Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Kategorie: AufgeDreht. Seite 2 von 3

Hörbares, mit oder ohne Sprache, auf Tonträger gebannt, in den Bann ziehend, verzaubernd unwiderstehlich beim wiederholten Hören.

Klangmalerei – Über Johanna Summers Album “Schumann Kaleidoskop”

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Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache hatte um das Jahr 2000 herum das Wort ‚verjazzen’ Hochkonjunktur. Ohne dieser Angabe nun näher nachzugehen lässt sich sagen, dass man auch schon vor dem Beginn des 21. Jahrhunderts klassische Kompositionen gern neu arrangierte und dabei Jazzakkorde und -kadenzen eingesetzt wurden. Man denke an das Tonmaterial von Johann Sebastian Bach, das sich hierfür hervorragend eignet.

Schumann Kaleidoskop
Johanna Summer: Schumann Kaleidoskop. Act Music, 2020.

Man wird wohl schwerlich eine seriösere Auseinandersetzung mit dem Original finden als bei Johanna Summer, die Mitte der Neunziger Jahre in Plauen geboren wurde. Dass ihr Album Schumann Kaleidoskop bei Act Music herauskommen ist, zeigt bereits die hervorragende Qualität. Der Slogan des Labels „In the Spirit of Jazz“ lässt sich bei Summer in jedem Takt heraushören, wenngleich ich die Live-Performance beim Schumann-Fest in Zwickau noch deutlich eindrucksvoller fand als die CD-Aufnahme. Das hat womöglich zwei  nicht-objektivierbare Gründe:

Faktor Intensität: Die Kombination von zwei Schumann-Stücken pro Track  bzw. pro Programmelement erstreckt sich im Live-Konzert auf ca. 20 Minuten, während sie auf der CD nur etwa halb so lang ist. Diese zeitliche Dehnung ist natürlich flexibel, weil es sich ja um Improvisationen handelt und jedes Mal dabei etwas anderes herauskommt. Eine Studioaufnahme bringt ein anderes Ergebnis hervor als ein Konzert. Und möglicherweise spräche gegen einen Konzert-Mitschnitt, dass man sich auf Tonträgern lieber kürzere Einheiten anhört. Auf jeden Fall ist es auffällig, wie stark der Höreindruck variiert, obwohl doch das Konzept gleich ist. Genau zehn Minuten dauert der erste Track, der Original-Klänge der Stücke Glückes genug aus den Kinderszenen (op. 15) und Erster Verlust aus dem Album für die Jugend (opus 68) von Robert Schumann beinhaltet.  Ich finde, dass ein Kaleidoskop eine schillernde Betrachtung impliziert, dessen Facettenreichtum idealerweise in einem längeren Konzertstück in Erscheinung tritt. Und da wirken 20 Minuten einfach intensiver, da der Zuhörer quasi über Klangmalerei einen umfangreicheren Hörkosmos betritt. Es scheint unmöglich (auch wenn es nicht der Fall ist), diesen Kosmos auf bedruckten Notenblättern zu bannen, da sich bei der Auseinandersetzung mit Tonmaterial hier keine lineare Darstellung aufdrängt. Es kommt einem wie eine Tiefenbohrung quer durch Tonschichten bzw. Klangschichten vor.

Faktor Präsenz: Der etwa 90-minütige Auftritt auf der Hauptbühne beim Schumann-Fest, ganz in der Nähe des Schwanenteichs, brachte die Klangmalerei besonders einmalig zur Geltung: Einerseits die technische Komponente der geschickt gestaffelten Akkorde, die über die (womöglich nicht ganz perfekt eingestellten) Verstärker teilweise schroff ins Publikum schallten, andererseits die gefühlvollen Modulationen, die auch von den in nahen Baumwipfeln sitzenden Vögeln akustisch ergänzt wurden. Auf der großen Wiese waren die Stuhlreihen eher locker besetzt;  sehr beliebt schienen hingegen hingegen die einzelnen überdimensionalen Lounge-Kissen zu sein. Doch hier fehlte mir die erforderliche Aufmerksamkeit für die Künstlerin, so dass ich mich im Laufe des Konzerts in die vorderste Reihe vorarbeitete. Johanna Summers Musik wirkte auf mich wie ein Sog, ohne berauschend zu sein. Dies merkte ich von Anfang an, als mich vom nahen Roller-Parkplatz kommend die Klänge mich an den Konzertort quasi hinführten. Mehr denn je spürte ich, dass die körperliche Präsenz das Abstrakte des Jazz nahbarer macht. Gerade die Takte, die Schumann pur wiedergaben, hörte ich zusammen mit der jazzmusikalischen Verarbeitung  im wahrsten Sinne des Wortes besinnlicher als in einem klassischen Kammerkonzert, wo das traditionelle Genre (Kammermusik) erwartbarere Klänge hervorbringt.

Ohne großes Nachdenken kann ich nun diesen besonderen Musikabend mit einem Epilog abrunden. Als ich mich am Schwanenteich stärkte, kam ich ins Gespräch mit einer jungen Familie. Wohl war dafür ausschlaggebend, dass ich mich sehr dem Wasser nährte: „Überlebenskünstler“ schallte es mir entgegen. Ich traute meinen Ohren nicht, da ich noch im Unterricht einige Tage zuvor über den schönen Ausdruck ‚Lebenskünstler’ gesprochen hatte. Ich dachte an eine Wortspielerei, doch nein, dem ist nicht so: Im Internet ist das Wort angekommen: „Person, die alle Probleme und Widrigkeiten erfolgreich übersteht.“

Was soll mir diese Botschaft sagen? Ich finde sie nicht besonders originell, doch wenn man mit dem Begriff spielt, kommt Über-Lebenskünstler dabei heraus. Und hier merke ich, dass mir hier die Jazzmusik helfen kann. Aus ihr spricht nicht nur musikalische Könnerschaft, sondern auch Lebenskunst. Ich wage einmal folgende These: Jeder, dem Jazzmusik zusagt – die Klangmalerei von Johanna Summer ist dafür ein hervorragendes Beispiel – ist ein Lebenskünstler.

Bei Act Music sind als CD und als Vinyl LP zwei Alben von Johanna Summer erhältlich: Schumann Kaleidoskop und Resonanzen. Johanna ist auch an weiteren Alben als ‚Sideman’ beteiligt. Tourtermine gibt es u.a auf ihrer Homepage.

Parforce-Walzer und Parforce-Jazz:  Über zwei Lieder namens „Vesoul“

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Es muss 2005 gewesen sein, als ich auf dem Weg von Annecy in Hochsavoyen nach Essen an Vesoul vorbeifuhr. Dieser ostfranzösische Ort an den südwestlichen Ausläufern der Vogesen ist mir seitdem vom Namen her ein Begriff. Ohne dass ich je im Ort gewesen bin, klingt Vesoul weich und versonnen. Ob der berühmte Chansonnier Jacques Brel auch, als er in den 1960er Jahren seine berühmte Chanson Vesoul schrieb, an diesen Klang dachte? Gelebt hat er dort nie, allenfalls übernachtet.

