Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Schlagwort: Reiseroman

Fantastisch lügen – Über einen wundersamen Reiseroman

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Im Februar 2025 wurde die Hartmann-Fabrik in Chemnitz eröffnet. Ein ehrwürdiger ehemaliger Bau, wo von den 1860er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg von der Firma Sächsische Maschinenfabrik AG Dampflokomotiven hergestellt wurden (die Firma gab es in Chemnitz schon seit 1848!). In diesem Jahr dient er als Besucher- und Informationszentrum für die Kulturhauptstadt 2025. Viel gibt es darin (noch) nicht zu sehen; mir gefällt jedoch die Ruhe und die Möglichkeit, dort einige Minuten innezuhalten. Als ich mir zum ersten Mal diesen Ort ansah, fielen mir einige Bücher auf, die am Empfang passend zur Kulturhauptstadt zusammengestellt worden waren. Ein Titel und ein hellblaues Cover fielen mir besonders in die Augen – sogleich bestellte ich es in der sehr gut sortierten Buchhandlung Lessing und Kompanie auf dem Chemnitzer Kaßberg.

Irmtraud Morgners Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers sind sicher eine Perle der phantastischen Literatur aus DDR-Zeiten. Es wird nicht leicht gewesen sein, diesen Roman im Jahr 1972 zu veröffentlichen, da er auch ein Stück chiffrierte Realsatire ist. 1933 ist Irmtraud Morgner in Chemnitz geboren; im Roman wird als realer Ort explizit der Chemnitzer Stadtteil Hilbersdorf mit seinem „Bahnbetriebswerk“ (im Buch ist ganz zu Anfang von „C.“ die Rede) genannt: Hilbersdorf ist übrigens zugleich Standort eines exzellenten Eisenbahnmuseums, das auch als Schauplatz Eisenbahn beworben wird.

Am 20.09. hatte ich die Gelegenheit, aus diesem Buch einige Seiten auf der 2. Büchernacht im Dachgeschoss des Renaissanceschlosses Ponitz bei Altenburg vorzulesen. So merkte ich einmal mehr, wie stark dieses Buch ist, das 2006 im Verbrecher Verlag Leipzig neu aufgelegt wurde. Dass sich im Schloss, das zur Finanzierung der Restaurierung ein großes Antiquariat vorhält, eine DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1982 befand, war natürlich eine herrliche Pointe. Es wurde mir als kleines Dankeschön in die Hände gelegt: Ganz gewiss wird es auch auf Reisen gehen, um weitere Lesefreude zu bereiten! Und dass an einem Tag, als nicht nur in Sachsen 200 Jahre Eisenbahn gefeiert wurde…

Veranstaltungsticket
Tagesticket für eine ganze Familie für die Feierlichkeiten zu “200 Jahre Eisenbahn in Europa”

Ganz besonders gelungen ist die Fiktion in der Fiktion: Bevor Gustav über seine Weltreisen erzählt, kommt eine Verfasserin namens Bela H. zu Wort; nach den erzählten Weltreisen ist ein Nachwort der Herausgeberin Beate Heidenreich abgedruckt. Als ob also Irmtraud Morgner keine Zeile in diesem Buch geschrieben hätte! So spielt das Buch auch als Produkt mit Vorspiegelungen falscher Tatsachen.

Aus der Deutschen Biografie wissen wir, dass Irmtraud Morgners Großvater wie ihr Vater tatsächlich Lokführer war.  So wird sie sich in Hilbersdorf sicher ausgekannt haben. Eisenbahnromantiker werden in dem Buch womöglich bitter enttäuscht: Die Lüge wird zum Leitmotiv des ganzen Romans. Der Leser muss um die Ecke denken, beispielsweise, wenn es im Vorwort heißt:

Großvater Gustav war von Kultur ein Lügner, nicht von Natur. In ihm arbeitete die Schöpferkraft der Machtlosen. Zu ungeduldig, um warten zu können, eignete er sich die Welt an, bevor sie ihm errungen war. Eine legendäre Gestalt.

In diesen Sätzen steckt schon eine Menge Wucht. Die Mikroebene – der Machtlose – prallt auf die Makroebene – die Welt. Es entsteht ein Universum, das es so nicht geben kann und ausschließlich in den Worten des Erzählers enthalten ist. Jener Ich-Erzähler, Gustav der Weltfahrer, hat einen Zuhörer im Text, und zwar Gustav der Schrofelfahrer, was auch ein kluges Konstrukt ist: Denn er kann einer Person berichten, die „bei der städtischen Müllabfuhr“ angestellt ist, und ihn aus dem Vertrauten in ganz unbekannte Gefilde entführen.

