Es war an einem trüben Novembersonntag 2018, als ich mich zum Industriemuseum Chemnitz aufmachte. In gewisser Vorfreude sah ich mir weniger die zur Schau gestellten Errungenschaften sächsischer Ingenieurskunst an, sondern primär die Fotoausstellung zum Werk von Thomas Billhardt. Die als Retrospektive angelegte Schau war an diesem Tag besonders ergiebig, denn der Fotograf höchstpersönlich präsentierte in einem zweistündigen Streifzug seine Biografie als Abenteuergeschichte, zutiefst bewegend und zugleich amüsant. Wie Billhardt mit jugendlich anmutender Schelmenhaftigkeit seine Abenteuer mal in wenigen Worten, mal etwas ausholender beschrieb, war schon vollkommen genug. Und die dazu projizierten Fotografien ergaben den wohl kurzweiligsten abendfüllenden Vortrag, den ich je gehört habe. Dabei fand der Vortrag noch nicht einmal an einem Abend statt, sondern sprengte mit galanter Leichtigkeit ein gewöhnliches nachmittägliches Veranstaltungsformat. Insofern ist es nur allzu passend, dass Billhardt nicht nur Fotobände publizierte, sondern 2017 eine Lebenserzählung mit dem Titel Meine Abenteuer mit der Kamera. Billhardt entstammt einer Chemnitzer Künstlerfamilie; die Eltern waren talentierte Porträtfotografen. Er engagierte sich in der frühen DDR teilweise in der Werbefotografie, teilweise dokumentierte er Arbeitsprozesse im Bergbau und reiste ab den 60er Jahren in viele sozialistische Länder, um dort mehr oder weniger offizielle politische Szenen prominenter Menschen abzulichten. Auch die Dokumentation kriegerischer Konflikte, vor allem in Vietnam, war für Billhardt Teil seiner Arbeit, selbstverständlich hier unter Lebensgefahr.
Sicherlich wurden die Fotos auch für politische Zwecke gemacht und eingesetzt; Billhardt glaubte an den Sozialismus, wenngleich unverblümt dessen Repräsentanten absichtlich leicht schräg herüberkamen. Keine im wahrsten Sinne des Wortes bildwirksame Inszenierung, schon gar keine Propaganda, war von ihm gewollt. Viele politische Bilder bewirken heute nicht nur beim Autoren ein gewisses Augenzwinkern oder ein Schmunzeln. Hier wird die künstlerische Leistung mehr als deutlich. Und angemerkt werden muss hierzu, dass es hierbei nicht um politische Fotografie per se geht, sondern um ein Einfangen sozialistischer Realität. Der Fotograf hatte auch damals bei diesem Reiseprivileg die Macht, schonungslos-unverblümt Geschehen einzufangen. Wie genau, das soll das „Betriebsgeheimnis“ des Fotografen bleiben.
Freundlicherweise hat mir Herr Billhardt zusammen mit der Galerie Camera Work in der Berliner Kantstraße die Erlaubnis gegeben, hier ein Foto abzubilden. Es entstand um das Jahr 1960 am Berliner Alexanderplatz, als er die Menschen am „Alex“ für seine Diplomarbeit an der Leipziger Hochschule für Druck und Buchkunst fotografierte. Lakonisch heißt es „Pfützenspringer“ :
Das Bild ist nicht das einzige, das einen Moment eingefangen hat, der eigentlich „dokumentarisch“ nicht zu fassen ist. Dieser äußere Augen-Blick setzt innere Blicke frei: Wie oft sind wir allein oder in Gegenwart eines anderen Menschen über Pfützen gesprungen? Dieses Überbrücken-Wollens eines Hindernisses, das objektiv gesehen gar kein Hindernis ist, sondern nur an unangenehme Begleiterscheinungen im Falle eines Hinein-Tretens in die Pfütze denken lässt, ist dem Betrachter vertraut. In trauter Zweisamkeit ist noch mehr Koordination erforderlich, damit der Sprung gelingt. Billhardt drückt in diesem Bild scheinbar wenig aus; die Spiegelung des Paares im Wasser macht ästhetisch das Bild-Ereignis vollkommen. Erst ein Jahr nach der Begegnung mit Billhardt und seinem Werk schreibe ich diesen Text, im Herbst 2019, ohne primär an die Friedliche Revolution von 1989 zu denken. Und doch schwingt die große Geschichte mit, denn die untergegangene Zeit wird mit Hilfe der Fotos auf ganz ungewöhnliche Weise präsent. Auf Thomas Billhardts Bildern habe ich das Leben in der DDR nahezu gespürt, obwohl ich es nie erlebt habe, wenn man mal von einem Besuch im Juli 1990 absieht, als das Land nur noch als Kulisse existierte. Es wäre sicher falsch zu sagen, dass Billhardt nur das Andere gesehen hätte, das es in dieser Art in der freien westlichen Welt nicht gegeben hätte. Das Grau mancher Fassaden – vollkommen in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen – war das gleiche Grau wie zum Beispiel im (Kohle-)Revier an Rhein und Ruhr. Es ist allerdings so, dass man als Betrachter nicht umhin kann, sich ein untergegangenes Land zu imaginieren, das nicht schleichend untergegangen sind, sondern politisch von einem Jahr auf das andere verschwunden ist. Die Nachwehen sind allerdings bis heute zu spüren.
Zum Weiterlesen: Billhardts 2017 erschienenes Buch „Meine Abenteuer mit der Kamera“ mit zahlreichen Bildern ist im Nora Verlag erhältlich.
Ein Interview mit Thomas Bilhardt über seine Reise nach Nordkorea 1989 findet sich beim mdr, dort gibt es auch weitere biografische Informationen.
Schreibe einen Kommentar