Nun, es gibt heute eine Place Jacques Brel und ein Collège Jacques Brel in Vesoul. So viel Andenken muss sein. Im Lied werden Orts- und Städtenamen kaskadenartig genannt, wobei an erster Stelle nicht Vesoul vorkommt, sondern das kleine unweit von Paris liegende Örtchen Vierzon; danach folgen Honfleur und – welch Überraschung – Hamburg!   Der Sänger ist denkbar schlecht darauf zu sprechen (und deswegen singt er auch mit einer gehörigen Portion Rage), dass sein Gegenüber die Orte und Städte zu sehen bekommt, das es auch sehen will, während er leer ausgeht. Das „Akkordeon“-Gedudel in Paris ist ihm ebenso verhasst. Dem Du gelingt es ebenso, einst geliebte Orte wie Vesoul wieder zu verlassen, als es von ihnen genug hat.  Und manchmal werden insgesamt gewisse Vorhaben (wahrscheinlich vom Du im Lied) zunichte gemacht, was einen bitteren Unterton erhält:

J’ai voulu voir ta sœur et j’ai vu le Mont Valerién (…)

Maintenent j’confonds ta sœur et le Mont Valérien (…)

J’ai voulu voir ta sœur et on a vu ta mère (…)

T’as plus aimé ta mère, on a quitté ta sœur

Ich habe nachgeschlagen, um eine wichtige Wissenslücke zu schließen: Der Mont Valérien, am westlichen Stadtrand von Paris gelegen, ist ein wichtiger Gedenkort für den Deutsch-Französischen Krieg und eine Opferstätte seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass dieser eher anonyme Ort im Lied Verwechslungspotenzial mit der Schwester  enthält, ist genauso zynisch wie die Feststellung, dass man dieser nun den Rücken gekehrt habe, weil das Du nicht mehr seine Mutter lieb habe. Diese im Lied provokant wiedergeholt vorgetragenen Hinwendungen und nachfolgend Abwendungen werden hier auf Verwandte (und wohl auch Bekannte) übertragen. Eine gewisse Hortense ist nun auch nach gewissen Erzählungen beim Sänger-Ich unten durch, so dass er nicht mehr zu ihr ins Département Cantal fahren möchte: „De ce que je sais d’Hortense, je n’irai plus dans le Cantal.“ Diesen Stunk in einen Walzertakt zu verpacken, um die beiden kreiselnden Lebensreisen zweier Bezugspersonen zu veranschaulichen, ist große Chanson-Kunst.

Dass Ende der 1990er Jahre die Formation Queen Bee (mit Edda Schnittgard und Ina Müller als Frontfrau) eine deutschsprachige Vesoul-Version veröffentlichte und dabei abgesehen vom Titel-Ort keine weiteren Bezeichnungen übernahm, bedeutet bereits eine intensive Auseinandersetzung mit der Vorlage und gleichzeitig musikalisch eine Neu-Interpretation. Queen Bee verwandelt die Walzer-Klänge in kantige, doch bewusst meist monotone Jazz-Akkorde.

Der Text hinterfragt sich scheinbar selbst:  „Du wolltest nach Vesoul / wo bitte liegt Vesoul?“ Auch die 2. Person in der Anrede wird manchmal zur 3. Person: „Sie“ bzw. „ihr“:

Du wolltest nach Bordeaux,

wir fuhren nach Bordeaux,

Bordeaux war ihr zu dumm,

wir kehrten wieder um,

ich wollte nach Cádiz,

wir fuhren nach Paris.

Weiter geht es nach Luzern (Reim auf Bern, wo es nicht hingeht), nach Lausanne (Reimvers „und dann weiter nach Cannes“) und auch nach Saas-Fee (Reim: „sie wollte in den Schnee“); des weiteren bilden weitere Reimpaare erreichte Ziele (Bahrain und Lichtenstein, Beirut und der Zuckerhut, der Niagara-Fall und Portugal, sowie Luxemburg, Lourdes und Klagenfurt und nicht zuletzt Bukarest, Brest und Budapest.) Das Sängerin-Ich würde gern mal nach Bonn und Heilbronn, Turin und Wien, in den Ural und nach Wuppertal (die Stadt, wo sie immerhin schon einmal waren!) schweifen und „bei Sylt im Watt“ und im „Kattegat“ verweilen.

Überall mag das Sängerin-Ich hinfahren, „nur nicht nach Berlin“, wo sie eingehe. Hier zeigt sich die merkwürdige Bedeutung dieses Verbs, das ja eigentlich mit ‚gehen’ einen räumlichen Bezug hat. Stets kann das ‚sie’ in der dritten Person sich durchsetzen, auch „weil sie so drauf besteht“. Deswegen geht es schließlich doch nach Berlin, dorthin, wo die „verdammte Musik“ und das „verfluchte Programm“ mit dem „ganzen Tamtam“ zu finden sei. Hier befreit sich die Begleitmusik ironischerweise vorübergehend aus der Monotonie.

Die deutsche Version gibt der Chanson kabarettistische Züge. Anders als bei Brel ist keine Verbitterung herauszuhören, sondern die Inszenierung von maximaler Gereiztheit. Bei den bereisten Städten und Plätzen gibt es eigentlich auch nichts zu beklagen. Insofern steht der Humor hier an erster Stelle. Die Reime verknüpfen Reiseziele, die nicht zwangsläufig zusammengedacht werden, so dass hier die Klang-Kunst der sich reimenden Destinationen im Vordergrund steht. Man könnte diskutieren, inwiefern Brels Chanson hier parodiert wird. Beide Liedkompositionen könnten jedenfalls gewisse Parforce-Ritte ganz ohne Pferdeeinsatz nicht origineller besingen!

Eine sehr lesenswerte Kurzbiografie zu Jacques Brel, der aus dem Großraum Brüssel stammt und in Französisch-Polynesien begraben ist, findet sich hier. Die Chanson lässt sich hier in deutscher Übersetzung nachlesen. Zu einem Vergleich lädt der Original-Text ein.

Originelle Kopie – Über „Cavaliere d’argento“ der Crucchi Gang

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Als sich Anfang der 1980er Jahre die Neue Deutsche Welle aufbaute, stand eine gewisse Leichtigkeit an erster Stelle. Die deutsche Sprache, weder leicht zu erlernen noch leicht im Umgang angesichts vieler tiefenscharfer, schwer oder unmöglich zu übersetzender Termini, konnte in musikalisch abgespeckter Termini brillieren, auch wenn dabei keine musikalischen Glanzleistungen herauskamen.

Joachim Witts Hit „Goldener Reiter“ aus dem Jahr 1980 (Single-Auskopplung 1981) ist sicher kein Glanzstück, doch irgendwie bleibt das Lied, das vage von einem von der Bahn abgekommenen Leben „am Rande der Stadt“ handelt, im Gedächtnis hängen – mir zumindest. Mehr als 40 Jahre später ist nun eine italienische Kopie entstanden, deren Titel Cavaliere d’argento den Reiter versilbert. Der Grund liegt ganz einfach darin, dass die Anzahl der Silben des deutschen Adjektivs mit denen im Worte „argento“ übereinstimmen. Musik hat Vorgang gegenüber treuer Übersetzerkunst. Insgesamt wirkt die Kopie viel geschmeidiger als das Original, was nicht nur am so schönen Klang des Italienischen liegt.

