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Schlagwort: Surrealismus

Das verborgene Netz-Werk: Über ein Gemälde von Remedios Varo

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Den Namen der spanischen Künstlerin Remedios Varo (1908-1963) werde ich bestimmt nicht mehr vergessen. „Remedios“ – Heilmittel – als Vorname, und dann noch im Plural!  Das erscheint einzigartig, gerade wenn er von Geburt an vorlag.

Auf einem Streifzug durch die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne Ende Januar 2023, die im Potsdamer Museum Barberini gezeigt wurde, blieb mir unter anderen das Ölgemälde Tres destinos (Drei Schicksale) im Kopf. Varo malte es Mitte der 1950er Jahre und zeigt darin ihre Meisterschaft, die mich mehr anspricht als die eines Salvatore Dalí oder eines Max Ernst.

Tres destinos: Remedios Varo (1956)
Remedios Varo: Tres destinos (Drei Schicksale), 1956, Öl auf Masonit, Privatsammlung.

Im Ausstellungkatalog ist zu Remedios Varo besonders der Artikel „Okkulte Bildwelten. Leonora Carrington und Remedios Varo“ von Victoria Ferentinou auf den Seiten 215-237 lesenswert. Zum Gemälde Drei Schicksale,  auf der Seite 227 abgebildet, heißt es auf der Seite 219:

Im Vordergrund stehen drei hohe Türme mit spitz zulaufenden Dächern, die von mönchartigen Gestalten in weiten grünen Gewändern bewohnt werden. Während die Figuren in ihre spirituelle Arbeit versunken sind und vollkommen isoliert voneinander scheinen, symbolisieren transparent leuchtende Seile ihre kosmische Verbundenheit und deuten darauf hin, dass sich „ihre Lebenswege eines Tages kreuzen werden“, wie Varo selbst zu ihrem Bild vermerkte. Indem die Seile mit einem strahlenden Himmelskörper verbunden sind, weist die Ikonographie auf die Ambivalenz zwischen freiem Willen und göttlicher Vorsehung hin und greift zugleich den Gedanken einer Analogie zwischen Mensch und Universum, Mikro- und Makrokosmos auf.

Der bei Varo zu entdeckende Okkultismus „als eine Art Geheimwissenschaft, die sich mit vermeintlich übernatürlichen Kräften und Phänomenen befasst und eng mit dem Glauben an die Magie verbunden ist“ sowie die Magie als „eine Praxis, die darauf abzielt, übernatürliche Kräfte für menschliche Zwecke dienlich zu machen“ stehen mir eigentlich nicht nah. Mir scheint, dass es vor allem das Motiv ist, das mich in den Bann zog. Diese drei Schicksale, auf der Leinwand festgehalten, sind durch ein feines Netz-Werk miteinander verknüpft. Was in der Wirklichkeit oft als Netzwerk recht pauschal bezeichnet wird, erscheint hier auf unglaubliche Weise plastisch. Wir können nicht ergründen, was die drei abgebildeten Personen inhaltlich verbindet, doch es reicht, wenn Nähe und Distanz eine merkwürdige Symbiose eingehen: Einerseits diese Isolierung in den drei Hütten, andererseits das Zusammenspiel über das Gewebe. Der altmeistliche Farbauftrag  lässt nicht automatisch an das 20. Jahrhundert denken, ebensowenig wie die drei Figuren, die alles andere als flüchtig dargestellt sind. Geometrische Strukturen zeigen eine Welt zeitloser Präzisionsarbeit; und auch die Vorgänge in den drei Türmen lassen ein Zeugnis der geistigen Sammlung erkennen. Eine Feder, ein Pinsel und ein Glas sind als Werkzeuge sichtbar; schreiben, zeichnen, sinnieren sind meine Assoziationen zu diesen Objekten. Es entsteht vor dem inneren Auge ein Ruhepol, das zu kontemplativem Betrachten einlädt. Die Seile bilden einen Mechanismus ab, der keinen rationalen Erwägungen folgt und deswegen umso mehr faszinieren kann, ebenso wie eine Apparatur, die man nicht ganz in ihrer Funktionsweise durchschauen kann. Insofern kann jeder Betrachter hier auch über nicht vollständig erklärbare Vorgänge aus der realen Lebenswelt nachdenken.  Er fügt seine Erfahrungen als Bewohner ein, die auch von merkwürdigen Beziehungen zu anderen Menschen zeugen. Was verbindet Stadt-Menschen? Irgendein Werk, bei dem wir auf das Wirken anderer angewiesen sind, lässt eine Trennung zu anderen durch Mauerwerk weniger rigide erscheinen. Es lässt sich oft nicht genau ergründen, wer an einem bestimmten Ergebnis mitgewirkt hat, da die zuvor stattgefundenen Vorgänge nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So wie ein Ergebnis eigentlich mehrere Ergebnisse umfassen, besteht ein Vorgang aus Vorgängen. Das Ganzheitliche lässt sich nur mit dem Partiellen herleiten – so wie drei Schicksale an einem Strang, ausgehend von einer höheren Macht, ziehen (müssen).  

Die kurzen Zitate zu Magie und Okkultismus habe ich dem Glossar von Helen Bremm im Ausstellungkatalog entnommen, der im Prestel Verlag erschienen ist (auch eine englische Ausgabe liegt vor, da die Peggy Guggenheim Collection auch an der Ausstellung beteiligt war).

