmännchen auf. Ich kann es nicht fassen! Denn ich kann die Figur nicht leicht in der Realität lokalisieren:
In Lügenwerda – DDR-Ferienlektüre (ohne Jahr)
Es hat den Anschein einer fragwürdigen Spiegelung, die natürlich nichts mit einer Fata Morgana zu tun hat. Auch eine Installation kann es nicht sein. Ich werde im wahrsten Sinne des Wortes während der Betrachtung einer putzigen DDR-Ferienlektüre von einer wahrhaftigen Figur des DDR-Fernsehens heimgesucht, die ich so überhaupt nicht leibhaftig erlebt habe. Was ist denn da bloß passiert? Für mich ist dieses Erlebnis zweifelsohne der Höhepunkt einer dünnen Ausbeute. Liegt es daran, dass ich mich im Museumsabschnitt „Kathedrale des Sozialismus“ befinde und in weltlicher Manier auf eine andere Lebensstufe erhöht werde? Im Nachgang muss ich natürlich schmunzeln, denn die Sätze „Jaqueline badete mit einem Meerschweinchen“ und „Achim unterhält sich mit einem Ohrwurm“ im Rücken des Sandmännchens würde ich gerne eines Tages auch mal einem Kind vorlesen und dabei auf die heiter verlogenen Comic-Bildchen zeigen. Hier werden tatsächlich sprachlich-spielerisch Lüge und Wahrheit so dargestellt, dass verständlich wird, warum bereits simple Sätze Fiktion und damit Erfindung und Lüge enthalten. Eine Welt ohne Lüge ist einfach undenkbar. Das Lügenmuseum tischt das gehörig auf: Es hat alles den Anschein von Junk Food, von dem man eigentlich die Finger lassen sollte. Geringe Dosen davon können der Seele hin und wieder guttun. Der „Lügenwerda“-Comic mit der Sandmännchen-Erscheinung erzählt im wahrsten Sinne des Wortes davon.
Und wer sich jetzt weiterbilden möchte, dem sei das Hygiene-Museum in Dresden mit seiner neuen Ausstellung „Fake. Die ganze Wahrheit“ sehr empfohlen. Und wer so wie ich mal wirklich Grund zum Lästern haben möchte, der möge doch unbedingt vor den Toren der Barockstadt das Lügenmuseum im Radebeuler Ortsteil Serkowitz aufsuchen. Auf der Homepage gibt es auch einen halbstündigen Film von Marco Borowski zur Entstehung des Museums. Auf der Seite „So geht sächsisch“ ist das Museum übrigens auch aufgeführt. Zum Schluss sei noch ein Online-Artikel aus der Sächsischen Zeitung über Reinhard Zabkas künstlerisches Anliegen und ein aktueller Artikel zur Zukunft des Museums in Radebeul empfohlen.
Ein
Liederabend, der motivisch das Wechselbad der Gefühle In Sachen
Liebesbeziehungen vorführt, wird gegenüber Sturm-und-Drang-Augenblicken sowie
romantischen Phasen noch dazu konträre Stimmungsbilder aufbieten müssen. Doch
was ist eigentlich anti-romantisch? Einen Begriff dafür ist nicht leicht zu
finden. Das Französische hat mit dem Wort „Ennui“ dafür einen wahren
Volltreffer im Angebot. Denn es bedeutet
nicht nur „Langeweile“, sondern auch „Überdruss“ und auch „Ärgernis“. Im Deutschen
ist der Begriff nicht nur in der Wissenschaftssprache, sondern auch gelegentlich
in den Printmedien zu finden.
Am 20. März 2022 boten Christina Maria Heuel (Sopran) und André Gass (Bariton) einen seit langer Zeit konzipiertes und sehr kurzweiliges Abendprogramm im Zwickauer Gewandhaus. Ich war vor allem von einem Lied begeistert, dessen Text aus der Feder von Paul Valéry stammt und von Francis Poulenc im Jahre 1940 komponiert wurde. Zwischen Text und Musik vergingen gut 20 Jahre! Den Titel Colloque würde man in der Bedeutung „Kolloquium“ gar nicht verstehen. In ironischer Manier bezeichnet das Wort laut dem französischen Wörterbuch Le Petit Robert auch eine Unterhaltung („conversation“, „entretien“) Ein akademisches Gespräch findet ja mitnichten statt. Und im Lied singt zuerst der Bariton und dann nachfolgend die Sopranistin. Das ist erklärungsbedürftig.
