Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Matsch-Pfütze

Kategorie: AufgeLesen. Seite 1 von 7

Kunterbunte Episoden aus Schriftstücken, die mich beschäftigen und mitunter auch faszinieren. Unerhörtes, Unglaubliches; einfach nur zum Staunen.

Familiengeschichte einmal anders: Über ein saugendes Mysterium

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Als ich vor einer guten Woche auf der Suche nach einem Sebo-Händler im Umkreis von Chemnitz war, um an passende Staubsaugerbeutel zu geraten, kam mir wieder die Familienbiografie von Meir Shalev (1948 – 2023) in den Sinn. Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger stellt ein quasi mystisches Objekt in den Vordergrund, das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gut wie alle Haushalte eroberte. Heutzutage spricht man weiterhin über dieses nützliche Gerät, gerade wenn es um den Saugroboter geht.

Die Kapitel 18-23 sind für mich die amüsantesten in diesem Buch, das den Leser an die Welt in einem Moshaw (oder Moshav) heranführt, einer „genossenschaftlich organisierte Siedlungsform“ in Israel, die anders als ein Kibbuz Privatbesitz zulässt.  Jenes real existierende Moshaw heißt Nahalal, gut 100 Kilometer nördlich von Tel Aviv, etwa auf der Höhe der zweitgrößten Stadt Haifa gelegen. Man kann sich leicht vorstellen, wie befremdlich ein aus den USA importierter Staubsauger namens Sweeper gewirkt haben muss. Das dazu passende Zitat steht am Anfang des 20. Kapitels:

Das gleißende Chromglitzern, die Rundungen des Gehäuses, die großen Räder, die auf Scheu vor Arbeit und Anstrengung schließen ließen – all das vertrug sich nicht mit den Prinzipien des Moschaws und seinen Werten, und die Genossen bissen die Zähne zusammen und unterdrückten eisern jedes aufkeimende Verlangen.

Protagonisten sind neben Großmutter Tonia die beiden Onkel des Erzählers, der Schenker Onkel Jeschajahu und der Beschenkte Onkel Jizchak, der den Staubsauger in den Dienst stellt, nicht ohne zu prüfen, ob das Gerät „mit dem Stromnetz der britischen Mandatsverwaltung kompatibel“ war.

Verdacht schöpft Tonia, als sie die vom Sweeper bewirkte „absolute und mühelose Sauberkeit“ zur Kenntnis nahm. Zwei entscheidende Fragen stellen sich dabei: „Wo steckte der Staub, den ihr Staubsauger aufgesaugt hatte? Wo war der weggeputzte Dreck?“ So wird daraus ein wahrhaftiges „Mysterium“! Das klingt vergleichsweise harmlos:  Ein Staubsauger könnte sich auch als „trojanisches Pferd“ oder auch als „Kollaborateur“ entpuppen, wie der Erzähler uns zu verstehen gibt.  Was für Verschwörungstheorien daraus entstehen können! Hier wird schön ersichtlich, was ein Romancier aus einer Familiengeschichte machen kann, nämlich sie mit Wortwitz anreichern. Shalev ist das zweifelsohne 2009 mit dieser Veröffentlichung gelungen.

Das Geheimnis lüftet Onkel Jizchak, als er den Staubsauger öffnete:

In seinem Innern sah man allerlei Düsen und Walzen und Treibriemen und Transmissionen, und Staub und Dreck, und in der Mitte – hässlich, abstoßend und ekelhaft wie ein geblähter Krötenkadaver – ein prallvoller Stoffbeutel.

Großmutter Tonia lässt es sich nicht nehmen, noch näher an die Materie heranzurücken: Sie sieht „grauen Staub“, „tote Insekten“, „Menschenhaare, winzige Essenskrümel“; all das reichte aus, um ein Argument zu finden, den Sweeper  in vier verschiedene Materialien (Stoffsack, Karton, Leintuch, Wolldecke) zu verpacken, damit nicht der geringste Dreck aus ihm je wieder entweichen möge. Und die Lagerung soll ausgerechnet in einem Badezimmer erfolgen, in das der Erzähler keinen Zutritt hatte! Angeblich verblieb das Gerät darin „vierzig Jahre“. Was für eine lange Zeit!

Auch die Verpackung wirkt besonders für die Großmutter Tonia obszön. Sichtbar ist

dem Anschein nach eine gewöhnlich amerikanische Hausfrau, in Wirklichkeit – der Teufel in Frauengestalt: die Lippen rot geschminkt, ein rotes Kleid mit weißen Tupfen am Leib, schmale Taille, üppiger Busen und kecker Po, dazu rotlackierte Nägel. (…) Schier alles an ihr zeugte von Verwöhntheit und Gefallsucht, Leichtsinn, Hedonismus und der Vergötterung des Privateigentums.

Das konnte unter den Dorfbewohnern nur Entrüstung hervorrufen! Die Vergötterung von Objekten ist ganz klar blasphemisch und kann nicht gut geheißen werden!

