Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Monat: September 2025

Der Liebesbrief im Lied – Coralie Cléments “Salle des pas perdus”

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Eines der spektakulärsten analogen Fundgruben in Deutschland ist sicher das Liebesbriefarchiv, das sich in Darmstadt und Koblenz befindet. Seit Ende der 1990er Jahre erschließt die Forschung diese besonderen Textdokumente. Gefördert hat die öffentliche Hand das eine oder andere große Projekt, um Wissensbestände – nach und nach digitalisiert –  nicht nur sichern, auch auszuwerten. Sogenanntes bürgerwissenschaftliches Engagement (Citizen Science) ist dabei eminent wichtig.

In einem (digitalen) Spezialarchiv, nämlich in einem Liebesbrief-Liedarchiv wäre das Lied Salle des Pas Perdus von Coralie Clément gut aufgehoben, das auf dem gleichnamigen Album von 2001 zu finden ist. Alle Lieder dieses Albums, mögen sie auch noch so unterschiedlich sein, würden ebenso bestens als Hintergrundbeschallung in einem französischen Bistro passen. Das Lied Le Jazz et le Gin sticht für mich akustisch heraus; besser könnte man Musik und Genuss nicht ineinander verschmelzen lassen.

Doch zurück zu dem deutlich leiser und schlichter instrumentierten Lied, das jedoch einen sehr auffälligen Titel hat. Auf Deutsche kann man Salle des Pas Perdus recht schnöde als Wartesaal und noch schnöder als Wartebereich übersetzen. Eine komplexe Vokabel bestehend aus vier Einzelwörtern, die im Deutschen in einem Begriff (aus zwei Teilen) münden. Wörtlich evoziert der Saal der verlorenen Schritte gewissermaßen ein Kopfkino, das zu einer Bahnfahrt in heutigen Tagen kaum noch passt. Ich stelle mir jedenfalls einen großen, schön eingerichteten Raum vor, in dem Fahrgäste hin- und herhuschen und ein Wispern zu hören ist. Smartphones sehe ich nicht vor meinem inneren Auge, und erst recht keine Kopfhörer. Also ein Bild aus der Vergangenheit. Und ein Liebesbrief würde in dieser Form wohl auch nur noch sehr selten geschrieben werden. Das Lied als Liebesbrief ist einerseits unauffällig vorgetragen (ähnlich unspektakulär wie ein Rezitativ aus einer Oper), andererseits jedoch höchst kreativ getextet. Es geht nämlich um eine attraktive junge Person, der das Sängerin-Ich in einem Wartesaal und zugleich auf dem Treppenabsatz im Hausflur begegnet ist. Sie seien wohl seit Mai Nachbarn. Ein Liebesimpuls reicht aus, um solchen einen Brief zu schreiben, und noch schöner, ihn vorzusingen.

Im Brief wird erwähnt, dass der Angeschriebene zwar den Namen der Autorin nicht kennt, wohl aber den Duft ihres Parfums. Der Kopfbahnhof Saint Lazare in Paris wird als Ort erwähnt, wo jener neue Nachbar mit einer weiteren Unbekannten, ihre Gitarre tragend, gesichtet wurde (‚Lazare’ reimt sich schön auf ‚guitare’).  So ist es ein gewisses Wagnis, ihr zu schreiben, dass er ihre „Flamme“ sei und dass sie bedauert, ihr nicht bis zum Gleis gefolgt zu sein. Sie schließt den Brief mit der kühnen Ankündigung, dass sie im Café gegenüber auf ihn abends um viertel vor zehn wartet:

Je serai à la terrasse
Du café d’en face
Ce soir à dix heures moins le quart.

Nun kann sich ein weiteres Kopfkino anschließen. Ob der Nachbar die Einladung akzeptiert? Romantischer könnte man jedenfalls kaum ein Date arrangieren.

