Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, so sind doch gewisse überlieferte Ereignisse rund um das Thema Erinnerungspolitik wieder brandaktuell:  Als Ende August 2022 in Riga ein Obelisk aus Sowjetzeiten geschleift wurde, weil er den Totalitarismus verherrlichte, musste ich an ein besonderes Guckkastenbild denken. Es wurde bis zum 11.September 2022 in einer feinen Ausstellung mit dem einprägsamen Titel „Die Welt im Kasten“ im Chemnitzer Schlossbergmuseum gezeigt. Bereits 2021 waren mehrere Guckkastenbilder aus der hauseigenen Sammlung im nahen SMAC (Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz) ausgestellt, als es um das Thema Stadt ging. In einem kurzen Video, das Teil des digital verfügbaren Ausstellungsdossiers ist, skizziert Kuratorin Katja Manz die Geschichte von Guckkastenbildern, die vom 17. – 19. Jahrhundert einen Blick in die Welt ermöglichten, spätestens im 18. Jahrhundert auch für die breite Masse.

Im Schlossbergmuseum ist auch Forschung präsent: Die Bachelor-Arbeit von Susanne Görnert, 2019 an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig unter dem Titel Die Guckkastenblattsammlung des Schlossberg-museums Chemnitz. Datierungsvorschläge und Vorlagenforschung vorgelegt, ist eine wichtige Quelle angesichts vieler noch offener Fragen. Aus der Arbeit erfahre ich, dass der Herausgeber der Guckkastenbilder, die Académie Impériale, von 1770 bis 1790 etwa 500 Exemplare als Kupferstiche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Anders als ein Fotograf ist ein Kupferstecher selten leibhaftig vor Ort; vielmehr muss er aus Beschreibungen und Erzählungen sein Werk schaffen.  Das hier thematisierte Guckkastenbild mit dem Titel „La Destruction de la Statue royale à Nouvelle Yorck“ (deutsch: Die Zerstörung der Königlichen Bild Säule zu Neu Yorck) wurde von Franz Xaver Habermann (1721 – 1796) in Augsburg gestochen, wo auch der Herausgeber ansässig war:

Guckkastenbild von Habermann
Franz Xaver Habermann: Die Zerstörung der Königlichen Bild Säule zu Neu Yorck, um 1780 (Online-Quelle: Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz: www.stadt-im-smac.de)

Zu diesem Guckkastenbild schreibt Görnert auf Seite 49 ihrer Bachelorarbeit:

Die Ansicht New Yorks bezieht sich auf das historische Ereignis des Reiterstandbildes König Georg III. am 9. Juli 1776 im Bowling Green Park. Habermann nutzte hierfür als Vorlage den Kupferstich eines unbekannten französischen Stechers, welcher diesen wenige Monate nach dem Ereignis herausbrachte.  Der Franzose schien New York nicht zu kennen. Statt dem 1760 erbauten Reiterstandbild König Georg III. ist eine Statue abgebildet. Auch die Stadtarchitektur erinnert eher an Paris als an die typisch koloniale Bauweise der amerikanischen Großstadt. Ebenso entspricht die revoltierende Menschenmenge welche aus Turban tragenden, dunkelhäutigen Männern besteht nicht der damals in New York lebenden Bevölkerung.

Welche Aussage sollte mit diesem Guckkastenbild transportiert werden? Immerhin ist das Motiv alles andere als malerisch. Die Zerstörung eines Vertreters aus der europäischen Monarchie ist doch starker Tobak, gerade für eine „Académie“, die das Kaiserliche in ihrem Namen führt. Doch Vorsicht:  Augsburg war damals (bis 1805) Freie Reichsstadt und genoss mehr künstlerische Freiheit als manch andere Stadt.

Georg III. (1738-1820) stammte aus dem Haus Hannover; seine Mutter war Augusta von Sachsen-Gotha-Altenburg. In seine fast 60 Jahre lange Regentschaft fiel als Zäsur die Unabhängigkeitserklärung der USA 1776. Wenn nur fünf Tage nach dem Independence Day der König im wahrsten Sinne des Wortes nach nur einem Jahrzehnt vom Sockel gehauen wird, dann geht es hier nicht um ein singuläres, isoliert zu betrachtendes Ereignis. Es ist nämlich nicht ohne den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg denkbar, der mehrere Jahre (1775 – 1783) dauerte.

Solch eine historische Umwälzung konnte nicht verschwiegen werden. Das Guckkastenbild mag bei Unwissenheit auch erschütternd wirken: fremde, „wilde“ Menschen scheinen die Akteure zu sein, während die wahrhaftigen politischen Kämpfer eher zuschauen. Auch dieses Zuschauen lässt verschiedene Interpretationen zu. Sind sie bestürzt oder eifern sie einfach nur mit? Der Kupferstecher Habermann versuchte, über ein Guckkastenbild den Betrachter in den Bann zu ziehen. Das Werk verrät gewisse (historische) Ungereimtheiten und verzerrt überlieferte Ereignisse. Es gibt einen Blick auf Historie frei, das auf eine ästhetische Wirkung abzielt. Der Akt der Zerstörung und seiner Betrachtung von einer überschaubaren Anzahl von Schaulustigen auf der Gasse – quasi vom Parkett – und am Fenster und auf der Veranda – quasi von den Rängen – wirkt inszeniert, während die Statue in ihrer Wirkung blass erscheint, da sie vergleichsweise unterdimensioniert dargestellt ist. Hat hier nicht einmal mehr der Künstler scharfen Durchblick hinsichtlich der Wucht der Geschichte bewiesen? Zumindest ist die Nachwirkung vorhanden: Man wird die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung anders lesen, wenn man dieses Guckkastenbild gesehen hat.  Und man wird den im September 2022 erneut angestimmten Vers „God save the King“ besonders hochhalten.  Möge Charles III. nicht vom Sockel gestoßen werden! Doch wird man ihn je als Statue verewigen?

Auf der Webseite der in Boston ansässigen Leventhal-Foundation ist der Kupferstich in faszinierender Auflösung online zu betrachten.