Allgemeine Fun Facts zum Staubsauger erfährt der Leser ebenfalls: Ein gewisser James Spangler erfand die erste elektrische Version (nach den vorsintflutlichen Modellen des 19.Jahrhunderts), die nicht viel mehr als  „einen Besenstil, einen elektrischen  Ventilator und einen Kissenbezug“ umfasste. Da erst ein kaufinteressiertes Ehepaar mit dem klingenden Nachnamen Hoover sich die Patentrechte sicherte, klingt bis zum heutigen Tage ein Innovator und kein Erfinder nach.

Heute würde ein solches Buch nicht mehr geschrieben werden. Die Vertriebswege haben sich eindeutig revolutioniert. Auch bei meinem trivialen Beutel-Kauf: Schließlich kam ich über eine Online-Bestellung sehr schnell an die gesuchten Objekte, auch wenn ich etwas bedauere, damit indirekt den guten alten Einzelhandel hintergangen zu haben. Doch lohnt es sich, mindestens 10 km Umweg für ihn in Kauf zu nehmen? Sei’s drum. Ich bin froh, dass ich dank Meirs Shalev jeden Saugvorgang mit dem Gedanken an eine besondere zivilisatorischen Errungenschaft auf mich nehme.  

Das 2011 in deutscher Übersetzung erschienene Buch kann beim Diogenes Verlag problemlos bestellt werden. Die längeren Zitate sind auf den Seiten 165, 179 und 202 zu finden.

Fantastisch lügen – Über einen wundersamen Reiseroman

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Im Februar 2025 wurde die Hartmann-Fabrik in Chemnitz eröffnet. Ein ehrwürdiger ehemaliger Bau, wo von den 1860er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg von der Firma Sächsische Maschinenfabrik AG Dampflokomotiven hergestellt wurden (die Firma gab es in Chemnitz schon seit 1848!). In diesem Jahr dient er als Besucher- und Informationszentrum für die Kulturhauptstadt 2025. Viel gibt es darin (noch) nicht zu sehen; mir gefällt jedoch die Ruhe und die Möglichkeit, dort einige Minuten innezuhalten. Als ich mir zum ersten Mal diesen Ort ansah, fielen mir einige Bücher auf, die am Empfang passend zur Kulturhauptstadt zusammengestellt worden waren. Ein Titel und ein hellblaues Cover fielen mir besonders in die Augen – sogleich bestellte ich es in der sehr gut sortierten Buchhandlung Lessing und Kompanie auf dem Chemnitzer Kaßberg.

Irmtraud Morgners Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers sind sicher eine Perle der phantastischen Literatur aus DDR-Zeiten. Es wird nicht leicht gewesen sein, diesen Roman im Jahr 1972 zu veröffentlichen, da er auch ein Stück chiffrierte Realsatire ist. 1933 ist Irmtraud Morgner in Chemnitz geboren; im Roman wird als realer Ort explizit der Chemnitzer Stadtteil Hilbersdorf mit seinem „Bahnbetriebswerk“ (im Buch ist ganz zu Anfang von „C.“ die Rede) genannt: Hilbersdorf ist übrigens zugleich Standort eines exzellenten Eisenbahnmuseums, das auch als Schauplatz Eisenbahn beworben wird.

Am 20.09. hatte ich die Gelegenheit, aus diesem Buch einige Seiten auf der 2. Büchernacht im Dachgeschoss des Renaissanceschlosses Ponitz bei Altenburg vorzulesen. So merkte ich einmal mehr, wie stark dieses Buch ist, das 2006 im Verbrecher Verlag Leipzig neu aufgelegt wurde. Dass sich im Schloss, das zur Finanzierung der Restaurierung ein großes Antiquariat vorhält, eine DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1982 befand, war natürlich eine herrliche Pointe. Es wurde mir als kleines Dankeschön in die Hände gelegt: Ganz gewiss wird es auch auf Reisen gehen, um weitere Lesefreude zu bereiten! Und dass an einem Tag, als nicht nur in Sachsen 200 Jahre Eisenbahn gefeiert wurde…

Veranstaltungsticket
Tagesticket für eine ganze Familie für die Feierlichkeiten zu “200 Jahre Eisenbahn in Europa”

Ganz besonders gelungen ist die Fiktion in der Fiktion: Bevor Gustav über seine Weltreisen erzählt, kommt eine Verfasserin namens Bela H. zu Wort; nach den erzählten Weltreisen ist ein Nachwort der Herausgeberin „Dr. phil. Beate Heidenreich“ abgedruckt. Als ob also Irmtraud Morgner keine Zeile in diesem Buch geschrieben hätte! So spielt das Buch auch als Produkt mit Vorspiegelungen falscher Tatsachen.

