Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Monat: Oktober 2025

Familiengeschichte einmal anders: Über ein saugendes Mysterium

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Als ich vor einer guten Woche auf der Suche nach einem Sebo-Händler im Umkreis von Chemnitz war, um an passende Staubsaugerbeutel zu geraten, kam mir wieder die Familienbiografie von Meir Shalev (1948 – 2023) in den Sinn. Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger stellt ein quasi mystisches Objekt in den Vordergrund, das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gut wie alle Haushalte eroberte. Heutzutage spricht man weiterhin über dieses nützliche Gerät, gerade wenn es um den Saugroboter geht.

Die Kapitel 18-23 sind für mich die amüsantesten in diesem Buch, das den Leser an die Welt in einem Moshaw (oder Moshav) heranführt, einer „genossenschaftlich organisierte Siedlungsform“ in Israel, die anders als ein Kibbuz Privatbesitz zulässt.  Jenes real existierende Moshaw heißt Nahalal, gut 100 Kilometer nördlich von Tel Aviv, etwa auf der Höhe der zweitgrößten Stadt Haifa gelegen. Man kann sich leicht vorstellen, wie befremdlich ein aus den USA importierter Staubsauger namens Sweeper gewirkt haben muss. Das dazu passende Zitat steht am Anfang des 20. Kapitels:

Das gleißende Chromglitzern, die Rundungen des Gehäuses, die großen Räder, die auf Scheu vor Arbeit und Anstrengung schließen ließen – all das vertrug sich nicht mit den Prinzipien des Moschaws und seinen Werten, und die Genossen bissen die Zähne zusammen und unterdrückten eisern jedes aufkeimende Verlangen.

Protagonisten sind neben Großmutter Tonia die beiden Onkel des Erzählers, der Schenker Onkel Jeschajahu und der Beschenkte Onkel Jizchak, der den Staubsauger in den Dienst stellt, nicht ohne zu prüfen, ob das Gerät „mit dem Stromnetz der britischen Mandatsverwaltung kompatibel“ war.

Verdacht schöpft Tonia, als sie die vom Sweeper bewirkte „absolute und mühelose Sauberkeit“ zur Kenntnis nahm. Zwei entscheidende Fragen stellen sich dabei: „Wo steckte der Staub, den ihr Staubsauger aufgesaugt hatte? Wo war der weggeputzte Dreck?“ So wird daraus ein wahrhaftiges „Mysterium“! Das klingt vergleichsweise harmlos:  Ein Staubsauger könnte sich auch als „trojanisches Pferd“ oder auch als „Kollaborateur“ entpuppen, wie der Erzähler uns zu verstehen gibt.  Was für Verschwörungstheorien daraus entstehen können! Hier wird schön ersichtlich, was ein Romancier aus einer Familiengeschichte machen kann, nämlich sie mit Wortwitz anreichern. Shalev ist das zweifelsohne 2009 mit dieser Veröffentlichung gelungen.

Das Geheimnis lüftet Onkel Jizchak, als er den Staubsauger öffnete:

In seinem Innern sah man allerlei Düsen und Walzen und Treibriemen und Transmissionen, und Staub und Dreck, und in der Mitte – hässlich, abstoßend und ekelhaft wie ein geblähter Krötenkadaver – ein prallvoller Stoffbeutel.

Großmutter Tonia lässt es sich nicht nehmen, noch näher an die Materie heranzurücken: Sie sieht „grauen Staub“, „tote Insekten“, „Menschenhaare, winzige Essenskrümel“; all das reichte aus, um ein Argument zu finden, den Sweeper  in vier verschiedene Materialien (Stoffsack, Karton, Leintuch, Wolldecke) zu verpacken, damit nicht der geringste Dreck aus ihm je wieder entweichen möge. Und die Lagerung soll ausgerechnet in einem Badezimmer erfolgen, in das der Erzähler keinen Zutritt hatte! Angeblich verblieb das Gerät darin „vierzig Jahre“. Was für eine lange Zeit!

Auch die Verpackung wirkt besonders für die Großmutter Tonia obszön. Sichtbar ist

dem Anschein nach eine gewöhnlich amerikanische Hausfrau, in Wirklichkeit – der Teufel in Frauengestalt: die Lippen rot geschminkt, ein rotes Kleid mit weißen Tupfen am Leib, schmale Taille, üppiger Busen und kecker Po, dazu rotlackierte Nägel. (…) Schier alles an ihr zeugte von Verwöhntheit und Gefallsucht, Leichtsinn, Hedonismus und der Vergötterung des Privateigentums.

Das konnte unter den Dorfbewohnern nur Entrüstung hervorrufen! Die Vergötterung von Objekten ist ganz klar blasphemisch und kann nicht gut geheißen werden!

