Eines der spektakulärsten analogen Fundgruben in Deutschland ist sicher das Liebesbriefarchiv, das sich in Darmstadt und Koblenz befindet. Seit Ende der 1990er Jahre erschließt die Forschung diese besonderen Textdokumente. Gefördert hat die öffentliche Hand das eine oder andere große Projekt, um Wissensbestände – nach und nach digitalisiert –  nicht nur sichern, auch auszuwerten. Sogenanntes bürgerwissenschaftliches Engagement (Citizen Science) ist dabei eminent wichtig.

In einem (digitalen) Spezialarchiv, nämlich in einem Liebesbrief-Liedarchiv wäre das Lied Salle des Pas Perdus von Coralie Clément gut aufgehoben, das auf dem gleichnamigen Album von 2001 zu finden ist. Alle Lieder dieses Albums, mögen sie auch noch so unterschiedlich sein, würden ebenso bestens als Hintergrundbeschallung in einem französischen Bistro passen. Das Lied Le Jazz et le Gin sticht für mich akustisch heraus; besser könnte man Musik und Genuss nicht ineinander verschmelzen lassen.

Doch zurück zu dem deutlich leiser und schlichter instrumentierten Lied, das jedoch einen sehr auffälligen Titel hat. Auf Deutsche kann man Salle des Pas Perdus recht schnöde als Wartesaal und noch schnöder als Wartebereich übersetzen. Eine komplexe Vokabel bestehend aus vier Einzelwörtern, die im Deutschen in einem Begriff (aus zwei Teilen) münden. Wörtlich evoziert der Saal der verlorenen Schritte gewissermaßen ein Kopfkino, das zu einer Bahnfahrt in heutigen Tagen kaum noch passt. Ich stelle mir jedenfalls einen großen, schön eingerichteten Raum vor, in dem Fahrgäste hin- und herhuschen und ein Wispern zu hören ist. Smartphones sehe ich nicht vor meinem inneren Auge, und erst recht keine Kopfhörer. Also ein Bild aus der Vergangenheit. Und ein Liebesbrief würde in dieser Form wohl auch nur noch sehr selten geschrieben werden. Das Lied als Liebesbrief ist einerseits unauffällig vorgetragen (ähnlich unspektakulär wie ein Rezitativ aus einer Oper), andererseits jedoch höchst kreativ getextet. Es geht nämlich um eine attraktive junge Person, der das Sängerin-Ich in einem Wartesaal und zugleich auf dem Treppenabsatz im Hausflur begegnet ist. Sie seien wohl seit Mai Nachbarn. Ein Liebesimpuls reicht aus, um solchen einen Brief zu schreiben, und noch schöner, ihn vorzusingen.

Im Brief wird erwähnt, dass der Angeschriebene zwar den Namen der Autorin nicht kennt, wohl aber den Duft ihres Parfums. Der Kopfbahnhof Saint Lazare in Paris wird als Ort erwähnt, wo jener neue Nachbar mit einer weiteren Unbekannten, ihre Gitarre tragend, gesichtet wurde (‚Lazare’ reimt sich schön auf ‚guitare’).  So ist es ein gewisses Wagnis, ihr zu schreiben, dass er ihre „Flamme“ sei und dass sie bedauert, ihr nicht bis zum Gleis gefolgt zu sein. Sie schließt den Brief mit der kühnen Ankündigung, dass sie im Café gegenüber auf ihn abends um viertel vor zehn wartet:

Je serai à la terrasse
Du café d’en face
Ce soir à dix heures moins le quart.

Nun kann sich ein weiteres Kopfkino anschließen. Ob der Nachbar die Einladung akzeptiert? Romantischer könnte man jedenfalls kaum ein Date arrangieren.

Die Grußformel bildet mit dem Vornamen einen Reim: „Bien à vous. Lou“. Ohne Nachspiel verhallt der Song also kurz und knapp mit „Lou“.  So wird auch das formelle Ende des Schriftstücks auf das Musikstück übertragen, dessen Inhalt im Jahre 2025 schon als historisch zu bezeichnen ist, gerade in medialer Hinsicht. Das digitale Kennenlernen lag noch in den Kinderschuhen, als die Liedzeilen entstanden.

Wenn man die KI (perplexity.ai) nach Coralie Cléments Lied befragt, bekommt man erschreckend unrichtige Antworten serviert, was zeigt, wie fehlerhaft ohne Verstand interpretiert werden kann. „Eine fast flüsternde Interpretation“ sowie „intimes und poetisch-melancholisches Flair“ als Antwort auf die Frage, wie sich die Stimme der Sängerin im Vergleich zu anderen Songs unterscheidet, ist noch akzeptabel, doch dann heißt es:  „Im Vergleich zu anderen Songs, in denen sie oft melancholisch und verträumt singt, wirkt ihre Stimme hier noch zarter und verletzlicher.“ Hier gibt es keine klare Linie mehr: Wie kommt die künstliche Intelligenz auf „verletzlich“??

Die Bitte, das Lied kurz zu kommentieren, enthält folgenden Abschnitt:

Die Handlung spielt in einer Bahnstation – der „Salle des pas perdus“, ein typischer Wartesaal – und die Lyrics verwandeln das alltägliche Setting in eine melancholische Miniatur über verpasste Chancen und den Mut, Gefühle mitzuteilen. Das Stück ist im Stil des französischen Chanson gehalten und fängt mit sanfter Musik und verträumtem Gesang das nostalgische Flair Frankreichs ein, mit einem Hauch von Retro-Ästhetik. Insgesamt vermittelt der Song eine poetische Atmosphäre zwischen Alltag und Romantik, geprägt von Diskretion und Zurückhaltung.

Nun ja…so wird man dem Lied nicht gerecht. Der Kontext wird ausgeklammert, so dass man definitiv nicht von einer verpassten Chance sprechen kann. Und wie kann man auf so einen Humbug wie „nostalgisches Flair“ kommen? Damit werden Klischees reproduziert!

Auch hier wird deutlich: Ein genaueres Hinhören und Hinschauen lohnt sich, nicht zuletzt der gut komponierten Vokalmusik zuliebe!

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Texter des Liedes Coralie Cléments Bruder Benjamin Biolay und selbst recht bekannter Chansonnier ist. Das zweite Lied des Albums, L’Ombre et la Lumière (Licht und Schatten), ist genauso ein wohltuendes Hörerlebnis (wie Le jazz et le gin). Der nicht fehlerfrei wiedergegebene Text (dort steht „serais“ statt dem zitierten „serai“) findet sich zum Beispiel hier. Und auf Youtube gibt es eine Aufnahme des Liedes.