Die Grußformel bildet mit dem Vornamen einen Reim: „Bien à vous. Lou“. Ohne Nachspiel verhallt der Song also kurz und knapp mit „Lou“.  So wird auch das formelle Ende des Schriftstücks auf das Musikstück übertragen, dessen Inhalt im Jahre 2025 schon als historisch zu bezeichnen ist, gerade in medialer Hinsicht. Das digitale Kennenlernen lag noch in den Kinderschuhen, als die Liedzeilen entstanden.

Wenn man die KI (perplexity.ai) nach Coralie Cléments Lied befragt, bekommt man erschreckend unrichtige Antworten serviert, was zeigt, wie fehlerhaft ohne Verstand interpretiert werden kann. „Eine fast flüsternde Interpretation“ sowie „intimes und poetisch-melancholisches Flair“ als Antwort auf die Frage, wie sich die Stimme der Sängerin im Vergleich zu anderen Songs unterscheidet, ist noch akzeptabel, doch dann heißt es:  „Im Vergleich zu anderen Songs, in denen sie oft melancholisch und verträumt singt, wirkt ihre Stimme hier noch zarter und verletzlicher.“ Hier gibt es keine klare Linie mehr: Wie kommt die künstliche Intelligenz auf „verletzlich“??

Die Bitte, das Lied kurz zu kommentieren, enthält folgenden Abschnitt:

Die Handlung spielt in einer Bahnstation – der „Salle des pas perdus“, ein typischer Wartesaal – und die Lyrics verwandeln das alltägliche Setting in eine melancholische Miniatur über verpasste Chancen und den Mut, Gefühle mitzuteilen. Das Stück ist im Stil des französischen Chanson gehalten und fängt mit sanfter Musik und verträumtem Gesang das nostalgische Flair Frankreichs ein, mit einem Hauch von Retro-Ästhetik. Insgesamt vermittelt der Song eine poetische Atmosphäre zwischen Alltag und Romantik, geprägt von Diskretion und Zurückhaltung.

Nun ja…so wird man dem Lied nicht gerecht. Der Kontext wird ausgeklammert, so dass man definitiv nicht von einer verpassten Chance sprechen kann. Und wie kann man auf so einen Humbug wie „nostalgisches Flair“ kommen? Damit werden Klischees reproduziert!

Auch hier wird deutlich: Ein genaueres Hinhören und Hinschauen lohnt sich, nicht zuletzt der gut komponierten Vokalmusik zuliebe!

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Texter des Liedes Coralie Cléments Bruder Benjamin Biolay und selbst recht bekannter Chansonnier ist. Das zweite Lied des Albums, L’Ombre et la Lumière (Licht und Schatten), ist genauso ein wohltuendes Hörerlebnis (wie Le jazz et le gin). Der nicht fehlerfrei wiedergegebene Text (dort steht „serais“ statt dem zitierten „serai“) findet sich zum Beispiel hier. Und auf Youtube gibt es eine Aufnahme des Liedes.

Ausgemalte Orte – Über ein intensives Konzerterlebnis

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Es gibt nicht viele Auftritte, bei denen der Ort des Geschehens und der Inhalt des (Gesang-)Vortrags so gut zusammenpassen wie jener von Line Bøgh (zusammen mit ihrem Partner Christian Gundtoft) im Garten des Kulturkinos Zwenkau.

Zwenkau liegt keine halbe Autostunde entfernt von der Leipziger Innenstadt. Mit dem Fahrrad lässt sich gut der Zwenkauer See erradeln. Die Fassade des Kulturkinos Zwenkau ist schon bei der Anfahrt ein echter Hingucker; von diesem Ort hatte ich noch nie etwas gehört, bis der mdr mich rechtzeitig auf diese sehr interessante Konzertveranstaltung aufmerksam machte.

Die beiden Künstler (zu zweit treten sie ganz einfach unter Linebug auf) sind vor einigen Jahren von Kopenhagen nach Zeitz ins südöstliche Sachsen-Anhalt gezogen. Natürlich fragen sich die meisten, warum sie diesen Schritt gegangen sind. Das Zwenkauer Konzert Mitte August beantwortete dies vor allem künstlerisch auf sehr überzeugende Art und Weise.