Allgemeine Fun Facts zum Staubsauger erfährt der Leser ebenfalls: Ein gewisser James Spangler erfand die erste elektrische Version (nach den vorsintflutlichen Modellen des 19.Jahrhunderts), die nicht viel mehr als  „einen Besenstil, einen elektrischen  Ventilator und einen Kissenbezug“ umfasste. Da erst ein kaufinteressiertes Ehepaar mit dem klingenden Nachnamen Hoover sich die Patentrechte sicherte, klingt bis zum heutigen Tage ein Innovator und kein Erfinder nach.

Heute würde ein solches Buch nicht mehr geschrieben werden. Die Vertriebswege haben sich eindeutig revolutioniert. Auch bei meinem trivialen Beutel-Kauf: Schließlich kam ich über eine Online-Bestellung sehr schnell an die gesuchten Objekte, auch wenn ich etwas bedauere, damit indirekt den guten alten Einzelhandel hintergangen zu haben. Doch lohnt es sich, mindestens 10 km Umweg für ihn in Kauf zu nehmen? Sei’s drum. Ich bin froh, dass ich dank Meirs Shalev jeden Saugvorgang mit dem Gedanken an eine besondere zivilisatorischen Errungenschaft auf mich nehme.  

Das 2011 in deutscher Übersetzung erschienene Buch kann beim Diogenes Verlag problemlos bestellt werden. Die längeren Zitate sind auf den Seiten 165, 179 und 202 zu finden.

Fantastisch lügen – Über einen wundersamen Reiseroman

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Im Februar 2025 wurde die Hartmann-Fabrik in Chemnitz eröffnet. Ein ehrwürdiger ehemaliger Bau, wo von den 1860er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg von der Firma Sächsische Maschinenfabrik AG Dampflokomotiven hergestellt wurden (die Firma gab es in Chemnitz schon seit 1848!). In diesem Jahr dient er als Besucher- und Informationszentrum für die Kulturhauptstadt 2025. Viel gibt es darin (noch) nicht zu sehen; mir gefällt jedoch die Ruhe und die Möglichkeit, dort einige Minuten innezuhalten. Als ich mir zum ersten Mal diesen Ort ansah, fielen mir einige Bücher auf, die am Empfang passend zur Kulturhauptstadt zusammengestellt worden waren. Ein Titel und ein hellblaues Cover fielen mir besonders in die Augen – sogleich bestellte ich es in der sehr gut sortierten Buchhandlung Lessing und Kompanie auf dem Chemnitzer Kaßberg.

Irmtraud Morgners Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers sind sicher eine Perle der phantastischen Literatur aus DDR-Zeiten. Es wird nicht leicht gewesen sein, diesen Roman im Jahr 1972 zu veröffentlichen, da er auch ein Stück chiffrierte Realsatire ist. 1933 ist Irmtraud Morgner in Chemnitz geboren; im Roman wird als realer Ort explizit der Chemnitzer Stadtteil Hilbersdorf mit seinem „Bahnbetriebswerk“ (im Buch ist ganz zu Anfang von „C.“ die Rede) genannt: Hilbersdorf ist übrigens zugleich Standort eines exzellenten Eisenbahnmuseums, das auch als Schauplatz Eisenbahn beworben wird.

Am 20.09. hatte ich die Gelegenheit, aus diesem Buch einige Seiten auf der 2. Büchernacht im Dachgeschoss des Renaissanceschlosses Ponitz bei Altenburg vorzulesen. So merkte ich einmal mehr, wie stark dieses Buch ist, das 2006 im Verbrecher Verlag Leipzig neu aufgelegt wurde. Dass sich im Schloss, das zur Finanzierung der Restaurierung ein großes Antiquariat vorhält, eine DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1982 befand, war natürlich eine herrliche Pointe. Es wurde mir als kleines Dankeschön in die Hände gelegt: Ganz gewiss wird es auch auf Reisen gehen, um weitere Lesefreude zu bereiten! Und dass an einem Tag, als nicht nur in Sachsen 200 Jahre Eisenbahn gefeiert wurde…

Veranstaltungsticket
Tagesticket für eine ganze Familie für die Feierlichkeiten zu “200 Jahre Eisenbahn in Europa”

Ganz besonders gelungen ist die Fiktion in der Fiktion: Bevor Gustav über seine Weltreisen erzählt, kommt eine Verfasserin namens Bela H. zu Wort; nach den erzählten Weltreisen ist ein Nachwort der Herausgeberin „Dr. phil. Beate Heidenreich“ abgedruckt. Als ob also Irmtraud Morgner keine Zeile in diesem Buch geschrieben hätte! So spielt das Buch auch als Produkt mit Vorspiegelungen falscher Tatsachen.

