Wer Nachrufe schreibt, der muss ein gewisses Gespür haben für die Seele der verstorbenen Menschen, an die in Textform erinnert wird. Ohne Einfühlsamkeit bleiben bloß biografische Fakten festzuhalten.

Der Schriftsteller und Kolumnist Axel Hacke setzt einen drauf: Er fühlt sich einfühlsam in die Figur Walter Wemut ein, dem es vergönnt ist, Nachrufe zu verfassen. Diese Todesnachrichten sind eigentlich verpackte Lebensbekundungen. So lässt sich über die Figur, in deren Namen das schöne Wörtchen „Mut“ steckt, die Brücke zu Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes Leben schlagen:Der Untertitel verweist auf keinen Pseudo-Ratgeber eines smarten Lebensberaters, sondern auf ein warmherziges und zugleich unterkühltes Erzählstück. Es ist ein Buch, das in kein Genre passt. Man könnte es als literarische Rhapsodie bezeichnen, ohne Abschnitte und Handlung. Walter Wemut fasst seine Gedankensplitter als Vorüberlegungen zu einer Geburtstagsrede „über das gelungene Leben“ in Worte.

Als Hacke am 06.11.19 im Zwickauer Sparkassenforum aus seinem Buch Wozu wir da sind vorlas, dachte ich mir sofort: Hier spricht mehr als nur ein Autor. Die Einfühlsamkeit in die Figur war vor allem an der richtigen Tonart so fühlbar, dass ich während der gesamten Lektüre diesen Sound wahrnehmen konnte. Der auftretende Schriftsteller verkörperte in gewisser Weise die literarisierte Kunstfigur.

Die überschaubare Literaturliste am Ende des Buches enthält auch zwei Werke des Soziologen Hartmut Rosa, der viel zu den Begriffen Resonanz und Unverfügbarkeit geforscht hat. Es sind Themen, die wohl im kommenden Jahrzehnt nicht veralten werden. Wer sich ihnen als eine Art Kontemplation nicht widmet, hat Schwierigkeiten, ein mehr oder weniger gelungenes Leben zu führen.

Wie nähert man sich solchen Handreichungen an? Irgendwie habe ich bei der Lektüre gedacht, dass sie ideal dazu geeignet sind, dem Leserpublikum den Zauber der Literatur zu vermitteln. Denn nur über das geschriebene Wort können bestimmte Gedanken zu unserer Existenz verewigt werden. Man kann Walter Wemuts Handreichungen nur schlecht verfilmen; es ist eben keine Lebensgeschichte, die sich hier äußert, kein Streifzug, kein Parcours, sondern eine gewisse Begutachtung, wobei das Adjektiv „gut“ und das Substantiv „Achtung“ hierin einen besonderen Klang erhalten.  Es wird das gute Leben geachtet, ohne zu erklären, wie ein gutes Leben genau aussieht, sonst wären wir wieder bei einem Ratgeber gelandet. Hacke gestaltet seine Figur raffiniert: Nähe und Distanz halten sich die Waage. Humoristische Sentenzen, viele rhetorische Fragen, die die Rhetorik im Kern prägen, weil sie einfach die Einfühlsamkeit zum Ausdruck bringen.

Hacke betont in den Dankesworten, dass das Buch nicht ohne Musik denkbar gewesen sei. Als Leser kann ich diesen Gedanken sehr gut verstehen. Auf jeder Seite lassen sich Kopftöne vernehmen. Der Kopf schwingt sich auf gewisse Töne ein; wiederum bringen gewisse Töne den Kopf zum Schwingen.  So ist es naheliegend, dass Musik auch thematisiert wird. Auch andere Künste kommen vor, doch nur wie Einsprengsel.  Keine langen Ausführungen, die dem Charakter der Figur nicht gut stünden.

Und das gute Leben? Es ist ratsam, wie ein sorgfältig dosiertes Medikament nur wenig Stoff aus diesem Buch au einmal zu sich zu nehmen, so wertvoll und wirksam sind die Handreichungen. Medikamente sind schließlich kein Lebensmittel, sondern ein Konzentrat, das in einen spürbar besseren Zustand führen soll. Abschließend folgen zwei Kostproben, die dies zeigen sollen. Ob das Konzentrat Wirkpotenzial hat??

Kostprobe 1 (allgemeine Betrachtung):

Wie ich Ihnen überhaupt mal eben als so eine Art Menschenbetrachtungsprinzip erläutern möchte: Suchen Sie sich bei einem, der Ihnen begegnet, immer erst einmal etwas, was Ihnen gefällt. Achten Sie nicht so sehr auf das, was Ihnen nicht passt, da kommen Sie nur in einen miserablen Modus hinein, nein, schauen Sie hin.

Also: Was mag ich an dem, an der?

Kostprobe 2 (konkrete Betrachtung):

Sie steht auf, das Selfie ist fertig, aber der Gesichtsausdruck bleibt irgendwie, er ist wie festgefroren oder ihr ins Gesicht gemeißelt. Sie schaut nicht in die Welt hinaus, wie jemand, der in die Welt hinausschaut, sondern wie eine Frau, die von der Welt betrachtet wird. Sie schaut so, wie sie gesehen werden möchte, oder wie sie denkt, dass die Welt sie sehen will. Sie trägt den Blick, mit dem sie glaubt, in der Welt die besten Chancen zu haben. Es ist, als ob man ihr eine Maske aufgesetzt hätte.

Nein, sie selbst hat sich die Maske aufgesetzt, glaubt aber, es sei ihr Gesicht.

Nein, sie hat sich keine Maske aufgesetzt, sie hat das Gesicht, von dem sie glaubt, dass die Welt es von ihr erwarte, zu ihrem eigenen gemacht.

Sie glaubt, sie sei so, wie sie sein muss.

Axel Hackes Buch lässt sich am besten zusammen mit anderen Publikationen von ihm direkt beim Kunstmann Verlag bestellen; das E-Book und das Hörbuch sind dort auch erhältlich.