Francesco Wilking von der Band Die höchste Eisenbahn hat sich letztes Jahr zusammen mit der Crucchi Gang an diese Cover-Version gewagt. Das neue Gewand hat nun Italo-Pop-Charakter, wobei der dumpfe Gesang von Joachim Witt im Original mit einer neuen Klangfarbe übertönt wird. Felix Hooss sprach im September 2020 in Anbetracht des Debütalbums in der Sonntagszeitung der FAZ von einer „Lockerungsübung“, ohne vergessen zu erwähnen, dass Crucchi eine „hässliche Bezeichnung für Deutsche“ sind. Es lässt sich erahnen: Die Gang hat auch auch andere bekannte deutschsprachige Lieder ins Italienische übertragen, zum Beispiel „Bitte gib mir nur ein Wort“ von Wir sind Helden.

Das Video zu Cavaliere d’argento erinnert mich an ein Bühnenbild, das während des Songs auf- und abgebaut wird. Es zeichnet sich durch einen symmetrischen Aufbau aus, in dem bloß zwei Hände aktiv tätig sind. Die Bild-Konstante sind vier Leitern (im Originallied ist die Leiter als Reimwort auf Reiter unverzichtbar), die scheinbar mit dem Bühnenboden bzw.  der  Bühnenwand verwachsen sind, wodurch das Mehrdimensionale des Raums besonders zum Vorschein tritt. Der italienische Text gleitet darüber bzw. daneben in verschiedenen Richtungen hinweg. Diese Anordnung passt zum Begriff „tangenziale“ für „Ausfallstraße“, der ja auch das Geometrische mit dem Begriff „Tangente“ impliziert. In der italienischen Version taucht die Leiter mit „poi caddi giù“  („dann fiel er ab“) übrigens gar nicht auf.

„Manicomio“ entspricht im Original der „Nervenanstalt“,  „allarmi di sicurezza“ den „Sicherheitsnotsignalen“ und „micidiale schizofrenia“  der „lebensbedrohlichen Schizophrenie“, so dass hier recht nah übersetzt wurde. Die feminine Endung in „impazzita“ („verrückt“) ist sicher absichtlich gewählt, um mit der unpersönlichen Du-Anrede auch weibliche Personen einzubeziehen, da sonst „cavaliere“  ausschließlich männlich als „figlio della città“, also als „Kind dieser Stadt“ gezeichnet würde. Die Übersetzung ist hier auch positiver gestimmt, da es heißt, dass einem dort geholfen wird, falls man nicht schon verrückt geworden ist: „E se non sei già impazzita / lì certo qualcuno t’aiuterà.“  Joachim Witt nutzt den Komparativ „verrückter“ im Gedanken an eine Verschlimmerung: „Gehn Dir die Nerven durch / Wirst du noch verrückter gemacht.“

Die hinzukommenden zahlreichen floralen Elemente und ein Paar Damenschuhe – sicher eine Anspielung auf die Damenträume des Sängers im Originalvideo – ranken sich an die Leitern und werden dann im letzten Viertel des Liedes wieder entfernt, so dass wiederum das Ausgangsbild wiederhergestellt wird. Zwischen Bühnenauf- und -abbau wird zwischenzeitlich ein Vorhang zu- und aufgezogen, als von „vere cause de la malattia“ die Rede ist. Hier setzt das Lied auch kurz aus – es wirkt wie ein musikalisches Fragezeichen, um zu verdeutlichen, dass die wahren „Ursachen“ der Krankheit nicht bekämpft werden können (im Original wird das Wort „Krankheit ausgespart).

Cavaliere d'argento - Bild zum Text
Standbild aus dem Musikvideo zu Cavaliere d’argento von der Crucchi Gang (2’41”)

Die Blumen wirken wie eine Hommage an den silbernen Reiter, der  von der Lebensleiter gefallen ist. Das Lied heitert zusammen mit dem Video eindeutig auf, so dass der  düstere Text weniger Gewicht erhält. Das passt gut zu dem Gedanken, dass Musik auch befreiend und sogar heilsam wirken kann. Es tut gut, dass man sich von der Abbildung der besungenen Wirklichkeit entfernt und stattdessen eine artifizielle Bühnenwelt durch einen Vorhang geschlossen und wieder geöffnet wird. Statik und Dynamik erhalten zusammen mit der Symmetrie eindeutig Orientierung, was gerade dann von Bedeutung ist, wenn man von der Bahn abgekommen ist.

Bestellen kann man verschiedene Tonträger (Label: Vertigo Berlin) der Formation hier.

Angriffslustig: Zu einem höchst kurzweiligen Klaviertrio

Ich musste mir einen Ruck geben, von Zwickau zu einem Kammerkonzert nach Bayreuth zu fahren. Auch wenn dies dank der guten Autobahnverbindung  in ca. 75 Minuten zu bewältigen ist, so klingt es merkwürdig, für einen Konzertabend von Westsachsen nach Oberfranken den Weg auf sich zu nehmen. Bis in die 1990er Jahre, also bis zur Fertigstellung der Elstertalbrücke der A72, muss dieser Weg auch noch nach der Wiedervereinigung zäh gewesen sein – und bis zum heutigen Tag hat man so gut wie keine Chance, angemessen mit der Bahn in den späten Abendstunden diesen Weg zurückzulegen. Die Gefahr des Strandens in Hof ist nicht gerade niedrig. 

Doch weil ich unbedingt einmal den renovierten Veranstaltungsort „Das Zentrum“ wiedersehen wollte, den ich im Festspielsommer 2004 so oft als Praktikant des Festival Junger Künstlers aufsuchte, hatte ich einen Grund mehr, mich nach der Arbeit ins Auto zu setzen. Dass während der Konzertpause von zwei Konzertbesucherinnen abfällig über diesen, etwas spröden Ort gesprochen wurde, konnte und wollte ich nicht hinnehmen, denn ein Jugendkulturzentrum sollte kein prachtvoller Ort sein. Es steht für neuartige Formate zur Verfügung, was das Publikum  auch anzuerkennen wusste:  Das schöne Wort „extravagant“ schnappte ich als Kommentar zum Programm auf. Der Ort schafft letztlich den Rahmen für dieses positive Urteil!    

Mich reizte besonders ein hervorragend zusammengestelltes Konzertprogramm, das als „Trios des femmes“ betitelt war. Die Kulturfreunde Bayreuth luden dazu Ende November 2022 das junge Trio Lilium (Silvia Rozas Ramallai, Flöte; Max Vogler, Oboe; Knut Hanßen, Klavier) ein. Ausschließlich wurden Werke von Komponistinnen aufgeführt, von denen ich zuvor nur Clara Schumann und Lili Boulanger zuordnen konnte. Vor allem reizte mich das zuletzt gespielte Trio der aus London stammenden Madeleine Dring (1923-1977), das anders als die zuvor gespielten Trios von Germaine Tailleferre und Mélanie Hélène Bonis für die Originalbesetzung Flöte, Oboe und Klavier komponiert worden war.

Zu Beginn  des Neuen Jahres könnte keine Spielanweisung besser passen als „with attack, but not too heavily“. Sie steht am Anfang des Trios aus dem bewegten Jahre 1968. Dieses strahlende C-Dur-Harmonie ist zusammen mit dem ausgeklügelten Rhythmus unverwechselbar. Das Notenbild zeigt die vielen Taktwechsel, die mich an einen Schwank erinnern, wobei im Wort ja auch das Schwankende, Wechselhafte steckt. Humor, Witz und Freude lassen sich kaum besser instrumentieren:

Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 1 – 10.
Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 11-22.