Aus der Deutschen Biografie wissen wir, dass Irmtraud Morgners Großvater wie ihr Vater tatsächlich Lokführer war.  So wird sie sich in Hilbersdorf sicher ausgekannt haben. Eisenbahnromantiker werden in dem Buch womöglich bitter enttäuscht: Die Lüge wird zum Leitmotiv des ganzen Romans. Der Leser muss um die Ecke denken, beispielsweise, wenn es im Vorwort heißt:

Großvater Gustav war von Kultur ein Lügner, nicht von Natur. In ihm arbeitete die Schöpferkraft der Machtlosen. Zu ungeduldig, um warten zu können, eignete er sich die Welt an, bevor sie ihm errungen war. Eine legendäre Gestalt.

In diesen Sätzen steckt schon eine Menge Wucht. Die Mikroebene – der Machtlose – prallt auf die Makroebene – die Welt. Es entsteht ein Universum, das es so nicht geben kann und ausschließlich in den Worten des Erzählers enthalten ist. Jener Ich-Erzähler, Gustav der Weltfahrer, hat einen Zuhörer im Text, und zwar Gustav der Schrofelfahrer, was auch ein kluges Konstrukt ist: Denn er kann einer Person berichten, die „bei der städtischen Müllabfuhr“ angestellt ist, und ihn aus dem Vertrauten in ganz unbekannte Gefilde entführen.

Eine ganz besondere Stellung nimmt in den Erzählungen die „Hulda“ ein, des Weltfahrers Name für sein Gefährt, mit dem er die Weltreisen antritt, als er das Rentenalter erreicht hatte (erinnert sei hier an die in der DDR gewährte Reisefreiheit für diese Bevölkerungsgruppe). Seine Sammlung im Keller hat er auf „Schrottplätzen des Bahnbetriebswerks, in Steinbrüchen, auf Müllhalden und auf der Straße“ zusammengetragen. Kurzzeitig verhaftet wurde er, als er „im Führerhaus einer auf dem Lokfriedhof abgestellten XH1-Schnellzuglokomotive entdeckt“ wurde. Nun wird die staatlichen Bürokratie aufs Korn genommen: Trotz vorgelegtem „Kaufvertragsentwurf mit einem nach dem Schrottwert berechnetem Preisangebot“ erhält er keine Erlaubnis, sich diese anzueignen, wohl aber für den Ankauf einer „YII T Naßdampftenderlokomotive, Baujahr 1886, aus den Schrottbeständen der Deutschen Reichsbahn für private Zwecke“ mit der Vorgabe, „die Schienenwege innerhalb der Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik nicht zu benutzen“. Man kann hier nicht verkennen, dass Gustav sich als waschechter Eisenbahner inszeniert, doch statt ihn realistisch abzubilden, sucht Irmtraud Morgner alias Bele H. die Flucht in eine imaginierte Welt, die Fetzen der Realität enthält. Dass auf der vierten Reise die Lokomotive über den Ozean und den Amazonas schippert und auf der siebten Reise sogar in den Weltraum geschossen wird, ist einfach vergnüglich zu lesen: Morgners Roman hebt einfach buchstäblich von der biederen Wirklichkeit ab!

Was mir an Gustav imponiert ist seine Neugier an der Welt. Jede Reise endet mit der Heimkehr, jede neue Reise mit einem Gefühl von Fernweh, abseits einer „Rentnerbrigade“ und eines „Veteranenclubs“. Geschildert wird jedoch keine Utopie, kein Traumland, sondern eine Welt voller Abgründe und Absurditäten, die voller Phantasie ist und trotzdem auf realen Welterfahrungen beruht. Das Rätselhafte bleibt im Vordergrund; der Leser wird sozusagen in fremde Welten „entführt“, was zu einem verstörenden Lesevergnügen führt, denn: Auch die Reiseliteratur steht für das Lügenhafte – irgendwie scheint sich auch der Erzähler Gustav über seine Erzählstränge lustig zu machen, genauso wie der übergeordnete Erzähler, der mit dem kurzen Satz „Also sprach Gustav der Weltfahrer“ jeweils am Ende der Reisen noch urkomisch die Erzählumgebung und -umstände der beiden Gustavs schildert, auch mal Gustav den Schrofelfahrer zu Wort kommen lässt und die eine oder andere Aussage der Dialogpartner kommentiert. So wird eine weitere Textebene eingezogen.

Das Buch würde sich für eine abendfüllende Lesung mit biografischen und literaturwissenschaftlichen Erkundungen lohnen – ganz sicher auch an so einem wunderschönen und zugleich wundersamen Ort wie dem Renaissanceschloss Ponitz!

Vielen Dank an den Förderverein Renaissanceschloss Ponitz für die schöne Gelegenheit, diesen phantastischen und zugleich in vielen Belangen verrückten Roman zu später Stunde vorzustellen. Das Buch kann beim Verbrecher Verlag bestellt werden. Die längeren Zitate finden sich in dieser Ausgabe auf den Seiten 8 und 15-18.

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