Valéry
schrieb „pour deux flûtes“ als Untertitel in Klammern dazu. In der ersten
Publikation 1939 (also vor der
Vertonung) in der Nouvelle Revue Française ist von „Pièce ancienne, composée
pour être en musique“ die Rede. In einer
weiteren Ausgabe 1942 erfolgte die Widmung an Francis Poulenc mit dem Zusatz:
„qui a fait chanter ce colloque“. Valery
wünschte sich also eine Vertonung, wie auch immer sie umgesetzt würde. Wie wohl die zwei Flöten geklungen hätten?
Geheimnisumwittert sind Valérys Texte ganz gewiss – und hier ebenso
faszinierend.
Der Bariton soll „sec“ und „très insensiblement“ singen; er trägt das Gefühlslose in sich. In ihm macht sich ein ennui breit, die er ganz zu Beginn von einer sterbenden Rose auszugehen vermeint:
D’une rose mourante
L’ennui penche vers nous
Tu n’es pas différente
Dans ton silence doux
De cette fleur mourante;
Elle se meurt pour nous…
Das stille Sterben einer Rose verkörpert das Gegenüber. Der ennui scheint geradezu die Schönheit der Blume zu ersetzen! Im Liedblatt wurde ennui mit „Langeweile“ übersetzt, doch „Überdruss“ scheint mir passender zu sein. Peter Schwanz übersetzte es für die Valéry-Gesamtausgabe im Insel-Verlag gleichfalls mit „Überdruss“. Im Le Petit Robert wird dieser Begriff mit den Stichworten „mélancolie vague“ und „lassitude morale“ erklärt, was gut beschreibt, einer Sache einfach überdrüssig zu sein. Der Sänger vergleicht sein Gegenüber mit zwei anderen Geliebten, von denen die eine ihm nicht zuhört und die andere ihm ergeben ist. Für ihn sind sie allesamt „genauso“ (laut Liedblatt) bzw. „ähnlich“ laut der Gesamtausgabe („pareil“), was einen Überdruss nicht besser verdeutlichen könnte. Es gibt für ihn keine persönliche Differenzierung: Es werden nur Sinnesorgane (Mund, Ohr) genannt, die für die Reize stehen, jedoch nicht den Geist ansprechen. Die Noten sprechen mehrfach eine deutliche „Sprache“, gleichen sie doch in ihrer Abfolge einem lieblosen Vortrag:
Ausschnitt aus dem Bariton-Part in Francis Poulencs Colloque (1940)
Dass eine
Schnittblume „für uns“ stirbt, entspricht der Wirklichkeit, denn was gepflückt
ist, kann nicht lange weiterleben. Sie opfert sich für uns, ohne dass hier
etwas Leidenschaftliches zur Geltung kommt. Der ennui lässt die Passion
im Keim ersticken.
Die Sängerin erwidert, dass Liebe nur frisch und spontan möglich ist. Was bringen schon die Erinnerungen an längst Vergangenes? Das Notenblatt zeigt hier mit der Anweisung „très doux“ und den schnell wechselnden, teils zauberhaft klingenden Harmonien das Gegenteil von „ennui“. Der Gesangsvortrag soll einschmeichelnd und zugleich originell sein:
Ausschnitt aus dem Sopran-Part in Francis Poulencs Colloque (1940)
Es gibt in
diesem Gedicht keine Antwort mehr – zwei Positionen stehen sich gegenüber.
In seiner 1935 gehaltene Rede mit dem schönen Namen Bilanz der Intelligenz (bilan de l’intelligence), auf die Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren (Klett-Cotta, 2021) hingewiesen hat, stehen folgende Schlüsselsätze aus der bereits erwähnten deutschsprachigen Gesamtausgabe (S.105), von denen die Autorin die ersten zwei Sätze zitiert:
Sprunghaftigkeit, hastiges Unterbrechen, überraschende Ablenkung machen allenthalben unsere Daseinsbedingungen aus. Bei vielen Individuen ist geradezu eine Sucht danach entstanden, und sie nähren sich im Geistigen gewissermaßen nur mehr von plötzlichen Abschweifungen und ständig wechselnden Reizen. „Sensationell“ und „beeindruckend“ charakterisieren als Schlagworte die ganze Epoche. Wir ertragen keine Dauer mehr. Wir können die Langeweile nicht mehr fruchtbar machen.
