Als Kind habe  ich – sicher aus rein ästhetischen Gründen – um kurz vor 20 Uhr des öfteren die Ziehung der Lottozahlen gesehen. Sie war lange (von 1965 bis 2013) vor der Tagesschau auf einem festen Sendeplatz in der ARD. Die „Lottofee“ Karin Tietze-Ludwig schien dafür die Idealbesetzung gewesen zu sein. Heute ist die Ziehung ins Internet-Fernsehen abgewandert.  Gab es früher während der Ziehung sanfte Combo-Musik oder auch mal Electro-Beats, wird heute regelrecht gelabert.  Das Kamerabild der im gläsernen Rund geschwenkten Lottozahl-Kugeln scheint mitsamt der einzeln hinauskatapultierten Kugeln nicht mehr Spannungsmoment genug zu sein.

In der Konschthal von Esch-sur-Alzette dachte ich sicher noch nicht an die Ziehung der Lottozahlen, als ich mir auf mehreren Stockwerken die kinetische Installation Distance von Jeppe Hein anschaute.  Hier sind es mit Hilfe eines Startknopfs vom Ausstellungbesucher in Gang gesetzte weiße Kugeln (etwa in Bowling-Größe), die scheinbar unendlich lang in buchstäblich geregelten Bahnen rollen und wiederholt über Hebelifte auf ein höheres Energielevel gehoben werden. Die Langsamkeit des Rollens ist beeindruckend. Mitunter ist mal ist ein Looping eingebaut, mal geht es rasant abwärts. Man folgt der Kugel, was Aufmerksamkeit erfordert: Das Aus-den-Augen-Verlieren ist möglich, wenn mehrere Kugeln im Umlauf sind. Das Scheppern als Nebeneffekt vermittelt das Ungeschönte, Materielle. Die Gesetze der Physik soll man eben auch als Geräuschkulisse erfassen können. 

Wenig ist im Internet über die Installation geschrieben worden. Liegt es daran, dass sie kaum erklärungsbedürftig ist? Oder dass  man sie mit den eigenen Sinnen eingefangen haben muss? Ein Foto und ein sehr kurzes Video zeigen mich beim Betrachten der Installation. Dabei wird deutlich, dass der Unterschied zwischen den Medien im Kinetischen und Akustischen liegt: Das Foto kann die Dynamik und das Atmosphärische, wozu auch die Tonkulisse beiträgt, einfach nicht einfangen:

Distance von Jeppe Hein
Distance von Jeppe Hein
( Besichtigung am 21.08.2022 in der Konschthal Esch-sur-Alzette )
Distance von Jeppe Hein
(Besichtigung am 21.08.2022 in der Konschthal Esch-sur-Alzette)

Die Installation kann man gut nutzen, um physikalische Prozesse zu illustrieren. Ebenso lässt sich damit ein System als Konstrukt beleuchten. Wenn nur ein Bauteil defekt ist,  dann ist das ganze System lahmgelegt. Oft ist das nur abstrakt vorstellbar, doch in dem ehemaligen Möbelhaus, der heutigen Konschthal, merkt der Betrachter, wie stark es auf die Konzeption des Ganzen und auch auf jedes einzelne Element ankommt.  Die Wahrnehmung wird auf das Wesentliche gerichtet, nämlich auf den Ablauf.  So wie jeder Ausstellungsbesuch einen gewissen Ablauf hat, so wird hier deutlich, wie Wege vorgezeichnet und dann mit räumlichen Besonderheiten in Einklang gebracht werden. Man könnte hierbei auch an Lebenswege gehen, die auch energetisch gesteuert werden, Stichwort: „Lebensenergie“. In dieser Erkenntnis hat für mich die Installation auch etwas Modellhaftes. Distance steht für etwas Abstraktes, schwer zu Begreifendes. Ein Systemtheoretiker könnte hierzu Stellung nehmen.  

Meist nimmt ein Modell die Gestalt einer Miniatur an. Davon kann bei Jeppe Hein nicht die Rede sein. Ich würde von einer monumentalen Installation sprechen. Wir fühlen uns eher vom Spektakel übermannt. Das wäre beispielsweise bei einer Modelleisenbahn-Anlage nicht der Fall. Die kaum zu überschauenden Wahrnehmungsreize entsprechen auch eher unserer Erfahrungswelt. Die recht unbekannte Kulturhauptstadt – immerhin die zweitgrößte Stadt Luxemburgs – hat in zentraler Lage diese unsere Welt bereichert. Dafür sind wir ihr als Besucher dankbar.

Hier noch ein weiterer, kurzer Blogartikel mit einem unkommentierten, in Saint-Nazaire 2014 gedrehten Video zur Installation des 1974 in Kopenhagen geborenen Jeppe Hein. Distance war bereits an mehreren Orten ausgestellt. Das Bild und das kurze Video stellte mir freundlicherweise Cindy Unterrainer zur Verfügung.