Alles nur ein Abklatsch?! Über eine besondere Verfahrenstechnik

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Ein Streifzug durch ein Museum verspricht Überraschendes. Etwas, das dem Besucher sonst verborgen bliebe. Und es kann sogar sein, dass das Werk erst durch den Werktitel nähere Aufmerksamkeit erhält.

So gesehen bzw. geschehen Ende Oktober 2023. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg unweit von Schloss  Charlottenburg in Berlin ist für Surrealismus-Fans eine Schatztruhe voller Zauber, ohne den diese Kunstströmung weniger reizvoll wäre.

Und nun das Zauberwort: Decalcomanía! Der mir zuvor unbekannte Künstler Oscar Dominguez (1906-1957) schuf sie 1935. Auf Deutsch wird die verwendete Technik nicht weniger reizvoll: „Gouache im Abklatschverfahren.“ Im Spanischen wird etwas Wahnsinniges denkbar, denn das Lexem manía bedeutet allein Manie bzw. Wahn. Also wird dabei etwas Verrücktes evoziert.  Das Wortteil „Decalco“ lässt mich abschweifen und mich fälschlicherweise ans Entkalken denken, das ohne chemische Reaktion(en) nicht denk- und ausführbar wäre.

Manuela Bethke hat mir dankenswerterweise einen Bestandskatalog-Eintrag der Sammlung Scharf-Gerstenberg zukommen lassen. Darin heißt es zutreffend:

Fantastische Welten eröffnet „Decalcomanía“. Submarine oder kosmische Landschaften entstehen, organische und tote Formen, Gesteine und Korallen scheinen sich abzuwechseln. Der Vorstellung des Betrachters sind keine Grenzen gesetzt, durch das Hineinsehen entstehen immer neue Bilder.

Es lohnt sich also ein näherer Blick auf das Werk, gerade mit einer digitalen Lupe, auf der sehr guten Internet-Seite bildindex.de, die sich als Verbunddatenbank bezeichnet. Gerade in der Vergrößerung (unten links ansteuerbar) wird schön sichtbar, wie sich eine fiktive Landschaft herausbildet. Man könnte an Riffe inmitten eines unübersichtlichen Systems von Wasserläufen denken, so dass als Höhen und Tiefen interpretierte Konturen Dreidimensionalität schaffen. Im unteren Bilddrittel zerfällt jedoch diese Struktur, so dass Analogien, die aus physisch erlebbaren Topographien erzeugt werden, nur bedingt aufrecht erhalten werden können. Für den Betrachter ist das Abgebildete nur schwer begreifbar, gleichsam wie in einer Tropfsteinhöhle, wo Kalkabbauprozesse auch eine kaum erfassbare Landschaft im Erdinnern formen. So passt der nicht übersetzte Titel Decalcomanía auch so gut. Noch einmal sei daran erinnert, dass im französischen Original „décalcomanie“, aus dem das spanische „decalcomanía“ abgeleitet ist, keinesfalls Kalk eine Rolle spielt. „Calque“ bedeutet im Französischen eine Ebene bzw. eine Schicht und auch eine Nachbildung, was ja im konventionellen, negativ konnotierten Sinn ein Abklatsch ist; in der Sprachwissenschaft bezeichnet es auch ein Lehnwort, so dass hier auch ein Transfer (von einer zur anderen Sprache) eine Rolle spielt.  Ein „papier calque“ ist ein Pergament- oder Pauspapier, womit hier das Material und das Verfahren im Zusammenhang mit einer Bastelarbeit durchscheint, die natürlich auch künstlerisch wertvoll sein kann. Eine Nachbildung ist also hier ein Abklatsch im schöpferischen, also kreativen Sinn!

Domínguez beschäftigte sich in den 1930er Jahren intensiv mit klassischen Abklatschverfahren, bevor Max Ernst diese Technik in andere integrierte. Ein Abklatsch hingegen ist auch in der Standardsprache ein Phänomen, das ja von der Kunsttechnik herrühren muss, jedoch mit dem Zauberhaften wenig bis gar nichts gemeinsam hat: Eine „(schlechte) Nachbildung eines Originals“, wie es im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt, hat oft einen negativen Beigeschmack, was wiederum durch das Verb „klatschen“ für „schallend schlagen“ aufgewertet und durch das Substantiv „Klatsch“ in Verbindung mit Tratsch wiederum negativ verdreht wird. In der Wortgeschichte wurde der Klatsch (heute eher als Kaffeeklatsch verwendet) als Gerede spätestens im 18. Jahrhundert salonfähig.

Im Katalog las ich außerdem von einem „Abziehbild“ als Ergebnis des Abklatschverfahrens, was auch in der Drucktechnik als Probedruck eine wichtige Funktion hat, ohne dass hier surrealistisches Gedankengut mit im Spiel wäre. Da ein Probedruck früher unvollkommen war, weil er ohne die Druckerpresse, sondern nur durch Bürstenschläge erzeugt wurde, kann dem Abklatsch in der herkömmlichen Tradierung kein Zauber innewohnen.

Im Grunde ist das unplanbare Ergebnis ohne eindeutiges Motiv der Kern des Zauberhaften, weil diese Wirklichkeiten unbestimmbar und unbeherrschbar scheinen. Und das wirkt förmlich sehr real!

Wenige Informationen über den spanischen Surrealisten Óscar Domínguez sind online verfügbar. Immerhin hat eine Londoner Galerie eine Kurzbiografie angelegt, in der auch auch das Zauberwort decalcomanía vorkommt.

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