Im Französischen heißt der letzte Satz des Zitats im Original: „On ne sait plus féconder l’ennui“. Wie auch immer man hier Langeweile begreift, scheinen doch diese Sätze im Zeitalter des Smartphones gültiger denn je. Was nicht reißerisch daher kommt, wird kaum noch beachtet. Im Colloque wird ennui künstlerisch in Kürze dargestellt und gespiegelt. Ästhetisch und kulturphilosophisch höchst ansprechend.
In der älteren Insel-Gesamtausgabe (Paul Valéry: Werke) steht im 1. Band mit dem Untertitel „Dichtung und Prosa“ die zweisprachige Version des Colloque auf den Seiten 222-225. Hier eine CD-Aufnahme des Lieds aus dem Jahr 2018. Valérys erwähnter Aufsatz Bilanz der Intelligenz ist im 7. Band („Zeitgeschichte und Politik“) nachzulesen; im Original ist er online verfügbar. 2021 wurde die Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag neu aufgelegt. Das Originalgedicht lässt sich hier nachlesen. Die Noten sind über die Plattform IMSLP abrufbar.
Kaum ist man als Bahnreisender in der Gegenwart Berlins am Hauptbahnhof eingetroffen, kann man wenige Hundert Meter entfernt gleich in die Zukunft einsteigen – und zwar im Futurium, dem kostenlos zugänglichen Informationsort zu unserer Gesellschaft von morgen, das sich laut Homepage wahrhaftig als das „Haus der Zukünfte“ bezeichnet.
Dazu liefert der 2021 herausgekommene und bereits mit vier Lolas prämierte Film Ich bin Dein Mensch passendes Begleitmaterial. Maria Schrader hat überzeugend Regie geführt und die Protagonisten Alma (Maren Eggert) und Tom (Dan Stevens) glänzend in Szene gesetzt: Einerseits die etwas spröde wirkende Alma als Anthropologin im Pergamonmuseum, andererseits den humanoiden Roboter Tom, der, so sagt es das Drehbuch, auf den ersten Blick wie ein „Arme Leute Travolta“ daherkommt. Auf Bitten von Roger, einem Universitätsdekan, der als Mitglied einer Ethik-Kommission über das Wesen von künstlichen Kreaturen berichten soll, nimmt Alma an einer Studie teil, die das mehrwöchige Zusammenleben mit einer solchen Kreatur testen soll. Als Dankeschön dafür stehen dann Forschungsgelder für sie in Aussicht. Die nicht mehr allzu fern erscheinende Zukunft wird im Film buchstäblich durchgespielt.
Die erste Begegnung findet in einem „Berliner Tanzlokal aus
der Nachkriegszeit“ statt. Die Mitarbeiterin der Firma Terrareca
(aalglatt gespielt von Sandra Hüller) weiht Alma in den noch nicht ganz
zuverlässig handelnden Roboter ein, den sie auch als Produkt vermarktet.
Sie glauben nicht, wie kompliziert es ist, einen Flirt zu programmieren. Eine falsche Bewegung, ein falscher Blick, ein unbedachtes Wort, schon ist die ganze Romantik dahin, oder etwa nicht?
Im Interieur der Firma ist es leuchtend weiß: Zusammen mit dem Slogan „Dreams are our reality“, wird von Beginn an die mit Argwohn zu betrachtende traumhafte Wirklichkeit mit ganz besonderen ästhetischen Kameraeinstellungen konstruiert:
In der Firma “Terrareca” (Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch, Regie: Maria Schrader, Letterbox Filmproduktion, 2021, 5’55”)
Die Mitarbeiterin vermeidet jegliche Romantisierung der
Testsituation:
Ich weiß, dass Sie das alles mit einer gewissen emotionalen Distanz betrachten, und als Testperson sollen Sie das auch. Ich kann Ihnen aber nur empfehlen, sich auf diese Erfahrung ganz einzulassen. (…) Morgen ist es soweit. Dann ist alles konfiguriert und Sie können Tom mit nach Hause nehmen.