Eine ganz besondere Stellung nimmt in den Erzählungen die „Hulda“ ein, des Weltfahrers Name für sein Gefährt, mit dem er die Weltreisen antritt, als er das Rentenalter erreicht hatte (erinnert sei hier an die in der DDR gewährte Reisefreiheit für diese Bevölkerungsgruppe). Seine Sammlung im Keller hat er auf „Schrottplätzen des Bahnbetriebswerks, in Steinbrüchen, auf Müllhalden und auf der Straße“ zusammengetragen. Kurzzeitig verhaftet wurde er, als er „im Führerhaus einer auf dem Lokfriedhof abgestellten XH1-Schnellzuglokomotive entdeckt“ wurde. Nun wird die staatlichen Bürokratie aufs Korn genommen: Trotz vorgelegtem „Kaufvertragsentwurf mit einem nach dem Schrottwert berechnetem Preisangebot“ erhält er keine Erlaubnis, sich diese anzueignen, wohl aber für den Ankauf einer „YII T Naßdampftenderlokomotive, Baujahr 1886, aus den Schrottbeständen der Deutschen Reichsbahn für private Zwecke“ mit der Vorgabe, „die Schienenwege innerhalb der Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik nicht zu benutzen“. Man kann hier nicht verkennen, dass Gustav sich als waschechter Eisenbahner inszeniert, doch statt ihn realistisch abzubilden, sucht Irmtraud Morgner alias Bele H. die Flucht in eine imaginierte Welt, die Fetzen der Realität enthält. Dass auf der vierten Reise die Lokomotive über den Ozean und den Amazonas schippert und auf der siebten Reise sogar in den Weltraum geschossen wird, ist einfach vergnüglich zu lesen: Morgners Roman hebt einfach buchstäblich von der biederen Wirklichkeit ab!

Was mir an Gustav imponiert ist seine Neugier an der Welt. Jede Reise endet mit der Heimkehr, jede neue Reise mit einem Gefühl von Fernweh, abseits einer „Rentnerbrigade“ und eines „Veteranenclubs“. Geschildert wird jedoch keine Utopie, kein Traumland, sondern eine Welt voller Abgründe und Absurditäten, die voller Phantasie ist und trotzdem auf realen Welterfahrungen beruht. Das Rätselhafte bleibt im Vordergrund; der Leser wird sozusagen in fremde Welten „entführt“, was zu einem verstörenden Lesevergnügen führt, denn: Auch die Reiseliteratur steht für das Lügenhafte – irgendwie scheint sich auch der Erzähler Gustav über seine Erzählstränge lustig zu machen, genauso wie der übergeordnete Erzähler, der mit dem kurzen Satz „Also sprach Gustav der Weltfahrer“ jeweils am Ende der Reisen noch urkomisch die Erzählumgebung und -umstände der beiden Gustavs schildert, auch mal Gustav den Schrofelfahrer zu Wort kommen lässt und die eine oder andere Aussage der Dialogpartner kommentiert. So wird eine weitere Textebene eingezogen.

Das Buch würde sich für eine abendfüllende Lesung mit biografischen und literaturwissenschaftlichen Erkundungen lohnen – ganz sicher auch an so einem wunderschönen und zugleich wundersamen Ort wie dem Renaissanceschloss Ponitz!

Vielen Dank an den Förderverein Renaissanceschloss Ponitz für die schöne Gelegenheit, diesen phantastischen und zugleich in vielen Belangen verrückten Roman zu später Stunde vorzustellen. Das Buch kann beim Verbrecher Verlag bestellt werden. Die längeren Zitate finden sich in dieser Ausgabe auf den Seiten 8 und 15-18.

Abenteuerliche Lektüre – Zu einem Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch

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Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.

Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:

Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.

Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt). 

Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle  Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte.  Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping –  verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen!  Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.

Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).

Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:

Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.

Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??

Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:

Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.

Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.  

Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden.  Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.

Reiserelationen  – Über Sibylle Bergs „Die Fahrt“

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Hätte ich früher im Deutschunterricht Sibylle Bergs Die Fahrt gelesen und diskutiert, wäre ich wohl eher auf den Trichter gekommen, dass Literaturstudien auch nach der Schulzeit von großem Interesse sein können.