Die Songs sprühen vor Poesie, auch weil sie mit animierten Videos von Christian untermalt werden. Zu jedem Song zeichnete Christian zudem mit einem digitalen Stift auf die Leinwand die Namen der Orte, um die sich die Liedtexte drehen. Teils sind die Orte untergegangen, wie sie auch die Region rund um Zwenkau bezeugen kann, wo vor dem Braunkohletagebau bis in dei 1980er Jahre unter anderem die Ortschaft Eythra lag, teils laden sie zur Neuentdeckung ein, um verborgene oder vergessene Schönheiten wiederzufinden.

Beschreiben möchte ich näher Temporary Home ganz zu Beginn des Konzerts; dieser Song ist auch im Album  Portraits of Invisible Places erschienen. Er handelt ausführlicher über Zeitz, genauer gesagt über die Wahlheimat von Line und Christian.

Portraits of Invisible Places
Schallplatten-Cover des Albums Portraits of Invisible Places, gestaltet von Christian Gundtoft

Nach wenigen Sekunden spüre ich diesen Gänsehautmoment des Live-Erlebnisses; es ist wie eine Gefühlsdusche inmitten eines lauen Sommerabends. Warum bin ich so sehr von dieser Musik bewegt? Sicher ist es die Kombination aus Gesang und dem dazu erstellten Video, das im Grunde kein Musikvideo ist, sondern ein Zusammenschnitt aus Drohnen- und Archivaufnahmen und darin eingestreute Zeichnungen und Collagen, die bewusst das Farbenfrohe und Unbeschwerte einbringen, auch um das Schwarz-Weiß von Gestern bunter wirken zu lassen. Die Musik vermittelt die gebrochene, aber nicht zerbrochene Schönheit von Zeitz, die sich anders darstellt als eine Touristenhochburg. Vergangenheit und Gegenwart des Ortes werden bildlich und gesanglich aufgesucht und in einen versöhnlichen Kontext gestellt: Die Hinterlassenschaften einer de facto versunkenen Zeit werden wundersam vergegenwärtigt. „Invisible“ könnte man hier mit „verborgen“ etwas freier übersetzen.  Anstatt eine vorgetäuschte Nostalgie oder eher Wehmut nachzuahmen, geht es Linebug um die Sicht zweier Außenstehenden auf Zeitz. Herausgekommen ist eine „Hommage an alle Menschen, die im Laufe ihres Lebens in Zeitz gelebt haben“, wie es auf der Homepage heißt. Es ist sicher kein Mythos, dass zu DDR-Zeiten Zeitz (ähnlich wie vergleichbare Städte in Mitteldeutschland) belebter wirkte. Das lässt sich leicht erklären, lag doch die Stadt am Rande eines großen Braunkohlereviers und vieler Industrieanlagen, von denen nur noch wenige in Betrieb sind. Viele Arbeitskräfte wurden gebraucht, auch weil die Produktivität im Vergleich zu heute viel geringer war. Also ist die gefühlte Leere in Zeitz auch das Resultat tiefgreifender ökonomischer Veränderungen, die eben nicht nur Vorteile gebracht hat. Doch für Freiheitsliebhaber ist Zeitz womöglich die bessere Wahl als eine Großstadt mit vielen verzweifelten Wohnungssuchenden. Attraktivität lässt sich zum Glück nicht auf einen Nenner bringen. Auf jeden Fall ist Zeitz das Gegenmodell zu einer durchorganisierten Stadt. Für Traumwandler wie Linebug genau das Richtige!

Die Tourdaten von Linebug zeigen auch schön, dass sie auch in Westdeutschland und auch in den Niederlanden und Belgien gebucht werden. Es lohnt sich sehr, das gesamte Video zu Temporary Home anzuschauen. Digital und in der Vinyl-Version kann man auch das und ein weiteres Album (Fast changing landscapes) erwerben. Die Collagen und Zeichnungen von Christian lassen sich hier anschauen; natürlich sind auch Anfragen möglich. Eine Albumrezension in englischer Sprache findet sich hier.

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