Was mich beeindruckt, ist die lebensnahe Charekteristik dieser Musik, die sich auch im schlichten zweiten Satz, der Ohrwurmpotenzial hat, und dem teils anmutigen („gracioso“), teils virtuosen („brillante“) dritten Satz zu hören ist. Sonst hätte auch nicht die Intendanz der Bielefelder Philharmoniker ein kleines (Appetizer-) Video mit dem schönen Titel Der Klang der Stadt gedreht , in dem der erste Satz von Drings Trio vom Trio Tastenwind interpretiert wird, wobei hier die Oboe durch die Klarinette ersetzt wurde.

Im Programmheft, das das Trio Lilium ausdrücklich vor dem Konzert als gut recherchiert lobte, steht zu Madeleine Dring:

Dring strebte danach, in ihren Kompositionen Neuheiten und überraschende Momente zu präsentieren in der Hoffnung, dass ihre Musik einerseits ein klein wenig schockierend wirkte, andererseits aber den Hörer auch zum Schmunzeln brachte.

Der Pianist Knut Hanßen vergaß nicht zu erwähnen, dass Drings Ehemann ein Oboist gewesen ist, was sich sicher förderlich für die Komposition auswirkte. Darüber hinaus steckt in dieser Musik so viel Bühnenreifes, dass es nicht verwundert, wenn ich lese, dass Dring „Musik für Revuen, für Theaterstücke und für Fernsehproduktionen von Bühnenstücken“ schrieb. Mit diesem Schaffen ist es nicht leicht, bekannt zu werden, weil es sicherlich keine großen, opulenten Werke sind. Das ist bei vielen Komponisten nicht anders – nur die wenigsten werden wirklich bekannt.  Umso wichtiger, sich regelmäßig Kompositionen zu widmen, die einem womöglich nur einmal im Leben live begegnen. Dem Trio Lilium bin ich genauso dankbar wie den Kulturfreunden Bayreuth.

Das Konzertprogramm findet sich hier. Die Noten des Trios lassen sich über die Seiten der Pianistin Caecilia Boschman finden. Auf Youtube gibt es eine gute Aufnahme mit Jeanne Baxtresser (Flöte), Joseph Robinson (Oboe), und Pedja Muzijevic (Klavier).

Kleinkunst – ganz groß: Über das Lied „Güterzug“ von Sebastian Krämer

Es könnte eine Szene aus einem film noir sein, wie ich sie kurz nach 22 Uhr am Karfreitag 2022 erlebt habe: Kurz vor meinem Ziel in Berlin musste ich auf der Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Köpenick und Kaulsdorf in einem Waldgebiet (in der Nähe des S-Bahnhofs Wuhlheide) einen Güterzug abwarten, der in einem quälend langsamen Tempo den Bahnübergang passierte. Und bei den im wahrsten Sinne des Wortes ungezählten Güterwaggons dachte ich mir, dass hier noch eine veritable Geduldsprobe auf mich wartete.

Der Liedermacher Sebastian Krämer hat das „Telefonlied“  eingeführt, und wahrscheinlich wird man ihn nicht dabei kopieren.  Mit der einen Hand Klavier spielen und mit der anderen Hand telefonieren,  das ist natürlich dämlich, doch es passt genau in sein „Güterzug“-Lied hinein. Es  ist eine Realsatire genau auf das, was ich erlebt habe, nur mit dem Unterscheid, dass ich in Berlin unterwegs war und der Interpret in seiner Heimat Vlotho an der Weser. Auch wenn Krämer im Mitschnitt behauptet, real vor der Schranke nicht zum Smartphone gegriffen zu haben, so ist es ein plausibler  Gedanke, während des Passieren-Lassens eines nicht aufhörenden Güterzugs live die Außenwelt über die Verspätung zu informieren. Auch das Filmische kommt zur Geltung. Erst ist es im Lied nur die Situation, die filmische Züge (Stichwort: Güterzug als störendes, womöglich retardierendes Motiv in der Handlung) trägt, dann werden die Waggons zur Projektionsfläche für filmische Bilder und damit zum Motiv:

Der Zug ist ein Kino, das mir einen Kurzfilm zeigt.

Auf den Planen der Wagen sind Bilder

zu einem Film angehäuft,

der hier mir vor mir als Spot

und gütiger Gott

in ‘ner Endlosschleife läuft.

Auch der Film zeigt ‘nen Güterzug und einen Mann.

Es hat was von Schlingensief:

Der Mann springt in den Zug;

Das ist nicht gerad’ sehr klug.

Denn Blut spritzt aufs Objektiv.

Doch stets wenn der Kurzfilm vorbei ist

entsteht eine Lücke im Lauf;

‘ne Sekunde lang

prangt nur Schienenstrang

Und der Zug hört für kurze Zeit auf.

(…)

Ich glaube, dass das meine Chance ist:

Ich schaff’ mir den Rhythmus drauf.

Es ist alles nur Timing,

ich springe mich frei,

bis dann Schatz, ich leg jetzt auf.

Als das Sänger-Ich auflegt, ist neben dem Lied, das in der Klavierstimme hämmernd den Güterzug nachahmt und die Singstimme einen  gehetzten Tonfall anschlägt (auch das ist authentisch) – auch das Leben vorbei.  Der Pianist fällt buchstäblich vom Hocker, als er sich frei springt! Hier könnte man an einen Filmriss denken.  Diese Horrorvorstellung gehört zum film noir, sonst wären Genreerwartungen nicht erfüllt.

Das Fiktive in das Reale so einzuarbeiten, dass ein Güterzug geradezu surreale Züge erhält, lohnt eine nähere Untersuchung. Einen Kurzfilm als Endlosschleife vor sich zu sehen – besser lässt sich die in die Länge gezogene Wartezeit mitsamt der Ungeduld des Wartenden nicht bebildern. Die Filmlücke ist gleichsam eine Zeitlücke, die zur vermeintlichen Befreiung dient. Doch ein Ausbruch aus dem Lauf der Zeit, den der Zuglauf materialisiert, ist unmöglich. Auch wenn das Sänger-Ich Timing und Rhythmus plant, bleibt es buchstäblich auf der Strecke. Im Französischen ist übrigens „train“ mit „(Lebens-)Tempo“ und gleichsam als Doppel-Gespann (also „train-train“) mit Alltagstrott
gleichbedeutend , was ja auch ein gewisses Tempo suggeriert. Und da wären wir wieder bei der Musik. Ganz klar zeigt sich: In ihrer Vielschichtigkeit erschafft die Kleinkunst von Sebastian Krämer in kürzester Zeit großes Kino!

Dass der Westfale Sebastian Krämer im Vereinsheim Schwabing (der Mitschnitt vom Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2021 ist leider nicht mehr verfügbar) auftreten durfte, ist für einen „Preißn“ natürlich Ehre genug. Im „Feierabend TV“ gibt es ab 1 h 40 Min. etwas kürzere Alternative: Die knapp vier Minuten sind wirklich kurzweiliges Kabarett! Seine Tourneedaten lassen sich auf seiner Homepage einsehen.

Kurzweilige Langeweile – Über den “Ennui” in einem Kunstlied von Francis Poulenc

Ein Liederabend, der motivisch das Wechselbad der Gefühle In Sachen Liebesbeziehungen vorführt, wird gegenüber Sturm-und-Drang-Augenblicken sowie romantischen Phasen noch dazu konträre Stimmungsbilder aufbieten müssen. Doch was ist eigentlich anti-romantisch? Einen Begriff dafür ist nicht leicht zu finden. Das Französische hat mit dem Wort „Ennui“ dafür einen wahren Volltreffer im Angebot.  Denn es bedeutet nicht nur „Langeweile“, sondern auch „Überdruss“ und auch „Ärgernis“. Im Deutschen ist der Begriff nicht nur in der Wissenschaftssprache, sondern auch gelegentlich in den Printmedien zu finden.

