Es muss 2005 gewesen sein, als ich auf dem Weg von Annecy in Hochsavoyen nach Essen an Vesoul vorbeifuhr. Dieser ostfranzösische Ort an den südwestlichen Ausläufern der Vogesen ist mir seitdem vom Namen her ein Begriff. Ohne dass ich je im Ort gewesen bin, klingt Vesoul weich und versonnen. Ob der berühmte Chansonnier Jacques Brel auch, als er in den 1960er Jahren seine berühmte Chanson Vesoul schrieb, an diesen Klang dachte? Gelebt hat er dort nie, allenfalls übernachtet.

Nun, es gibt heute eine Place Jacques Brel und ein Collège Jacques Brel in Vesoul. So viel Andenken muss sein. Im Lied werden Orts- und Städtenamen kaskadenartig genannt, wobei an erster Stelle nicht Vesoul vorkommt, sondern das kleine unweit von Paris liegende Örtchen Vierzon; danach folgen Honfleur und – welch Überraschung – Hamburg!   Der Sänger ist denkbar schlecht darauf zu sprechen (und deswegen singt er auch mit einer gehörigen Portion Rage), dass sein Gegenüber die Orte und Städte zu sehen bekommt, das es auch sehen will, während er leer ausgeht. Das „Akkordeon“-Gedudel in Paris ist ihm ebenso verhasst. Dem Du gelingt es ebenso, einst geliebte Orte wie Vesoul wieder zu verlassen, als es von ihnen genug hat.  Und manchmal werden insgesamt gewisse Vorhaben (wahrscheinlich vom Du im Lied) zunichte gemacht, was einen bitteren Unterton erhält:

J’ai voulu voir ta sœur et j’ai vu le Mont Valerién (…)

Maintenent j’confonds ta sœur et le Mont Valérien (…)

J’ai voulu voir ta sœur et on a vu ta mère (…)

T’as plus aimé ta mère, on a quitté ta sœur

Ich habe nachgeschlagen, um eine wichtige Wissenslücke zu schließen: Der Mont Valérien, am westlichen Stadtrand von Paris gelegen, ist ein wichtiger Gedenkort für den Deutsch-Französischen Krieg und eine Opferstätte seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass dieser eher anonyme Ort im Lied Verwechslungspotenzial mit der Schwester  enthält, ist genauso zynisch wie die Feststellung, dass man dieser nun den Rücken gekehrt habe, weil das Du nicht mehr seine Mutter lieb habe. Diese im Lied provokant wiedergeholt vorgetragenen Hinwendungen und nachfolgend Abwendungen werden hier auf Verwandte (und wohl auch Bekannte) übertragen. Eine gewisse Hortense ist nun auch nach gewissen Erzählungen beim Sänger-Ich unten durch, so dass er nicht mehr zu ihr ins Département Cantal fahren möchte: „De ce que je sais d’Hortense, je n’irai plus dans le Cantal.“ Diesen Stunk in einen Walzertakt zu verpacken, um die beiden kreiselnden Lebensreisen zweier Bezugspersonen zu veranschaulichen, ist große Chanson-Kunst.

Dass Ende der 1990er Jahre die Formation Queen Bee (mit Edda Schnittgard und Ina Müller als Frontfrau) eine deutschsprachige Vesoul-Version veröffentlichte und dabei abgesehen vom Titel-Ort keine weiteren Bezeichnungen übernahm, bedeutet bereits eine intensive Auseinandersetzung mit der Vorlage und gleichzeitig musikalisch eine Neu-Interpretation. Queen Bee verwandelt die Walzer-Klänge in kantige, doch bewusst meist monotone Jazz-Akkorde.

Der Text hinterfragt sich scheinbar selbst:  „Du wolltest nach Vesoul / wo bitte liegt Vesoul?“ Auch die 2. Person in der Anrede wird manchmal zur 3. Person: „Sie“ bzw. „ihr“:

Du wolltest nach Bordeaux,

wir fuhren nach Bordeaux,

Bordeaux war ihr zu dumm,

wir kehrten wieder um,

ich wollte nach Cádiz,

wir fuhren nach Paris.

Weiter geht es nach Luzern (Reim auf Bern, wo es nicht hingeht), nach Lausanne (Reimvers „und dann weiter nach Cannes“) und auch nach Saas-Fee (Reim: „sie wollte in den Schnee“); des weiteren bilden weitere Reimpaare erreichte Ziele (Bahrain und Lichtenstein, Beirut und der Zuckerhut, der Niagara-Fall und Portugal, sowie Luxemburg, Lourdes und Klagenfurt und nicht zuletzt Bukarest, Brest und Budapest.) Das Sängerin-Ich würde gern mal nach Bonn und Heilbronn, Turin und Wien, in den Ural und nach Wuppertal (die Stadt, wo sie immerhin schon einmal waren!) schweifen und „bei Sylt im Watt“ und im „Kattegat“ verweilen.

Überall mag das Sängerin-Ich hinfahren, „nur nicht nach Berlin“, wo sie eingehe. Hier zeigt sich die merkwürdige Bedeutung dieses Verbs, das ja eigentlich mit ‚gehen’ einen räumlichen Bezug hat. Stets kann das ‚sie’ in der dritten Person sich durchsetzen, auch „weil sie so drauf besteht“. Deswegen geht es schließlich doch nach Berlin, dorthin, wo die „verdammte Musik“ und das „verfluchte Programm“ mit dem „ganzen Tamtam“ zu finden sei. Hier befreit sich die Begleitmusik ironischerweise vorübergehend aus der Monotonie.

Die deutsche Version gibt der Chanson kabarettistische Züge. Anders als bei Brel ist keine Verbitterung herauszuhören, sondern die Inszenierung von maximaler Gereiztheit. Bei den bereisten Städten und Plätzen gibt es eigentlich auch nichts zu beklagen. Insofern steht der Humor hier an erster Stelle. Die Reime verknüpfen Reiseziele, die nicht zwangsläufig zusammengedacht werden, so dass hier die Klang-Kunst der sich reimenden Destinationen im Vordergrund steht. Man könnte diskutieren, inwiefern Brels Chanson hier parodiert wird. Beide Liedkompositionen könnten jedenfalls gewisse Parforce-Ritte ganz ohne Pferdeeinsatz nicht origineller besingen!

Eine sehr lesenswerte Kurzbiografie zu Jacques Brel, der aus dem Großraum Brüssel stammt und in Französisch-Polynesien begraben ist, findet sich hier. Die Chanson lässt sich hier in deutscher Übersetzung nachlesen. Zu einem Vergleich lädt der Original-Text ein.