Wenn eine Kunstausstellung eine veritable Sammlung aus einem Nachlass vorstellt, kann man sich vorstellen, wie wohlhabende Menschen, vor allem Unternehmer, ein größeres Interesse daran zu haben, ihren Kunstgenuss privat zu steigern. Die Sammelleidenschaft reicht nicht aus, denn sonst würde man sich eher auf einen bestimmten Künstler oder ein bestimmtes Motiv konzentrieren.
Die Sammlung des Textilkaufmanns Hermann Hugo Neithold, die Anfang 2020 im Zwickauer Max-Pechstein-Museum zu sehen war, wird keine großen Museen füllen, selbst wenn sich Gemälde von Max Liebermann und Lovis Corinth darunter finden. Und doch zeugt es von einer gewissen Sammlungsqualität, wenn fast ein Jahrhundert später daraus eine öffentlich zugängliche Ausstellung wird. Neithold war lange in Wilkau südlich von Zwickau im Wollimport tätig: Ein Einkäufer, der in einem großen Unternehmen (Kammgarnspinnerei Heinrich Dietel) auch Prokura und den damit verbundenen Wohlstand genoss.
Ein in die Ecke gedrängtes Bild würde heute unter Verschluss bleiben, wenn es nicht nun in einer thematischen Klammer kurzfristig Berechtigung fände, ausgestellt zu werden. Mich hat es angesprochen, obwohl der Künstler alles andere als politisch einwandfrei auftrat. Im Wikipedia-Eintrag liest man über den aus Kiel stammenden Ernst Vollbehr (1876-1960), dass er als Maler und Schriftsteller Krieg „verherrlichte“. Die Bildbetrachtung lässt dieses Urteil nicht zu.
Das von mir ins Auge gefasste Gemälde „Abendsegen“ ist auf den Tag genau datiert: 23. September 1914. Wir wissen, dass der Maler recht schnell seine Beobachtungen im Krieg auf der Leinwand verarbeiten musste; das war schließlich seine Aufgabe. Zum Glück überlebte Vollbehr beide Weltkriege, so dass beim Betrachten die biografische Tragik weniger stark in Gewicht fällt. Bei meinem Anblick überwiegt das Gefühl der Ruhe; die sichtbare Kavallerie scheint von der Abendstimmung in abwechslungsreicher Landschaft neue Kraft zu schöpfen, die möglicherweise zerstörerisch auf andere einwirken wird. Die aufsteigenden Rauchsäulen können von Kriegshandlungen stammen, doch sie zeugen von keiner unmittelbaren Gefahr. Krieg und Frieden halten sich im Bilde die Waage; und genau das erzeugt ein Gefühl der Beklemmung. Die Schlachtszenen, die man von vielen Gemälden kennt, blende ich vollständig aus. Sie ziehen mich nicht in den Bann, weil sie oft derart konstruiert erscheinen, nur um etwas zu fassen, was eigentlich selbst in modernen Medien unfassbar ist. Bei Vollbehr ahnt der Betrachter, dass der Augenblick ein Schwebezustand ist: Ruhe und Bedrohung halten sich die Waage.
Wie das Geistesgemüt des Künstlers wohl ausgesehen haben mag? Auf jeden Fall war bei ihm die Konfrontation mit dem Fremden auch in Friedenszeiten mental angelegt. Bei einer kurzen Recherche stoße ich im Internet auf die Digitalversion seines illustrierten Buches Mit Pinsel und Palette durch Kamerun, das zwei bis drei Jahre zuvor entstand. Hier dominiert die damals übliche koloniale unkritische Haltung gegenüber der Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung. Teilweise sind seine Sätze aus heutiger Sicht schwer erträglich, auch wenn sie (leider) bei dem einen oder anderen immer noch Zustimmung fänden.
Ein Schwarzer lässt sich seitens des Europäers durch Güte allein nicht erziehen und leiten, sondern sieht die Güte leicht als Zeichen von Schwäche und Furcht an. Da er von den Häuptlingen, bevor wir Deutsche ins Land kamen, erbarmungslos behandelt wurde, ist er es gewohnt, nur auf Druck zu arbeiten. Der Eingeborene empfindet die Strafe als gerechte Sache und findet es weichlich von uns, wenn wir uns von ihm etwas gefallen lassen und nicht strenge sind.
Vollbehrs verdankt seinen privilegierten Status der Malerei vor Ort den politisch-sozialen Gegebenheiten. Auch gut 20 Jahre springt er politisch gesehen auf den Zug auf und instrumentalisiert seine Malerei. Man wird deshalb den Eindruck nicht los, dass ein Künstler wie er ein Werk hinterlässt, das einem nicht gefallen sollte. Und doch lernt man von ihm etwas, was man sonst bei den Meisterwerken der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht erfährt: Die Entstehungsumstände sind dem Werk im wahrsten Sinne des Wortes subtil eingezeichnet. Der großbürgerliche Sammler Neithold muss sich dessen bewusst gewesen sein. Weder die Mußestunden des Ateliers noch die theoretische Konzeption des Werkes stehen im Vordergrund, sondern das, was sich wissentlich rund um den „Abendsegen“ abspielt. Fast unbemerkt klingt in mir bei der Betrachtung der Wunsch nach Frieden an, ohne dass die künstlerische Intention es nahelegt: Das gedankliche Zusammenspiel aus Abend und Segen ist für mich stark genug, das Werk aus meiner ganz subjektiven Perspektive heraus auf mich einwirken zu lassen. Ich wurde zum Glück zeitgeschichtlich anders geprägt als der Künstler, und ich habe das Glück, mir an einem späten Dienstagnachmittag im (Seelen-)Frieden das Bild anzuschauen. Das sollte Kunst erreichen, wenn man sie ernst nimmt: Den eigenen Blickwinkel mal zu hinterfragen und auch mal festigen, damit man nicht gedanklich das kopiert, was in der Vergangenheit (aus heutiger Konsenssicht falsch) gedacht wurde. Und deshalb ist es auch ratsam, sich mit Werken zu beschäftigen, die nicht eindeutig überzeugen können.
Das Werk, aus dem das Zitat stammt, ist hier digital einsehbar: Ernst Vollbehr: Mit Pinsel und Palette durch Kamerun. Tagebuchaufzeichnungen und Bilder, München 1912 (S.132).
Der Ausstellungskatalog mit dem Titel Ein Kaufmann als Kunstfreund im Deutschen Kunstverlag lässt sich hier bestellen.