Am 20. März 2022 boten Christina Maria Heuel (Sopran) und André Gass (Bariton) einen seit langer Zeit konzipiertes und sehr kurzweiliges Abendprogramm im Zwickauer Gewandhaus. Ich war vor allem von einem Lied begeistert, dessen Text aus der Feder von Paul Valéry stammt und von Francis Poulenc im Jahre 1940 komponiert wurde. Zwischen Text und Musik vergingen gut 20 Jahre! Den Titel Colloque würde man in der Bedeutung „Kolloquium“ gar nicht verstehen. In ironischer Manier bezeichnet das Wort laut dem
französischen Wörterbuch Le Petit Robert auch eine Unterhaltung („conversation“, „entretien“) Ein akademisches Gespräch findet ja mitnichten statt. Und im Lied singt zuerst der Bariton und dann nachfolgend die Sopranistin. Das ist erklärungsbedürftig.

Valéry schrieb „pour deux flûtes“ als Untertitel in Klammern dazu. In der ersten Publikation 1939  (also vor der Vertonung) in der Nouvelle Revue Française ist von „Pièce ancienne, composée pour être en musique“ die Rede.  In einer weiteren Ausgabe 1942 erfolgte die Widmung an Francis Poulenc mit dem Zusatz: „qui a fait chanter ce colloque“.  Valery wünschte sich also eine Vertonung, wie auch immer sie umgesetzt würde.  Wie wohl die zwei Flöten geklungen hätten? Geheimnisumwittert sind Valérys Texte ganz gewiss – und hier ebenso faszinierend. 

Der Bariton soll „sec“  und „très insensiblement“ singen; er trägt das Gefühlslose in sich. In ihm macht sich ein ennui breit, die er ganz zu Beginn von einer sterbenden Rose auszugehen vermeint:

D’une rose mourante

L’ennui penche vers nous

Tu n’es pas différente 

Dans ton silence doux

De cette fleur mourante;

Elle se meurt pour nous…

Das stille Sterben einer Rose verkörpert das Gegenüber. Der ennui scheint geradezu die Schönheit der Blume zu ersetzen!  Im Liedblatt wurde ennui mit „Langeweile“ übersetzt, doch „Überdruss“ scheint mir passender zu sein. Peter Schwanz übersetzte es für die Valéry-Gesamtausgabe im Insel-Verlag gleichfalls mit „Überdruss“.  Im Le Petit Robert wird dieser Begriff mit den Stichworten „mélancolie vague“ und „lassitude morale“ erklärt, was gut beschreibt, einer Sache einfach überdrüssig zu sein.  Der Sänger vergleicht sein Gegenüber mit zwei anderen Geliebten, von denen die eine ihm nicht zuhört und die andere ihm ergeben ist. Für ihn sind sie allesamt „genauso“ (laut Liedblatt) bzw. „ähnlich“ laut der Gesamtausgabe („pareil“), was einen Überdruss nicht besser verdeutlichen könnte. Es gibt für ihn keine persönliche Differenzierung: Es werden nur Sinnesorgane (Mund, Ohr) genannt, die für die Reize stehen, jedoch nicht den Geist ansprechen.  Die Noten sprechen mehrfach eine deutliche „Sprache“, gleichen sie doch in ihrer Abfolge einem lieblosen Vortrag:

Ausschnitt aus dem Bariton-Part in Francis Poulencs Colloque (1940)

Dass eine Schnittblume „für uns“ stirbt, entspricht der Wirklichkeit, denn was gepflückt ist, kann nicht lange weiterleben. Sie opfert sich für uns, ohne dass hier etwas Leidenschaftliches zur Geltung kommt. Der ennui lässt die Passion im Keim ersticken. 

Die Sängerin erwidert, dass Liebe nur frisch und spontan möglich ist. Was bringen schon die Erinnerungen an längst Vergangenes? Das Notenblatt zeigt hier mit der Anweisung „très doux“ und den schnell wechselnden, teils zauberhaft klingenden Harmonien das Gegenteil von „ennui“.  Der Gesangsvortrag soll einschmeichelnd und zugleich originell sein:

Ausschnitt aus dem Sopran-Part in Francis Poulencs Colloque (1940)

Es gibt in diesem Gedicht keine Antwort mehr – zwei Positionen stehen sich gegenüber.

In seiner 1935 gehaltene Rede mit dem schönen Namen Bilanz der Intelligenz (bilan de l’intelligence), auf die Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren (Klett-Cotta, 2021) hingewiesen hat, stehen folgende Schlüsselsätze aus der bereits erwähnten deutschsprachigen Gesamtausgabe (S.105), von denen die Autorin die ersten zwei Sätze zitiert:

Sprunghaftigkeit, hastiges Unterbrechen, überraschende Ablenkung machen allenthalben unsere Daseinsbedingungen aus. Bei vielen Individuen ist geradezu eine Sucht danach entstanden, und sie nähren sich im Geistigen gewissermaßen nur mehr von plötzlichen Abschweifungen und ständig wechselnden Reizen. „Sensationell“ und „beeindruckend“ charakterisieren als Schlagworte die ganze Epoche. Wir ertragen keine Dauer mehr. Wir können die Langeweile nicht mehr fruchtbar machen.

Im Französischen heißt der letzte Satz des Zitats im Original: „On ne sait plus féconder l’ennui“.  Wie auch immer man hier Langeweile begreift, scheinen doch diese Sätze im Zeitalter des Smartphones gültiger denn je.  Was nicht reißerisch daher kommt, wird kaum noch beachtet.  Im Colloque wird ennui künstlerisch in Kürze dargestellt und gespiegelt. Ästhetisch und kulturphilosophisch höchst ansprechend.

In der älteren Insel-Gesamtausgabe (Paul Valéry: Werke) steht im 1. Band mit dem Untertitel „Dichtung und Prosa“ die zweisprachige Version des Colloque auf den Seiten 222-225. Hier eine CD-Aufnahme des Lieds aus dem Jahr 2018. Valérys erwähnter Aufsatz Bilanz der Intelligenz ist im 7. Band („Zeitgeschichte und Politik“) nachzulesen; im Original ist er online verfügbar. 2021 wurde die Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag neu aufgelegt. Das Originalgedicht lässt sich hier nachlesen. Die Noten sind über die Plattform IMSLP abrufbar.

Weinerlich – lächerlich: Über das Lied „Tutorial“ von Erdmöbel

Als ich 2002 mein Studium begann, war das Veranstaltungsformat namens Tutorium auf die akademische Welt beschränkt. Heutzutage sind vor allem dank Youtube Tutorials in der breiten Gesellschaft angekommen. Vieles lässt sich heute am Bildschirm ohne klassischen Unterricht erlernen. Neulich hörte ich noch einen Spaziergänger sagen, dass er die Kombination aus Bild und Ton zum Verständnis der Erklärung sehr hilfreich finde. Wer wollte ihm da widersprechen? Eine moderne Bedienungsanleitung ist im Grunde ein Erklärvideo.

