Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Schlagwort: creative writing

Alles Banane!? – Zu Aleš Štegers Roman “Neverend”

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Die Lektüre eines E-Books hat einen großen Vorteil: Die Häufigkeit jedes einzelnen Wortes lässt sich genau mit der Suchfunktion ermitteln. 117mal kommt das Wort „Banane“ im Roman Neverend des slowenischen Schriftstellers Aleš Šteger vor. Es verknüpft kunstvoll drei Erzählwelten: die persönliche, die soziopolitische und die historiografische Textwelt.

Die tagebuchführende Erzählerin – der Roman ist auf vier Monate in einer nicht näher bestimmten Zukunft angelegt – kommentiert die Wahl und die Machenschaften des Politikers Platano in Slowenien, der mit seinem sprechenden Namen eine Banane verkörpert (auf Spanisch ist die Banane ein „plátano“). Zum anderen arbeitet sie an einem Romanprojekt, in dem der Naturforscher Giovanni Antonio Scopoli (1723-1788) zusammen mit seinem Korrespondenzpartner Carl von Linné eine wichtige Rolle spielt. Zentral für die Kohärenz von Neverend ist die Szene, als Scopoli vor einem als Paradiesbaum bezeichneten Bananenbaum (lat.:  Musa paradisiaca bzw. Musa sapientum) in einem zerstörten Gewächshaus des niederländischen Pflanzensammlers George Clifford auf dessen Gut Hartekamp steht und davor zurückschreckt, in dieser verwüsteten Szenerie den Baum weiter zu untersuchen.  Sinnbildlich steht diese Szene für das Unabgeschlosse, das sich im Romantitel wiederfindet.

Auf einer dritten Ebene erhält die Tagebuchschreiberin kurze Erzählungen von drei Gefängnisinsassen, die sie in ihrem Job als Anleiterin zum kreativen Schreiben betreut. Diese Texte beziehen sich auf das reale Kriegsgeschehen im Ex-Jugoslawien. Sie verarbeiten poetisch die feindseligen Handlungen, die Tod und Vernichtung mit sich brachten. Auf einer vierten Ebene kommt im Tagebuch genregemäß auch die intime Gefühlswelt der Erzählerin vor, so dass das Geschriebene keine Trennung von Fiktivem und wahrhaft Erlebtem kennt.

Das Cover des Romans stellt zwei Bananen in den Mittelpunkt. In einem zu kleinen Behältnis sind sie auf einen Nagel gespießt, so dass man an eine lächerliche Art der Aufbewahrung denken könnte:

Neverend
Cover des Romans Neverend von Aleš Šteger, erschienen in der Übersetzung 2022 im Wallstein Verlag (Das Original erschien bereits 2017.)

Die Bananen stehen im Text aufgrund für einen Handelskrieg zwischen der EU und dem Rest der Welt und zugleich für einen hohen Wert, ohne dass sie per se übermäßig werthaltig wären: Der erste Tagebucheintrag vom 02.09. enthält bereits erläuternde Gedanken:

Kafka bringt Bananen mit. Keine Ahnung, woher er sie hat. Vor zwei Monaten sind sie aus den Regalen der Supermärkte verschwunden. […] Weniger wichtig dabei ist, dass Bananen und zahlreiche andere Artikel zu Objekten des Begehrens geworden sind, deren Wert auf dem Schwarzmarkt schwindelerregend gestiegen ist. Viel wichtiger dagegen ist das Bestärken des unsichtbaren Gefühls, dass jeder von uns in die Geiselrolle eines größeren Systems versetzt wird. Wie eine Seifenblase zerplatzt so nebenbei die angebliche persönliche Freiheit.

Eine Geisel ist ja eine Person, die in Unfreiheit lebt. Es ist eine Art gefühlte Gefangenschaft, aus der man in der Wirklichkeit nicht entkommen kann.

Kafka ist Literaturlehrer und zugleich Geliebter der Ich-Erzählerin. Die namentliche Anspielung an den großen Schriftsteller steht auch für die Absurdität der äußeren Verhältnisse, in denen Schreibprozesse im Roman stattfinden.

Im Roman wird die Frucht der Bananen in einen Sinnzusammenhang gebracht, in dem das etablierte Wort Bananenrepublik für einen autoritären, korrupten Staat nur unzureichend hineinpasst. Vielmehr ist das Populistische, Unreflektierte, das allein auf Emotionen setzt, entscheidend:

„Über Nacht wurden Bananen zum Synonym aller Unzufriedenheit, sie sind die Metapher für alles, was die Menschen vermissen.“ Der gewählte Präsident Platano „verspricht das Ende der Versprechungen, es soll nur noch Taten geben“,  unter anderem auch wieder die Bananenbeschaffung.