Sibylle Berg ist als Persönlichkeit und Schriftstellerin streitbar und sicher auch streitlustig:   sie hat sich für die Satire-Partei (mit dem blassen Namen Die Partei) im Europawahlkampf 2024 als Kandidatin aufstellen lassen. Ihre Werke fallen allgemein mit einem gewissen „pessimistisch-sarkastischem Ton“ auf, neben dem „formale Experimentierlust“ spürbar ist, wie die FAZ ihr Werk am Rande eines Interviews mit Edo Reents formulierte (Ausgabe vom 25.09.23). Nachdem ich am Silvesterabend 2021 im Maxi-Gorki-Theater von ihrem Stück Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden (u.a. mit Katja Riemann) mäßig begeistert war, wird mir Die Fahrt besser im Kopf bleiben. 

Dass unter anderem die Kulturstiftung Helvetia und das Globetrotter Reisebüro Bergs Romanprojekt unterstützt haben, wie man im Impressum erfahren kann, zeigt ein gewisses Engagement für die Sache, und die Sache heißt Literatur, für die gerade bei einer einschlägigen Thematik das Reisen essentiell ist.

Die Fahrt, zuerst erschienen 2007, erzählt von Reisenden, die sich untereinander mehr oder weniger gut kennen. Sie sind oder werden vor und während ihrer Reisen Bekannte. Insofern gibt der Romantext Reiserelationen in doppelter Hinsicht wieder: Personen und Orte werden miteinander so verknüpft, dass beide Kategorien zueinander eine Beziehung eingehen: Die Orte werden meist in Bezug von Relationen innerhalb von Städten oder Orten oder zwischen ihnen beschrieben, so dass die Wahrnehmung der Erzählstimme weniger das Wesentliche als das Flüchtige thematisiert, so dass das Erzählte mitunter grob-verzerrt herüberkommt. Sibylle Berg hat damit den Stempel ihrer Reisen auf die verschiedenen Charaktere aufgedrückt.

Zwei der gut zehn Figuren sollen als kleine Kostprobe dienen: Frank und Ruth. Während die ihm gewidmeten ersten drei Kapitel in Berlin und die letzten drei Kapitel in Reykjavík verortet sind, so begegnen wir Ruth in Franks erstem Berlin-Kapitel, bevor wir in sieben folgenden Kapiteln ihrer Reise bruchstückhaft folgen können: Drei Kapitel handeln in Tel-Aviv, drei weitere jeweils in Wien, Neu-Ulm und Paris, bevor wir sie im letzten Kapitel in Reykjavík wiederfinden.

Von Frank erfahren wir in sechs Kapiteln genau so viel, dass wir uns ihn als daheim in Berlin Dahinlebenden vorstellen können, der mit sich zufrieden ist, vielleicht deswegen, weil „eine Abwesenheit von Erwartungen“ vorherrscht:

Frank konnte heute verstehen, dass Berlin gemeinhin als wenig anziehend galt, denn die Stadt war definitiv eine äußerst hässliche Angelegenheit. Keiner hätte geglaubt, dass dieser Klumpen eingezäunten Drecks jemals wieder so etwas wie eine Metropole werden konnte. Nun war es eine, mit all den dazugehörigen Luxusläden, Kiezen, Parallelwelten, die sich nicht berührten. Es gab ein paar ästhetisch ansprechende Orte, doch hielten die sich immer so weit entfernt von einem selbst auf, dass man sie nie aufsuchte.  (…) So grenzten die Menschen mit zunehmendem Alter ihren Radius ein, gewöhnten sich an die Kneipen, Läden, Grünflecken in ihren Vierteln, die nicht größer waren als ein Dorf. Vermutlich sind Menschen von jeder Ansiedlung, die die Größe einer Kleinstadt überschreitet, überfordert.