Die deutsche Band Erdmöbel hat ganz besondere Liederformate auf Studioalben gebannt und zeigt ihr hohes Maß an Kreativität und Gespür für Ironie. Das Lied Tutorial auf dem 2018 erschienenen Album Hinweise zum Gebrauch ist von seiner Gestaltung besonders; insofern verwundert es nicht, dass es auch noch durch einen Kurzfilm bebildert wird. Die Genregrenzen werden hier gleich mehrfach überschritten: Wodurch kann man ein Lied von einem Sprechgesang unterscheiden und wodurch ein Kurzfilm von einem Musikclip? „Tutorial“ erzählt davon, wie man online das Weinen erlernen kann. Das ist natürlich starker Tobak, denn Weinen gehört zu den Handlungen, die im Grunde keiner erlernen will. Es gibt jedoch Fälle, wo weinerliches Verhalten angebracht sein kann: Am ehesten sind Fake-Tränen im Schauspiel erwünscht, wenn sie die Rolle quasi vorschreiben.

Die Schlagwörter im Lied zum guten Gelingen heißen „Glücklichkeitsersatz“ als „eine echte Sache, eine echte Erinnerung, eine Person oder einen Ort, der euch vollkommen glücklich macht“; analog dazu wird  ein „Traurigkeitsersatz“ verlangt. „Ersatz“ ist sogar im Französischen als Wort (z.B. „ersatz de café“) bekannt und kann im extremen Fall auch wie ein Fake wirken.

Tutorial zeigt die Methode, die in Form eines Countdown vom Himmelhoch-Jauchzend-Gefühl zum Tode-Betrübt-Gefühl leiten soll und somit das Weinen als Ziel-Stimmung auslösen soll:

Was wir hier machen, wird die Zehn-bis-Eins-Methode genannt. Das heißt, man zählt einfach herunter, all die Zahlen von Zehn bis Eins, und dann am Ende, wenn ihr ankommt, an dem Zeitpunkt, wo ihr unten zur Eins kommt…also Leute, ihr wisst Bescheid, da kommen die Tränen. Bevor wir anfangen, muss ich nochmal betonen, dass es eigentlich nie darum geht, echte, physische Tränen zu erzeugen, sondern wir wollen Gefühle abbilden. Und was macht ihr normalerweise, wenn ihr weint? Normalerweise weint ihr nicht. Also ihr brecht nicht einfach in Tränen aus, meine ich. Normalerweise versucht ihr, wenn ihr weinen müsst, erstmal nicht zu weinen, die Traurigkeit zurückzuhalten. Und genau darum hat es mehr Kraft, viel mehr Kraft, wenn man versucht, so auszusehen, als wollte man lieber nicht weinen. Das ist es, das ist irgendwie genau der Kern dieser Übung. 

Der Kurzfilm unter der Regie von Dennis Todorovic ist passend zur
„Zehn-bis-Eins-Methode “ mit zehn namhaften Schauspielerinnen (u.a.  Corinna Harfouch und Eva-Maria Kurz) besetzt. Er wurde 2019 unter anderem auf dem Filmfest Dresden vorgeführt.  Das Lied, das in der Albumversion mit gut acht Minuten überdurchschnittlich lang ist, wurde für den Film leicht gekürzt. Mal sieht man die Akteurinnen stumm und mit Fake-Gefühlen ringend, mal bewegen sie ihre Lippen zur entlehnten Stimme von Erdmöbel-Sänger Markus Berges, so dass die unterschiedlichen Rollen im Tutorial wie ein Stimmungskollektiv erscheinen. Zu Anfang des Films werden auch weitere Akteure (Maskenbildner, Beleuchter) gezeigt, so dass die Filmkulisse als realer Lernort für Fake-Tränen inszeniert wird. Am Schluss wird der Countdown, deren Zahlen einen vorgegebenen Gefühlszustand repräsentieren, bis zur Zwei von einem Stimmen-Kollektiv und Berges doppelt heruntergezählt; bei der Zehn sorgt der „Glücklichkeitsersatz“ noch ausschließlich für extatisch strahlende, geradezu siegestrunkende Gesichter; schon bei der Neun beginnen diese zu verhärten; mit jeder weiteren Zahl macht sich mehr und mehr Ernüchterung breit, die in Niedergeschlagenheit und Fassungslosigkeit mündet. Das letzte Wort ist die Eins; Berges‘ Stimme kommt schließlich aus dem Mund der verweint aussehenden Lisa Martinek, womit der Film mit seiner Begleitmusik sang- und klanglos endet.

Das Lied ist kein Hörgenuss, was Erdmöbel sicher auch nicht beabsichtigt haben. Es ist im Grund ein schnoddriger Monolog,  der aus dem Mund eines Online-Tutors kommen könnte, begleitet von einem repetitiv-monotonen Klangteppich und lyrischen Einsprengseln einer Querflötenstimme. Man kennt diesen Ton, wenn man häufiger Erklärvideos anschaut: Das Pseudo-Kumpelhafte ist mitunter schwer zu ertragen, doch anscheinend gehört es zu einem Tutorial dazu. Erdmöbel imitieren diese Art von Rhetorik; die Kunst liegt darin, über die inszenierte Ernsthaftigkeit des Sprechgesangs (ausgeführt durch Markus Berges) gewisse Lehr-Stücke als Fake zu entlarven. In der Debatte um Authentizität und Fälschung  bietet „Tutorial“ ganz wesentliche „Hinweise zum Gebrauch“.

Die Homepage von Erdmöbel enthält viele Konzerttermine;
„Hinweise zum Gebrauch“ gibt es u.a. bei jpc zu bestellen. Außerdem gibt es hier eine vollständige Liste aller beteiligten Schauspielerinnen.

Die schwärmerisch besungene Stadt

Das Internet hält viele Informationen als Wissensspeicher für ein größeres Publikum vor. Neulich hörte ich im Radio wieder eine der bekanntesten Chansons überhaupt: Paris s’éveille von Jacques Dutronc. Der Text ist mit seiner musikalischen Ausgestaltung genial; dafür braucht es keine Übersetzung ins Deutsche. Und doch war ich froh, dass sich eine Privatperson namens Dieter Kaiser die Mühe gemacht hat,  unter anderem auch diesen Chanson-Text aus dem bewegten Jahr 1968 ins Deutsche übertragen zu haben – ohne den Reim als Klangmittel zu vernachlässigen.

Wenn man auf Youtube Jacques Dutronc singen sieht und hört, dann reicht eigentlich dieses Stimmungsbild schon aus, um sich das erwachene Paris vorzustellen: Die Querflöte als malerische Klangkulisse zusammen mit dem unwiderstehlich preschenden, gleichmäßigen Puls der Stadt, der vom Schlagzeug wie der Sound eines Spinnereibetriebs imitiert wird. Das scheinbar unabhängige Nebeneinander von Blas- und Schlaginstrument ist wie eine Signatur eines Nachtschwärmers, der das Grundtempo der Stadt mit elegisch-verträumten Charakterzügen des singenden Ichs verknüpft.

Allein die erste Zeile ist als Ansage großartig: „Je suis le dauphin de la Place Dauphine “. Die Übersetzung „Ich bin der Fürst am Fürstenplatz“ kann das Mehrdeutige der pikanten Selbstvorstellung als Thronfolger, als (sportlicher) Verfolger und als Delfin nicht aufnehmen. Die mitten in Paris auf der Île de la Cité gelegene Place Dauphine ist eine zudem recht bekannte Sehenswürdigkeit; weniger fürstlich, eher bürgerlich scheint der Fürstenplatz im Berliner Westend und der Fürstenplatz  in Düsseldorf -Friedrichstadt daherzukommen.