Wie kann man diese Absurdität, die gewiss zusammen mit dem Handlungsort Gefängnis etwas Kafkaeskes hat, mit der Vergangenheit zusammenführen, die vor allem die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen ist? Die kurzen Erzählungen der Insassen sind womöglich der einzige Ausweg aus dem Abgeriegelten, da nur der Erzählstoff Fluchtmöglichkeiten bietet. Panfi, einer der drei schreibenden Gefangenen, meint dazu: „Wir sind nicht der Freiheit beraubt, sondern der Einsamkeit, und das ist schrecklich[.]“.

Fiil, der zweite Gefangene, holt noch mehr aus:

Selbst die Menschen, die sich in sogenannter Freiheit befinden, leben im Knast, jedoch in einem weniger sichtbaren. Was wir Freiheit nennen, ist lediglich eine vergrößerte Einzelzelle. Wir Häftlinge müssen uns damit abfinden, dass wir eingesperrt sind. Das verleiht uns eine Kraft, die die Menschen draußen nicht haben. Als Häftling schreibe ich, um durch meine Worte aus dem Knast zu entwischen, die einzige Form von Freiheit zu erfahren, die mir keiner nehmen kann. Mein Körper ist hier, meine  Gedanken aber sind frei. In unserem Fall ist klar, was wir tun, wenn wir schreiben. Ich verstehe jedoch nicht, warum du schreibst. Du bist frei, in Wirklichkeit ist der Knast aber überall für dich.

In der Tat ist Scopolis Leben für die Ich-Erzählerin eine Zuflucht aus ihrem Dasein, in dem Tod und Leben scheinbar sich die Waage halten. Ihr Roman wird jedoch „ein Manuskript im Tagebuch bleiben müssen, mit Korrekturen und Anmerkungen vollgekritzelt, eine hässliche, unlesbare Schrift, die nur ich entziffern kann“. Der Autorin fehlt es zuletzt an grundlegenden Ressourcen wie Strom und Papier. Ihr Roman bleibt im Tagebuch eingeschlossen. Die aggressive soziale Stimmung zwingt sie dazu, ohne Hab und Gut schließlich aus ihrer unsicher gewordenen Wohnung in die Garage ihrer Nachbarin Paula zu ziehen. Im Grunde ist dieser neue Wohnort mit einer Gefängniszelle vergleichbar. Die scheinbare Freiheit entpuppt sich als Gefangenschaft im Hier und Jetzt. Die Geschichten der Häftlinge könnten hingegen aus ihrer Sicht in der „Literaturbeilage“ einer Zeitschrift erscheinen und damit sich aus einem bestimmten Kontext befreien.

Der letzte Tagebucheintrag vom 31.12. klingt düster: „Ich wohne unter den Toten, dem Anschein nach lebendig.“ Das einzige, was hilft, ist das fehlende Lebensende, das Neverend: „Es gibt kein Ende, und das beruhigt.“

Den exzellenten Roman gibt es direkt (auch als E-Book) beim Wallstein Verlag zu bestellen. Die langen Zitate stehen auf den Seiten 5 und 213. Weitere Informationen (auch zum Autoren) bietet ein weiterer informativer Blogartikel.

Zwischen Filmreife und Postkarten-tauglichkeit: Über eine Erzählung von Doris Dörrie

Bisher habe ich immer einen Bogen um Doris Dörrie und ihre Bücher gemacht. Das kann auch daran liegen, dass für ihr Werk die deplazierte Kategorie „Frauenliteratur“ verwendet wird, die man nicht ernst nehmen kann: Man stelle sich einmal vor, man würde seriös über Männerliteratur sprechen – die Lacher wären einem sicher!

Dörries Erzählung mit dem kitschig anmutenden Titel Der Mann meiner Träume fischte ich neulich aus der Zwickauer Stadtbibliothek. Es war ein guter Fang, denn nun weiß ich, dass Doris Dörrie das Multimediale erzählerisch vereint. Als Professorin für creative writing an der Hochschule für Film und Fernsehen in München schafft sie es wirklich, schreibend zu kreieren, und damit meine ich nicht nur Geschichten, sondern auch Stoff für Bilder, Filme, Tanz und Theater. Selten ist mir das so deutlich geworden wie in dieser Erzählung, in der tatsächlich eine ästhetische Postkarte die Handlung vorantreibt.

Das Fotomodel Antonia achtet am Rande einer Dienstreise in den riesigen Uffizien in Florenz erst im Souvenirbereich auf ein Gemälde, das als Postkartenmotiv abgedruckt ist. Es stammt von Sandro Botticelli und zeigt einen namentlich nicht bekannten Mann:


Sandro Botticelli: Porträt eines Mannes mit der Medaille Cosimos d. Ä. (ca. 1474)

Der abgebildete Herr fasziniert sie, weil es ihr scheint, dass er eben nicht völlig aus der Zeit gefallen ist, ein sympathischer, gut aussehender Mann eben.

