Deep-L ist mittlerweile zu einem recht bewährten Werkzeug geworden, mit dem sich nicht nur gut übersetzen, sondern auch zusammenfassen lässt. Das Potenzial ist gewaltig.
Als ich im Studium Spanisch lernte, kam die poetische Kraft der Sprache eindeutig zu kurz. Doch als ich Ende August auf Deutschlandfunk Kultur den ruhigen Popsong Ámbar – zu deutsch: bernsteinfarben – von Calavera hörte, dachte ich mir, wie schön es wäre, nicht nur einige Brocken im Audioradio aufzuschnappen, sondern auch den ganzen Liedtext zu durchdringen. Außerdem hilft es, wenn man dank der kostenlosen Version von Deep-L eine schnelle Übersetzung ins Deutsche erhält (und dazu auch kurze Zusammenfassung des Liedtextes). Zweimal – am 04.09. und am 28.09. – bemühte ich das Tool: Während die beiden gelieferten Übersetzungen so gut wie übereinstimmen, sind die Zusammenfassungen komplett verschieden. Als mögliches Unterrichtsthema wäre es nun sinnvoll, diese beiden Version miteinander zu vergleichen. Während der erste Versuch sehr stark am Liedtext klebt, ist der zweite deutlich freier und vor allem auch abstrakter formuliert, so dass hier das Interpretatorische stärker hervorkommt. Genau das ist ja wichtig, um sich von dem Modus des Beschreibens zu lösen und Bedeutungen herauszufiltern, ohne dabei besondere Ausdrücke aus dem Blick zu verlieren:
Am 04.09. hieß es:
Der Text handelt von einer Person, die von einem Zug springt und sich plötzlich alleine fühlt. Sie sehnt sich nach der Anwesenheit einer anderen Person und vermisst deren Fußabdrücke. (…) Sie braucht diese Person mehr als andere und wenn diese nicht in ihrer Nähe ist, verliert sie sich immer wieder in der Stadt.
Am 28.09. las es sich ganz anders:
Der Text handelt von einem Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit in einer Stadt. Die Protagonistin erinnert sich an eine vergangene Beziehung und sehnt sich nach der Anwesenheit der Person. (…) Die Stadt symbolisiert dabei ihre eigene innere Leere. (…) Dieses Verlieren in der Stadt symbolisiert auch das Verlieren von sich selbst und einer Identität ohne die besagte Person.
Das klingt deutlich überzeugender, wenngleich es voreilig ist, die Stadt als Symbol zu sehen. In ihr ist die Einsamkeit zu beobachten, doch wird sie nicht beschreibend einbezogen. Im Refrain heißt es:
Sigo perdiéndome en la ciudad
Si ya no tengo a dónde ir
Te necesito más que a los demás
Sigo perdiéndome en la ciudad
Si no te tengo junto a mí
Es que prefiero recordarte así
Como una luz en la oscuridad
Die deutsche Übersetzung gibt den Text fehlerfrei wieder:
Ich verliere mich immer wieder in der Stadt
Wenn ich nirgendwo anders hingehen kann
Ich brauche dich mehr als die anderen
Verliere ich mich immer wieder in der Stadt
Wenn ich dich nicht neben mir habe
Ich würde mich lieber so an dich erinnern
Wie ein Licht in der Dunkelheit
Diese gute Übersetzungsleistung reicht jedoch nicht aus, um gänzlich richtige Schlüsse daraus zu ziehen. Beziehungsverlust führt letztlich oft zu Einsamkeit, doch was kann in diesem Kontext die Stadt dafür?
Die erste Strophe mag als Beispiel dafür dienen, wie im Original eine bestimmte Verlust-Stimmung einer geliebten Person beschrieben wird:
Bajé de un salto
De tu tren en marcha
Rodé sobre la escarcha en el asfalto
Sentí tu falta
Y ahora me asaltas
Y ya no queda ni rastro de tus huellas descalzas
Im Deutschen wird dies auf Deep-L folgendermaßen (nach einem groben wiederholten grammatischen Fehler in den September-Versionen) am 05.10. übersetzt:
Ich sprang hinunter von deinem fahrenden Zug
Ich rollte über den Frost auf dem Asphalt
Ich fühlte deine Abwesenheit und jetzt überfällst du mich
Und es gibt keine Spur mehr von deinen barfußigen Fußabdrücken
„Barfußige Fußabdrücke“ klingt mit insgesamt acht Silben wenig elegant; „rollen“ wäre besser freier mit „schlittern“ oder „sich treiben“ übersetzt, wodurch die kreisende Vorstellung des Ausgangsverbs verloren geht. „Escarcha“ ist mehr der (funkelnde) Raureif als bloßer Frost. Gänzlich falsch wurde das Verb „asaltas“ (Infinitiv: asaltar) am 04.09. und am 28.09. im Imperativ als eine Art Aufforderung mit „überfallen“ übersetzt. Warum eigentlich? Es handelt sich ja um den Indikativ, was in der Oktober-Übersetzung (endlich!) grammatisch richtig gestellt wurde. Auf Deutsch lässt sich das nur ungut wiedergeben; man könnte hier vielleicht mit „Nun komme ich nicht von dir los“ übersetzen. Im Spanischen dürfte die Verknüpfung des Springens, nämlich des Absprungs mit „bajé de un salto“ (Zeile 1 – Infinitiv: bajar de un salto) und des mentalen Aufspringens mit „asaltas“ (Zeile 5 – Infinitiv: asaltar) möglich sein, wenn man sich jeweils einen (Beziehungs-)Zug dazudenkt. Von einem fahrenden Zug zu springen lässt sich als Trennung ohne eindeutiges Motiv verstehen; nun ist die physische Abwesenheit und die gedankliche Anwesenheit des Gegenübers stark ausgeprägt: Inhaltlich kann es ja demnach beim Aufspringen nur um ein mentales Belagern, nicht um ein Überfallen gehen (Stichwort: Spurenlosigkeit). Hier merkt man, wie schwierig es für die KI immer noch ist, die richtige Bedeutung des Verbs aus dem besungenen Kontext herauszulesen.
Kurz noch zum Musikalischen: Dieser Song ist raffiniert psychedelisch komponiert. Besonders gelungen finde ich die harmonischen Wechsel auf den Endsilben „tí“, „ir“ und „mí“, der nach meinem Eindruck einen Ton-Sprung wiedergibt, der den Original-Text gut illustriert. So passt der Titel „bernsteinfarben“ sehr gut, der sich zumindest im Songvideo auf ein blinkendes Ampellicht bezieht. Wer nun glaubt, dass dieses Licht im Reich der Poesie verbleibt, irrt: Auf der Homepage der Stadt Mainz wird sogar für den Einsatz dieser Farbe für Beleuchtungszwecke geworben: „Sogenannte Amber-LED-Leuchten strahlen langwelliges, bernsteinfarbenes Licht ab und haben sich als sehr umweltfreundlich erwiesen.“ Bezogen auf Calveras Song poetischer formuliert: Ámbar ist im wahrsten Sinne ein Glanzlicht!
Das Lied kann hier (in Verknüpfung mit einem Musikvideo) nachgehört und der Songtext nachgelesen werden.