Eine weitere Doppeldeutigkeit ist das Backwerk namens „bâtard“, Im Französischen ist es neben einer Baguette-Variante mit weniger Hefeanteil – laut dem Wörterbuch Petit Robert ein „pain de fantaisie“ – auch ein Wort mit (historischem) Beigeschmack, das neben einem Mischling im Tierreich ein nach antiquierten Vorstellungen nicht legitim zur Welt gekommenes Kind bezeichnet; „Bastard“ ist ja auch im Deutschen (zum Glück) aus der Mode gekommen. Die beiden Verse „Paris by night, regagne les cars / Les boulangers font des bâtards“ in der Übersetzung „Süßbrot gibt es als Morgengruß“ / „Paris by night steigt in den Bus“ kann man getrost annehmen, um den Reim einigermaßen retten zu können.

Eine Strophe stelle ich in ihrer Gänze vor: Drei Sehenswürdigkeiten darin zusammen ästhetisch zu verdichten ist meisterlich. Das mit ihnen in Verbindung gebrachte Fröstelnde, das Wiederbelebte und Artige zwischen Tag und Nacht thematisieren poetisch das Kaltherzige, Geistreiche und zugleich Tugendhafte; Eigenschaften, die in einer Großstadt zu beobachten sind:

La Tour Eiffel a froid aux pieds

L’Arc de Triomphe est ranimé

Et l’Obélisque est bien dressé

Entre la nuit et la journée

Dieter Kaiser hat die den Monumenten angedichtete menschliche Aura beibehalten können:

Der Eiffelturm hat kalte Füß

Der Triumphbogen wird begrüßt

Der Obelisk hält noch die Wacht

Am Tage und in der Nacht

Musikalisch hat eine solche Übersetzung wenig Verwertungschancen, selbst wenn sie Inhalte der Liedkunst übertragen kann. Anders sieht es mit einer vollkommen neuen Textversion des Originals aus: 1969 hat der fast vergessene Sänger Wolfgang Thümler alias Bob Telden eine deutschsprachige Version mit dem Titel Berlin erwacht auf Schallplatte eingesungen. Sie blieb eher unbekannt, ist aber eine passable Kopie, die die Genregrenzen überschreitet, da die Chanson zugunsten des Schlagers eingetauscht wird. Es gibt mehrere interessante Bezugspunkte zum Original, zum Beispiel die menschlich gestimmten Eigenschaften von Bauwerken, die auf den Nachtschwärmer verweisen:

Der alte Funkturm blinzelt müde noch ins erste Sonnenlicht / ein Bäckerjunge fährt die Brötchen aus, den Schlaf noch im Gesicht

Auch werden bekannte topografische Orte eingebunden, und zwar in ganz pragmatischer Art und Weise, wobei das Busfahren wie bei Jacques Dutronc nicht zu kurz kommen darf:

Der erste Bus fährt mich vom Grunewald zum Bahnhof Zoo / vom ersten Kuss in einer Bar ich weiß nicht wo.

Bus und Bahnhof kommen erfreulicherweise in beiden Versionen vor: Bei Dutronc wird die Gare de Montparnasse zu einer „carcasse“. Das Bild eines Gerippes passt nicht nur vom Reimschema her, wenn man das gerippte Bahnhofsdach im Innern ohne Menschenströme als Belebung des Raums betrachtet. Dieter Schwarz hat das Wort „Karkasse“ im Deutschen übernommen; nur wenigen dürfte es geläufig sein, dass es in der Gastronomie verwendet wird.

Immerhin kommt dann doch das legendäre West-Berliner Nachtleben zur Geltung:

Der Kudamm fasziniert auch ohne seinen hellen Neonschein / gleich um die Ecke steigt ein Gogogirl in eine Taxe ein.

Der deutschsprachige Version ist eher die höfliche Variante; man könnte sich auch mit dem Herz der Provinz vorstellen.  Faszinierend ist, dass Original und Kopie nur ein Jahr voneinander trennen. Es weht also der gleiche Zeitgeist in den Stücken. Doch nur das Original kann einen gesanglichen Mythos schaffen. Es wird wirklich (wieder) Zeit, sich früh morgens durch Paris zu bewegen und dann (auf) das Lied von Jacques Dutronc zu hören.

Fließender Übergang – Über tanzbaren Elektropop von Yelle

Am Jahresende werden Rückblicke und Ausblicke gewagt – auch ohne (Silvester-)Partystimmung, die nach 2020 auch 2021 aus den bekannten Gründen nicht aufkommen konnte – doch bekanntlich sind Liebe, Freundschaft und Wertschätzung viel wichtiger als kurzlebige Euphorie.  Gute (Elektro-) Musik kann auch weit ab von Festen und Feten für die gewünschte Stimmung sorgen.  Im Dezember schaute ich in der Arte-Mediathek vorbei, wo „in concert“, jedoch ohne Zuschauer, die französische Sängerin Yelle alias Julie Budet sich präsentieren durfte. Ich war angetan von ihrem Sound, der hierzulande in Funk und Fernsehen selten zu hören ist. Ganz besonders hat mich das Lied Je t’aime encore angesprochen. Die (Wort-)Bindungsstärke der französischen Sprache  erzeugt zusammen mit ihrer Weichheit einen kaum zu übertreffenden Flow im Gesang. Das dazugehörige Musikvideo bildet eine weitere Dimension des fließenden Übergangs von der Stimme zum Bild. Wenn die Sängerin im Friseurstuhl sitzt und der Friseur den Rhythmus mit seinen Körperbewegungen aufnimmt, dann entsteht – das Wortspiel sei erlaubt – eine Ha(a)rmonie, besonders bei „tourner“, wenn die zu frisierenden Haare gezwirbelt werden. Der Clou des Videos besteht darin, dass der Friseur sich zum Schluss die Frisur seiner Kundin quasi überstülpt, während er sich auf den Friseurstuhl stellt und damit sein vor ihm stehendes Gegenüber überragt. Ihre Erscheinungsbilder gleichen sich sekundenschnell einander an – ein fließender Übergang.

Die Interpretin, die im Lied die Reisefreiheit von Tokio über Portland bis Barcelona genießt, bemerkt, dass sie zwar ihr geliebtes Gegenüber bewundert, dem sie als treue Seele jedoch nur mehr über die Distanz etwas zu sagen hat, auch weil er sich nach ihrem Eindruck wie ein kaum 20-jähriger verhält. Wer ist nun das Gegenüber, das im Lied adressiert wird? Wohl kein Mensch, sondern Yelles Heimat Frankreich, das sich im Lied in das Bekannte wie in eine wärmende Rettungsdecke einwickelt:

J’écris mon histoire ailleurs pour avoir des choses à te dire
Je te l’ai jamais dit, d’ailleurs, à quel point, quel point je t’admire
Tu t’enroules dans ce que tu sais comme dans couverture de survie
Elle est brillante, elle te plaît, mais pourquoi, pourquoi tu la suis?

