Auf dem Streifzug durch die imposante Sonderausstellung Edvard Munch. Angst in den Kunstsammlungen Chemnitz ist mir ein Werk einer Künstlerin aus der gleichen Epoche besonders in Erinnerung geblieben:

Das Bild passt sicher nicht direkt zum Angst-Motiv, das Edvard Munchs Werk besonders prägt. Eher lässt sich daraus eine gewisse Einsamkeit herauslesen, die ebenfalls bei Munch eine große Rolle spielt. In den eigenen vier Wänden kam mir der Gedanke, dieses Gefühl mit dem siebten bzw. ersten Tag der Woche zu verknüpfen, so dass ‚Sonntagseinsamkeit’ entsteht.
Aus dem 19. Jahrhundert sind mir die Begriffe Waldeinsamkeit und Feldeinsamkeit begegnet. Waldeinsamkeit (1851) ist der Titel eines längeren Gedichts von Heinrich Heine (1797 – 1856); Hermann Allmers (1821-1902) betitelte ein zweistrophiges Gedicht mit Feldeinsamkeit (1860). Es wurde 1882 von Johannes Brahms (1833-1897) vertont (op. 86). Beide Begriffe lassen sich kaum übersetzen, vermitteln sie doch ein Gefühl, das viel komplexer ist als einfach nur Einsamkeit. Während bei Allmers das lyrische Ich im „hohen grünen Gras“ ruht und sich „von Himmelbläue wundersam umwoben“ fühlt, klingen bei Heine freudlose Töne an, da die wundersame Traumwelt sich bei seinem lyrischen Ich nicht mehr einzustellen vermag. Es beklagt die Abwesenheit von Feen und „Alräunchen“, gewissen „Waldgeistern“, die ein „fingerlanges Greisengeschlecht“ kennzeichnet, was eine gewisse Trostlosigkeit erzeugt:
Es glotzen mich an unheimlich blöde
Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde,
Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.
Ich gehe gebückt im Wald herum.
Diese Strophe könnte die Brücke zum Gemälde von Magdalene von Werefkin schlagen, in dem auch der Blick hin zum blauen Horizont eher öde zu sein scheint. Die drei Personen, die man erkennen kann, blicken scheinbar den geschrägten Raum hinauf, wobei die meisten Betrachter an einen Wirtshausbesuch mitten in der Natur denken würden. Dort herrscht oft ein geselliges Treiben, wovon im Bild nicht die Rede sein kann. Und doch fände ich es nicht zutreffend, die auf dem Bild spürbare Einsamkeit ähnlich wie bei Edvard Munch ausschließlich als negativ zu interpretieren. Ich stelle mir von Werefkin, deren fast drei Jahrzehnte währende Beziehung zum Maler Alexej von Jawlensky alles andere als harmonisch war, ähnlich wie andere expressionistische Maler in der Natur vor. Hilft beim Entstehungsprozess eines Werkes nicht auch eine gewisse Einsamkeit? Und gab ein Motiv nicht eine bestimme Perspektive vor, die auch am Sonntagsnachmittag mehr als deutlich erkennbar ist?
Aus dem Werk lässt sich eine gewisse Leere (aufgrund der unbesetzten Tische) herausinterpretieren, doch ist es nicht auch faszinierend, sie so dargestellt zu empfinden? Der Himmel und die drei betrachteten Personen geben eine gewisse Blickrichtung vor, die für mich auch eine Sehnsucht nach etwas ausdrückt, die wir weder in Worte noch in Objekten fassen können. Womöglich macht sich dieses Sehnen am Sonntagnachmittag am ehesten bemerkbar, das weder kaschiert noch kompensiert werden kann.
Interessant ist, dass Sonntagnachmittag eine recht präzise Zeitangabe ist, während ‚Wald’ und ‚Feld’ eher unpräzise Verortungen darstellen. Das Wort ‚Wald’ wird bei einem Nordeuropäer ganz andere Assoziationen aufrufen als bei einem Nordafrikaner, während man beim Sonntagnachmittag ein einheitlicheres Maß anlegen kann. Denn die meisten Menschen, egal wo sie herkommen, können recht genau sagen, was sie gerne an einem für sie persönlich arbeitsfreien Sonntagnachmittag tun. So finde ich den Titel Sonntagnachmittag geschickt gewählt.
Als ich am 01. November nachmittags im Radio zufällig hörte, dass die Wartezeiten für Autofahrer an der deutsch-niederländischen Grenze auf der Fahrt zu den offenen „Einkaufszentren“ in unserem Nachbarland bis zu einer Stunde betrugen, war mir klar, dass man den Drang, an einem Feiertag unbedingt zum Shoppen ins Ausland fahren zu wollen, zumindest teilweise mit dem Gefühl der Sonntagseinsamkeit erklären kann, wenn man den Sonntag analog zu Allerheiligen als Feiertag betrachtet. Wenn die meisten Geschäfte hierzulande meist geschlossen sind, bleibt neben dem Ausflug nicht viel mehr als innere Einkehr daheim, sollten nicht praktische Dinge wie Aufräumen, Saubermachen etc. den freien Tag zu sehr prägen. Ein Ausflug will anders als das Einkaufen gut organisiert sein. Körperliche Bewegungen sowie Neuentdeckungen können auch als anstrengend aufgefasst werden, wohingegen das Eintauchen in die Warenwelt womöglich eine erfolgreiche Schnäppchenjagd ermöglicht, die die gefühlte Leere materiell füllen kann.
Mir gefällt die Zeitlosigkeit dieses Werkes mit konkreter Zeitangabe. Das Ausbrechen aus der Arbeitsroutine und dem Alltag kann am ehesten am Sonntag stattfinden, das als Ruhetag auch im 21. Jahrhundert Potenzial bietet: Denn besonders in sinnentleerten Umgebungen können neue Gedanken-Räume entstehen und sinnvoll gefüllt werden.
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