Im Sommer 2025 besichtigte ich die famose Ausstellung European Realities im Chemnitzer Museum Gunzenhauser. Einige Gemälde haben mich sehr angesprochen, gerade auch weil man beim Betrachten nicht sofort an bestimmte Stile berühmter Künstler wie Picasso und Gauguin dachte.
Zwei Gemälde von möchte ich in diesem und im kommenden Monat näher vorstellen. Das erste heißt Lied in der Dämmerung (1931).

Zum in Breslau geborenen Franz Sedlacek (1891- 1945) ist mein Wissenshunger noch nicht gestillt. Bisher konnte ich erst einige spärliche Informationen finden. Das Wiener „Auktionshaus im Kinsky“ bestätigt meinen Eindruck von einem „klar geordneten Bildaufbau“, der nicht nur für die für 55000 Euro (Nettopreis; inklusive Steuern und Gebühren: 71.000 Euro) Anfang Dezember 2025 versteigerte Tuschezeichnung von 1936 mit gleichem Motiv gilt (Schätzpreis: 15.000 – 30.000 Euro) . Mich fasziniert der bewusst vorgenommene Stilbruch: Zum einen die altmeisterliche Maltechnik, die die nicht naturalistische Lichtstimmung wunderschön herausarbeitet. Zum anderen die grafisch anmutenden Elemente wie der Kopf des Pianisten in der Ecke und die übergroße Fledermaus im Zentrum. Außerdem bilden „skurril-groteske und magisch-lyrische Bildfantasien“ soweit „alptraumartige Szenerien“ einen Vorstellungsraum, der kein üppiges Bildprogramm erfordert. Die (zu) hell gezeichnete Topfpflanze ließe mit ihren unterschiedlich ausgerichteten Blättern auch eine Bewegtheit im Raum imaginieren und würde damit die Bewegungen des Pianisten und auch der Fledermaus aufnehmen, gerade wenn man sich dazu einen vorgetragenen musikalischen (Klavier-) bzw. Orgelsatz (frz.: mouvement) vorstellt.
Wenn man bedenkt, dass der studierte Chemiker Sedlacek „Kustos für Chemische Industrie am Technischen Museum“ in Wien war, dann kann man sich vorstellen, dass Präzision eine große Rolle in seinem Werk spielt. Er ist also kein klassischer Berufsmaler gewesen. Auch als Illustrator, unter anderem in der bekannten Zeitschrift Simplicissimus, machte er sich einen Namen, der in den 1930er Jahren mehrfach mit der Österreichischen Staatspreismedaille geehrt wurde.
Nachdem ich das Gemälde Ende November wiederholt auf einer privaten Fotografie betrachtet hatte, kam ich in der anschließenden Woche mit gleich drei ganz unterschiedliche Kontexten in Berührung, in denen die Dämmerung eine Rolle spielt:
Einmal das Kunstlied Dämmrung senkte sich von oben (1873, op. 18) von Julius Otto Grimm nach einem Gedicht von Johann von Goethe, einem wunderbaren Beispiel für Naturlyrik. Der fünfte Vers „Alles schwankt ins Ungewisse“ könnte auch für Sedlaceks Gemälde gelten, denn die relative Bildleere im konkreten (Wohn-)Raum könnte auch für die Zeit gelten, die als Pendeluhr verdinglicht wurde.
Anschließend die kurze Erzählung Die Botschaft (1947) von Heinrich Böll, in der es heißt: „Es war unsagbar still, jene Stunde, wo die Dämmerung noch eine Atempause macht, ehe sie grau und unaufhaltsam über den Rand der Ferne tritt.“ Das zeitliche Innehalten – quasi ein Pausenzeichen in der Erzählung aus der Nachkriegszeit, kontrastiert mit dem Handlungsimpuls des Erzählers, der nach der Freilassung aus der Gefangenschaft eine Todesnachricht an die Ehefrau des im Juli 1945 verstorbenen Mitgefangenen übermitteln muss: „…und das brennende, zerreißende Verlangen quoll in mir auf, mich hineinstürzen zu lassen in die graue Unendlichkeit des sinkenden Dämmers, die nun über dem weiten Feld hing und mich lockte, lockte…“ Ob Böll hier an die Naturlyrik Goethes dachtet, wo bereits in zweiten Zeile die „Nähe fern“ ist? Man sieht hier schön, dass nicht nur zeitlich, sondern auch von der Stimmung her das Sedlacek-Motiv näher an Bölls erzählter Welt liegt als an Goethes Stimmungsbild.
Dass schließlich ein Cocktail mit dem schönen Namen Dämmerlicht in der stimmungsvollen Chemnitzer Bar Katz und Maus den Gedanken an die Dämmerung abschließt, wobei hier auch in der Erinnerung (Hintergrund-)Musik mitschwingt, war für mich ganz und gar eine wohltuende Sinnesfreude. Eine gute Kamera könnte den Hell-Dunkel-Kontrast, der sich bei der Betrachtung des Getränkes und des vor Ort realisierten Lichtkonzepts auftut, leicht belegen.
‚Dämmerung’, im Englischen ‚twilight’, lässt sich ja auch als Zwielicht bezeichnen. Gerade dessen Adjektiv-Form, das Zwielichtige, hat ja zuvorderst eine Bedeutung im übertragenen Sinne, wenn etwas Misstrauen oder Verdacht erweckt. Im Italienischen und im Französischen ist im Wort ‚chiaroscuro’ bzw. ‚clair-obscur’ die Hell-Dunkel-Akzentuierung als besondere Maltechnik seit der Spätrenaissance eingegangen. Licht wird ins Dunkel gebracht, um Dinge buchstäblich zu beleuchten, was auch die Interpretation beeinflusst.
Jeder Betrachter wird – wie es für surreal anmutende Gemälde typisch ist – eigene Zugänge zu Franz Sedlaceks Gemälde finden. Manch einer wird womöglich beim Betrachten des zentralen Bildobjekts an einen Vorläufer eines Fantasy-Wesens denken. Mir reicht der Gedanke an ein Abendlied, das mit einigen Dissonanzen aufwartet und keinerlei Botschaft verkündet, sondern einen Raum öffnet, in dem viele Gedanken Platz finden, die oftmals im Ungewissen begründet liegen.
Die Böll-Zitate stehen auf der Seite 6 der Aufbau-Taschenbuchausgabe Der Geschmack des Brotes aus dem Jahre 1990. Vielen Dank an den Kunstverein Villa Eugenia e.V. für die engagierte Verbreitung des Kunstliedes von Julius Otto Grimm in Form eines musikalischen Adventskalendertürchens.