Es war für Antonia unvorstellbar, dass er mehr als vor 500 Jahren gelebt haben sollte. (…) Er sah doch aus wie jemand, dem sie heute auf der Straße begegnen könnte, ein etwa dreißigjähriger linker Politologiedozent, ein Filmemacher vielleicht oder Journalist, ein Mann, dem sie nach dem ersten Espresso alles von sich erzählt hätte, ein schöner Mann, der sie verstand, der Mann ihrer Träume.

Antonia vergegenwärtigt sich diesen gar nicht so fremd erscheinenden Mann und imaginiert auf ihrem Hotelbett einen Dialog mit ihm:

Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, die Liebe sei wie ein Sandsack, und jeder Mann, mit dem man ins Bett geht, macht ein Loch hinein, und jedesmal sickert ein bisschen mehr Sand aus dem Sack, bis am Ende nur eine leere, alte Hülle zurückbleibt. Meinst du, dass das stimmt?“ Ja, sagte, der Mann, aber manche haben einen größeren Sandsack als andere.“ „Danke“, sagte Antonia,
du bist der erste Mann, mit dem man wirklich reden kann.  

Zurück in München sieht sie an einem Kaufhauseingang einen „Penner“ , der in ihren Augen stark Botticellis Unbekanntem ähnelt. Da muss als Requisite nur noch eine auf der Postkarte unübersehbare rote Samtkappe und als Medaillenersatz ein mit Stanniolpapier umwickelter Schokoladentaler her, um mit einer im Kaufhaus auch erhältlichen Polaroidkamera das alte mit einem aktuellen Bildnis abzugleichen. Erst einige Tage später sieht sie jeden Johnny erneut vor einem Restaurant und zögert keinen Augenblick, ihn mit den beiden Requisiten auszustatten und zu knipsen.

Es war, als träte der Mann aus Florenz aus dem Nebel der Vergangenheit und Zukunft auf sie zu und mitten in ihr Leben hinein.

Johnny ist schlagkräftig: Er wähnt sich als Doppelgänger und verweist darauf, dass das geknipste Foto nach 500 Jahren im Müll wiederum Anlass für eine  Suchaktion sein könnte. So webt er sozusagen die Geschichte medial auf der  zeitlichen Achse weiter und schaut in seiner „Bettlerrolle“, die er annahm, um „dem Materialismus in den Hintern zu treten“, souverän hinter die Kulisse des Textes, die Fremdheitserfahrungen mehrdimensional durchleuchtet.  Das gemeinsame Wagnis, eine Reise nach Lima anzutreten, ist nur eine logische Selbstüberprüfung dieser Fremdheitserfahrung auf der räumlichen Achse. Antonia und Johnny eint der Wunsch, anders sein zu wollen, doch sie fliehen dabei vor dem eigenen entleerten Ich.  Dreimal darf man raten, ob die Reise zum ersehnten Liebesglück führt oder einfach nur eine große Desillusion ist….

Über die zweite Hälfte der Erzählung  soll weiter nichts verraten werden; einen Gedanke möchte ich jedoch noch fortspinnen. Der Mann meiner Träume wurde 1991 publiziert. Damals sprach noch keiner vom Internet und erst recht keiner von virtuellen Selbstinszenierungsplattformen wie Instagram. Heute wäre der doppelte Boden der Erzählung kaum noch einzuziehen, da wir durch die Bilderflut des Internets Bilder kaum noch abgleichen (können). Nicht wenige Menschen hinterlassen stets neue Bilder von sich in der virtuellen Welt. In der Tat kommt hier die Frage auf: Wie sehen wir unsere eigenen Bilder mit zeitlichem Abstand? Dank des guten alten Fotokartons sind wir ja oft verblüfft von Kindheits- oder Jugendfotos.  Wir können uns mit ihnen identifizieren. Bei geposteten Fotos ist dies nach einer bestimmten Zeit schon fraglich. Wie werden wir jedoch menschliche Wesen Instagram-Bilder gedanklich verarbeiten, die 500 Jahre auf Servern gelagert sind? Würden sie sich danach sehnen, eine Zeitreise anzutreten? Die Antwort liegt bekanntlich wie so viele in den Sternen oder im Reich der Fantasie, die für jede Geschichte unerlässlich ist.

So lässt sich ohne große Umschweife der Bogen spannen zu Dörries jüngstem Buch Lesen Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben, in dem es ganz am Anfang heißt: 

Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen.

Das geschieht ohne festen Boden unter den Füßen, wie ganz am Schluss deutlich wird: 

Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat.

Die beiden Bücher von Doris Dörrie sind wie ihre anderen Bücher auch bei Diogenes erhältlich.

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