Das Glück blitzt kurz auf, als er Ruth kennenlernt, als er einen aus seinem Nest gefallenen Vogel erstversorgt, mit ihr und einer Flasche Wein eine Nacht verbringt und anschließend das Leben des Vogels bei sich zu Hause für drei Tage verlängert. Eine Fernreise nach China bricht er ab, als er in einem startklaren Flugzeug sitzt; schließlich nutzt er einen dienstlichen Kontakt in Island aus, als er sich endlich einen Ruck heraus aus einem festgefahrenen Leben geben kann.  Lebensglück kehrt somit andernorts im Geiste der Gemeinschaft ein:

Am Abend war Frank so verabredet, wie man es in Island tat. Komm doch vorbei, sagte man, und dann kamen alle vorbei und hockten in Küchen, gingen später noch in eine Bar oder irgendeine andere Wohnung, um da herum-zuhocken. Dabei wurde immer nett geschwiegen, bis mehrere Isländer umfielen. Ohne Umfallen war der Abend kein gelungener. Frank, der nie ein Freund von Gesellschaft gewesen war, fühlte sich inmitten dieser merkwürdigen Menschen ausnehmend wohl. Vielleicht war es das Abhandensein von Eitelkeit, das die Atmosphäre so angenehm machte. Alle waren irgendwie verwandt, wer wollte da angeben?

Ruth lebt zu Anfang des Romans recht einsam als Übersetzerin ohne große Leidenschaft in Tel-Aviv. Statistiken übermitteln lakonisch-sarkastisch die Gefahren des Alltags, die leider im Oktober 2023 eine brutale Aktualität erfahren mussten: „Sie hatte gelernt, Autos mehr zu fürchten als Terroristen, es gab 6000 Verkehrstote jedes Jahr, dagegen nur 200 Terrortote.“ Wenige Abschnitte später heißt es : „3838 Terroranschläge gab es im letzten Jahr, täglich wurden 40 Attentatsversuche vereitelt. Alltag ging da nur mit Verdrängen.“ Zwei weitere Kapitel begleiten wir Ruth desillusioniert in Israel, bevor sie unfreiwillig auf der Rückkehr in die Heimat einen Kurzaufenthalt in einem Wiener Stundenhotel einlegt, ebenso unfreiwillig auf der Zugfahrt nach Berlin in Neu-Ulm strandet, zur Ablenkung ihre Sommerferien im brütend heißen Paris verbringt, wo sie zur ersehnten Abkühlung ein weiteres „Sommersonderangebot“ aufschnappt, nämlich zwei Wochen Island. In einem Reykjavíker Café trifft sie im fünftletzten Kapitel unverhofft Frank wieder. Sie erinnern sich an ihr erstes Zusammentreffen; in einem Leuchtturm verbringen sie gemeinsam eine romantische Nacht, als ihnen das Meer den Weg zum Festland versperrt. Einige Wochen herrscht das Glück in neuer Zweisamkeit vor, nachdem sie sich in das von Gunner zurückgelassene Haus eingemietet haben, der auch sein Todesort sein wird: Frank stirbt schließlich krebskrank „im Morphiumnebel“ im Beisein von Ruth.

Das letzte Kapitel knüpft an das erste Kapitel an, als von eben diesem Gunner die Rede war, der sein Haus nach der Trennung von seiner Freundin verlässt. Hier ist die Beziehung mit einer weiteren Figur also keine persönliche, sondern rein örtlich. Dadurch, dass die Reisen aller Charaktere flüchtig geschildert werden, festigen sich keine Konstellationen. Das Raum-Zeit-Kontinuum hat im Buch keine Relevanz, was eine aufmerksame Lektüre erfordert: Das Sprunghafte wird in diesem Roman zur erzählerischen Tugend: Wer das Buch ein zweites Mal liest, wird zuvor verborgene Bezüge auftun können.

Leider kommen die beigefügten Fotografien in der rororo-Taschenbuchausgabe (Rowohlt Verlag) qualitativ nicht gut weg. In der Ausgabe von Kiepenheuer & Witsch (Kiwi) entfalten sie eine deutlich bessere Wirkung. Sie geben dem Erlebten buchstäblich noch eine größere Dimension, da mit ihnen die beschriebenen Orte noch präsenter wirken. Die Lust zu fabulieren  macht aus diesen Schnappschüssen zusammen mit präzisen, meist skurrilen Reisebeobachtungen an kaum zu überblickenden Orten eine zeitlose, rasante Erzähl-Fahrt,  gleichsam ein literarisches Fahrtenbuch. Die vielleicht vorhandene Reisekostenabrechnung von Sibylle Berg wäre im Literaturmuseum Marbach sicher gut aufgehoben!

Lieferbar ist die KiWi-Ausgabe direkt beim Verlag. Die längeren Zitate befinden sich in der rororo-Ausgabe auf den Seiten 15 und 311, die kürzeren auf den Seiten 36f.

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