Die Frage nach dem Warum des Sich-Eindeckens wird offen gelassen. Das Bild der Rettungsdecke ist nicht leicht zu deuten: Assoziativ lässt sich im weiß gestimmten Frisier-Video jedoch das Überstülpen der femininen Haarpracht  als schmucker Schutz vor etwas Ungewissem erklären, gerade wenn man bedenkt, dass der Friseur alles andere als volles Haar trägt – einige kahle Stellen könnten sogar als unschön gelten. Wenn man bedenkt, wie oft man im wirtschaftspolitischen Kontext in Deutschland von Rettungsschirmen gesprochen hat, ist es einmal wohltuend, eine andere Metapher für einen gewissen Schutz auf Französisch zu erhalten, ohne abschließend klären zu können, welche Art von Rettung (-smanöver) hier genau gemeint ist.

Jo Peters bezeichnet im Musik-Magazin With Guitars das Lied als einen „bittersweet love song”, in dem „the complex relationship between Yelle and its native country“ subtil thematisiert wird.  „It’s romantic, colored with synthetic sighs and imbued with a kind of longing.“  Zwischen Seufzern und Sehnsucht: Romantik ist auch im Synthie-Pop gut aufgehoben. Dazu passt, dass Yelle im gleichen Artikel mit den Worten zitiert wird, dass es sich um einen „love letter“ an ihr Heimatland Frankreich handele. Tanzbare Musik als Verpackung für einen Liebesbrief ist sowohl in Diskotheken als auch daheim bestens aufgehoben!

Das Musikvideo ist im zitierten Musik-Magazin eingebettet. Unbedingt sollte das Lied auch innerhalb des Arte-Konzertmitschnitts angehört werden, um noch einen intensiveren Höreindruck von Yelle zu erhalten. (Es folgt nach gut 18 Minuten und 13 Sekunden.)

Seidene Klänge – Über ein Klavierkonzert namens “Silk Road”

Straßennamen können banal oder auch sehr klangvoll sein. Wer einmal durch Regensburg spaziert, der trifft möglicherweise auf die Weißen-Lilien-Straße und die Schwarze-Bären-Straße. Es gibt auch Straßen, die außerhalb geschlossener Ortschaften klingende Namen besitzen: Man denke nur an die Romantische Straße oder an die Deutsche Alleenstraße, die für touristische Zwecke geschaffen wurden.

Ganz und gar untouristisch ist die Seidenstraße, die genauso wie die  mit milliardenschweren Investitionen aus China seit 2013 geprägte „Neue Seidenstraße“  auch auf keiner Landkarte eingezeichnet ist, sondern vielmehr interkontinentale Handelsbeziehungen mit Kooperationspartnern auf dem See- und dem Landweg beschreibt. Von der Antike bis ins Mittelalter entwickelte sich die Seidenstraße, ohne dass diese unvorstellbaren Distanzen motorisiert oder über Telekommunikation überbrückt werden konnten. Auf der Route wurden auch immaterielle Güter „gehandelt“:  Gewiss fanden über die Seidenstraße, die natürlich über mehrere Routen führte, auch Technik- und Religionsaustausch statt. Übrigens stammt der Begriff Seidenstraße aus den 1870er Jahren vom deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen.  

Neben Wohlstandsgewinnen steht die Seidenstraße nicht nur in früheren Zeiten für Gefahren und Kapriolen. Über lokale Zwischenhändler wurde Wohlstand entlang der Straße mitunter auch hart erkauft bzw. erkämpft. Auch wenn es einen zusammenhängenden Schienenstrang über Tausende von Kilometer (mit verschiedenen Spurbreiten) gibt, so wird kein zollfreier Raum durchquert. Welche Formalitäten an den Grenzen wohl jeweils zu erledigen sind? Wir können uns dies kaum vorstellen, weil es so entrückt scheint. Fahren manche Güterzüge wirklich durchgängig z.B. von der 4-Millionen-Einwohner-Stadt Xi’an in der Provinz Shaanxi (wo die Seidenstraße inoffiziell beginnt bzw. endet) bis an die Nordsee? Angeblich – folgt man Rainer Link in einem Deutschlandfunk-Bericht, ist der „Jade-Weser-Port direkt mit der chinesischen Provinz Anhui verbunden“.  Welcher logistischer Aufwand wohl dahinter stecken mag? Es geht ja nicht um bloß um einen Transfer von A nach B. Die Transitländer wollen mitverdienen, wenn durch sie schon der Korridor führt.

Im September hörte ich mit großer Aufmerksamkeit das  Klavierkonzert Silk Road („Seidenstraße “) von Fazil Say in der Interpretation von Annika Treutler und den Clara-Schumann-Philharmonikern unter dem Dirigenten Leo Siberski. Treutler stellte sich trotz einer Fingerverletzung geradezu heldinnenhaft dem anspruchsvollen Werk.  Es ist kaum zu glauben, dass Fay das Konzert bereits in den 90er Jahren als Abschlussarbeit an der Berliner Universität der Künste komponierte (Uraufführung 1996 in Boston).

Das Geschepper, Geklirre und Geraschel des präparierten Flügels bringt dem Hörer bisweilen Tonwelten nah, die auch den teils präsenten reinen Klang abblenden. Man kann sich dies gut mit Streulicht vorstellen, das eben nicht klar aufscheint. Der Ton wirkt teils auch arg zerstreut, was gut zu einer musikalischen Verflechtung von unterschiedlichen Klangwelten passt. Einen tiefen Cis-Ton, der über die ganze Konzertlänge hinweg der Kontrabassist anstreicht, ist kaum vernehmbar. Damit werde laut dem Komponisten der Erdenklang vertont. Die vier Sätze bilden größere Regionen auf der Seidenstraße ab: Tibet („White dove, black clouds“), Indien („Hindu Dances“), Mesopotamien („Massacre“) und Anatolien ( „Earth Ballad “). Say sprach 2011 vor einem Konzert davon, „Klänge von ethnischen Instrumenten“ mit Hilfe von „Mikrotönen“ und „Effekten“ imitieren zu wollen. Ein leicht hörbarer Effekt ist auch der plätschernde Regen, den die Saiteninstrumente im Finalsatz quasi akustisch produzieren. Heute würde er es eigenen Worten zufolge mit mehr authentischen Instrumenten orchestrieren.

Wenn ich mir das Konzert noch einmal anhöre, so entsteht automatisch die Vorstellung von spannungsgeladenen filmischen Szenen,  ohne dass ich an spezielle Bilder denken muss. Der Wiedererkennungswert des Konzerts ist von den ersten Takten an sehr hoch; dabei erreicht mich das mulmige Gefühl, dass mir die Geografien und die Kulturen entlang der Seidenstraße höchst unvertraut sind. Reale Erlebnisbilder tauchen also vor meinen Augen nicht auf.  Deswegen führt das Hörerlebnis von Silk Road zu keinen Erinnerungsschüben, sondern nur zum Staunen über unvertraute, im wahrsten Sinne des Wortes befremdliche Töne. Die Textur des Klanges kommt zum Vorschein: schließlich geht es ja um die Seidenstraße und nicht um Seidenglanz.

Hier hört man Fazil Say 2011 in Kiel über Silk Road kurz sprechen, bevor er den Solistenpart übernimmt. Leider ist nicht das ganze Konzert mitgeschnitten. Vollständig lässt es sich ohne Bild  mit Muhai Tang als Dirigent und dem Orquestra da Camara Gulbenkian auf einer CD-Produktion aus dem Jahr 2003 anhören.

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