Alma nimmt gegenüber ihrem Vorgesetzten das zukunftsträchtige Wort „mindfiles“ in den Mund, mit denen die Roboter gefüttert werden, damit sie überhaupt adäquat auf menschliche Äußerungen reagieren oder Erklärungsversuche geben können, wenn man selbst emotional arg belastet ist. Das ist dann der Fall, als Alma getröstet werden muss, weil eine argentinische Forscherin bereits die Forschungsfrage rund um eine antike Keilschrift, die Alma beschäftigt, beantwortet hat. Daten-Input reicht jedoch nicht aus: Jenseits davon soll auch ein Teil der Lebenswirklichkeit konstruiert werden, um mehr Gemeinsamkeit zu schaffen:
Wir empfehlen, an einer gemeinsamen Vergangenheit zu arbeiten. Eine Geschichte zu erfinden, wie man sich kennen gelernt hat. Nur wer eine Vergangenheit hat, hat auch eine Zukunft.
So kommt es, dass die beiden konstruieren, dass sie sich am Rande einer Forschungsreise in Kopenhagen kennengelernt hätten, einer Reise, die Alma noch bevorsteht. Auch werden Almas Urlaubsreisen an die dänische Ostseeküste in der Kindheit zu einem Bezugspunkt. Am Ende des Films sucht sie diesen Kindheitsort wieder auf, nachdem Tom die Koffer gepackt hat. Ihm begegnet sie dort wundersam wieder, ohne jegliche Emotion. Denn für Alma war der Abschied vom Roboter an der Zeit:
Er ist programmiert zur Simulation einer Empfindung, aber unfähig zu einer wirklichen Empfindung.(…) Tom ist eigentlich nur eine Ausstülpung meines Ichs!
Die Betonung liegt auf dem Ich, da an der Studie verständlicherweise nur Alleinstehende teilnehmen können. Der Umgang zwischen Alma und Tom zeigt eindrucksvoll, dass ein Roboter, mag er noch nur gut konfiguriert sein, keinen wirklichen Partner ersetzen kann. Es fehlt die Reibungsfläche zwischen dem Ich und dem Anderen. Die Ausstülpung steigert sogar noch die Ich-Bezogenheit; die Wahrnehmung von Andersheit bzw. Andersartigkeit findet nicht statt. Auch wenn es keinen inhaltlichen Konflikt zwischen Alma und Tom gibt, so findet doch eine Auseinandersetzung statt, für die Tom nicht verantwortlich sein kann, sondern nur Pate steht. Eindrucksvoller als Dan Stevens als Tom kann man diese Patenschaft kaum spielen. Der Wunsch nach Romantik im Badezimmer ist einer bei Tom einprogrammierten Statistik entnommen, nach der angeblich 93% der deutschen Frauen dies so wünschen. Nach eigenen Worten gehört Alma nicht dazu (wirklich nicht??), so dass Toms Mühen, Alma zu imponieren, keine Früchte tragen:
Romantik im Badezimmer (Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch , Regie: Maria Schrader), Letterbox Filmproduktion, 2021, 29’33”)
Im Café mitten in Berlin ‚parkt’ Alma Tom, so dass er selber mitbekommt, wie sich die meisten Besucher in virtuellen Welten bewegen:
Im Bloody Good Café(Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch; Regie: Maria Schrader, Letterbox Filmproduktion, 2021, 25’34”)
Am Ende erhält der Film ein seminaristisches Fazit, als Alma ihre Erfahrungswerte in einem Gutachten auf Wunsch des Dekans darlegt und sich kritisch zu Toms Spezies äußert:
Doch ist der Mensch wirklich gemacht für eine Befriedigung seiner Bedürfnisse, die per Bestellung zu haben ist? Sind gerade die unerfüllte Sehnsucht, die Phantasie und das Streben nach Glück die Quelle dessen, was uns zu Menschen macht? Wenn wir die Humanoiden als Ehepartner zulassen, schaffen wir eine Gesellschaft der Abhängigen, satt und müde von der permanenten Erfüllung ihrer Bedürfnisse und der abrufbaren Bestätigung ihrer eigenen Person. Was wäre dann noch der Antrieb, sich mit herkömmlichen Lebewesen zu konfrontieren, sich selbst hinterfragen zu müssen, Konflikte auszuhalten, sich zu verändern?
Mit dieser Frage entlässt der Film die Zuschauer. Im Futurium kann man ihr weiter nachgehen; dort wird der Film zusammen mit seiner feinsinnigen Musik, die sehr schön den Kammerton zum Schwingen bringt, womöglich noch länger nachwirken als im heimischen Wohnzimmer. In den eigenen vier Wänden wäre eine Gestalt wie Tom eher eine gruselige Vorstellung; als distanzierterer Betreuer an Lernorten fände ich ihn deutlich besser aufgehoben.