Ein Streifzug durch ein Museum verspricht Überraschendes. Etwas, das dem Besucher sonst verborgen bliebe. Und es kann sogar sein, dass das Werk erst durch den Werktitel nähere Aufmerksamkeit erhält.
So gesehen bzw. geschehen Ende Oktober 2023. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg unweit von Schloss Charlottenburg in Berlin ist für Surrealismus-Fans eine Schatztruhe voller Zauber, ohne den diese Kunstströmung weniger reizvoll wäre.
Und nun das Zauberwort: Decalcomanía! Der mir zuvor unbekannte Künstler Oscar Dominguez (1906-1957) schuf sie 1935. Auf Deutsch wird die verwendete Technik nicht weniger reizvoll: „Gouache im Abklatschverfahren.“ Im Spanischen wird etwas Wahnsinniges denkbar, denn das Lexem manía bedeutet allein Manie bzw. Wahn. Also wird dabei etwas Verrücktes evoziert. Das Wortteil „Decalco“ lässt mich abschweifen und mich fälschlicherweise ans Entkalken denken, das ohne chemische Reaktion(en) nicht denk- und ausführbar wäre.
Manuela Bethke hat mir dankenswerterweise einen Bestandskatalog-Eintrag der Sammlung Scharf-Gerstenberg zukommen lassen. Darin heißt es zutreffend:
Fantastische Welten eröffnet „Decalcomanía“. Submarine oder kosmische Landschaften entstehen, organische und tote Formen, Gesteine und Korallen scheinen sich abzuwechseln. Der Vorstellung des Betrachters sind keine Grenzen gesetzt, durch das Hineinsehen entstehen immer neue Bilder.
Es lohnt sich also ein näherer Blick auf das Werk, gerade mit einer digitalen Lupe, auf der sehr guten Internet-Seite bildindex.de, die sich als Verbunddatenbank bezeichnet. Gerade in der Vergrößerung (unten links ansteuerbar) wird schön sichtbar, wie sich eine fiktive Landschaft herausbildet. Man könnte an Riffe inmitten eines unübersichtlichen Systems von Wasserläufen denken, so dass als Höhen und Tiefen interpretierte Konturen Dreidimensionalität schaffen. Im unteren Bilddrittel zerfällt jedoch diese Struktur, so dass Analogien, die aus physisch erlebbaren Topographien erzeugt werden, nur bedingt aufrecht erhalten werden können. Für den Betrachter ist das Abgebildete nur schwer begreifbar, gleichsam wie in einer Tropfsteinhöhle, wo Kalkabbauprozesse auch eine kaum erfassbare Landschaft im Erdinnern formen. So passt der nicht übersetzte Titel Decalcomanía auch so gut. Noch einmal sei daran erinnert, dass im französischen Original „décalcomanie“, aus dem das spanische „decalcomanía“ abgeleitet ist, keinesfalls Kalk eine Rolle spielt. „Calque“ bedeutet im Französischen eine Ebene bzw. eine Schicht und auch eine Nachbildung, was ja im konventionellen, negativ konnotierten Sinn ein Abklatsch ist; in der Sprachwissenschaft bezeichnet es auch ein Lehnwort, so dass hier auch ein Transfer (von einer zur anderen Sprache) eine Rolle spielt. Ein „papier calque“ ist ein Pergament- oder Pauspapier, womit hier das Material und das Verfahren im Zusammenhang mit einer Bastelarbeit durchscheint, die natürlich auch künstlerisch wertvoll sein kann. Eine Nachbildung ist also hier ein Abklatsch im schöpferischen, also kreativen Sinn!
Domínguez beschäftigte sich in den 1930er Jahren intensiv mit klassischen Abklatschverfahren, bevor Max Ernst diese Technik in andere integrierte. Ein Abklatsch hingegen ist auch in der Standardsprache ein Phänomen, das ja von der Kunsttechnik herrühren muss, jedoch mit dem Zauberhaften wenig bis gar nichts gemeinsam hat: Eine „(schlechte) Nachbildung eines Originals“, wie es im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt, hat oft einen negativen Beigeschmack, was wiederum durch das Verb „klatschen“ für „schallend schlagen“ aufgewertet und durch das Substantiv „Klatsch“ in Verbindung mit Tratsch wiederum negativ verdreht wird. In der Wortgeschichte wurde der Klatsch (heute eher als Kaffeeklatsch verwendet) als Gerede spätestens im 18. Jahrhundert salonfähig.
Im Katalog las ich außerdem von einem „Abziehbild“ als Ergebnis des Abklatschverfahrens, was auch in der Drucktechnik als Probedruck eine wichtige Funktion hat, ohne dass hier surrealistisches Gedankengut mit im Spiel wäre. Da ein Probedruck früher unvollkommen war, weil er ohne die Druckerpresse, sondern nur durch Bürstenschläge erzeugt wurde, kann dem Abklatsch in der herkömmlichen Tradierung kein Zauber innewohnen.
Im Grunde ist das unplanbare Ergebnis ohne eindeutiges Motiv der Kern des Zauberhaften, weil diese Wirklichkeiten unbestimmbar und unbeherrschbar scheinen. Und das wirkt förmlich sehr real!
Wenige Informationen über den spanischen Surrealisten Óscar Domínguez sind online verfügbar. Immerhin hat eine Londoner Galerie eine Kurzbiografie angelegt, in der auch auch das Zauberwort decalcomanía vorkommt.