Aus der Deutschen Biografie wissen wir, dass Irmtraud Morgners Großvater wie ihr Vater tatsächlich Lokführer war.  So wird sie sich in Hilbersdorf sicher ausgekannt haben. Eisenbahnromantiker werden in dem Buch womöglich bitter enttäuscht: Die Lüge wird zum Leitmotiv des ganzen Romans. Der Leser muss um die Ecke denken, beispielsweise, wenn es im Vorwort heißt:

Großvater Gustav war von Kultur ein Lügner, nicht von Natur. In ihm arbeitete die Schöpferkraft der Machtlosen. Zu ungeduldig, um warten zu können, eignete er sich die Welt an, bevor sie ihm errungen war. Eine legendäre Gestalt.

In diesen Sätzen steckt schon eine Menge Wucht. Die Mikroebene – der Machtlose – prallt auf die Makroebene – die Welt. Es entsteht ein Universum, das es so nicht geben kann und ausschließlich in den Worten des Erzählers enthalten ist. Jener Ich-Erzähler, Gustav der Weltfahrer, hat einen Zuhörer im Text, und zwar Gustav der Schrofelfahrer, was auch ein kluges Konstrukt ist: Denn er kann einer Person berichten, die „bei der städtischen Müllabfuhr“ angestellt ist, und ihn aus dem Vertrauten in ganz unbekannte Gefilde entführen.

Eine ganz besondere Stellung nimmt in den Erzählungen die „Hulda“ ein, des Weltfahrers Name für sein Gefährt, mit dem er die Weltreisen antritt, als er das Rentenalter erreicht hatte (erinnert sei hier an die in der DDR gewährte Reisefreiheit für diese Bevölkerungsgruppe). Seine Sammlung im Keller hat er auf „Schrottplätzen des Bahnbetriebswerks, in Steinbrüchen, auf Müllhalden und auf der Straße“ zusammengetragen. Kurzzeitig verhaftet wurde er, als er „im Führerhaus einer auf dem Lokfriedhof abgestellten XH1-Schnellzuglokomotive entdeckt“ wurde. Nun wird die staatlichen Bürokratie aufs Korn genommen: Trotz vorgelegtem „Kaufvertragsentwurf mit einem nach dem Schrottwert berechnetem Preisangebot“ erhält er keine Erlaubnis, sich diese anzueignen, wohl aber für den Ankauf einer „YII T Naßdampftenderlokomotive, Baujahr 1886, aus den Schrottbeständen der Deutschen Reichsbahn für private Zwecke“ mit der Vorgabe, „die Schienenwege innerhalb der Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik nicht zu benutzen“. Man kann hier nicht verkennen, dass Gustav sich als waschechter Eisenbahner inszeniert, doch statt ihn realistisch abzubilden, sucht Irmtraud Morgner alias Bele H. die Flucht in eine imaginierte Welt, die Fetzen der Realität enthält. Dass auf der vierten Reise die Lokomotive über den Ozean und den Amazonas schippert und auf der siebten Reise sogar in den Weltraum geschossen wird, ist einfach vergnüglich zu lesen: Morgners Roman hebt einfach buchstäblich von der biederen Wirklichkeit ab!

Was mir an Gustav imponiert ist seine Neugier an der Welt. Jede Reise endet mit der Heimkehr, jede neue Reise mit einem Gefühl von Fernweh, abseits einer „Rentnerbrigade“ und eines „Veteranenclubs“. Geschildert wird jedoch keine Utopie, kein Traumland, sondern eine Welt voller Abgründe und Absurditäten, die voller Phantasie ist und trotzdem auf realen Welterfahrungen beruht. Das Rätselhafte bleibt im Vordergrund; der Leser wird sozusagen in fremde Welten „entführt“, was zu einem verstörenden Lesevergnügen führt, denn: Auch die Reiseliteratur steht für das Lügenhafte – irgendwie scheint sich auch der Erzähler Gustav über seine Erzählstränge lustig zu machen, genauso wie der übergeordnete Erzähler, der mit dem kurzen Satz „Also sprach Gustav der Weltfahrer“ jeweils am Ende der Reisen noch urkomisch die Erzählumgebung und -umstände der beiden Gustavs schildert, auch mal Gustav den Schrofelfahrer zu Wort kommen lässt und die eine oder andere Aussage der Dialogpartner kommentiert. So wird eine weitere Textebene eingezogen.

Das Buch würde sich für eine abendfüllende Lesung mit biografischen und literaturwissenschaftlichen Erkundungen lohnen – ganz sicher auch an so einem wunderschönen und zugleich wundersamen Ort wie dem Renaissanceschloss Ponitz!

Vielen Dank an den Förderverein Renaissanceschloss Ponitz für die schöne Gelegenheit, diesen phantastischen und zugleich in vielen Belangen verrückten Roman zu später Stunde vorzustellen. Das Buch kann beim Verbrecher Verlag bestellt werden. Die längeren Zitate finden sich in dieser Ausgabe auf den Seiten 8 und 15-18.

Rundumschlag: Über den Roman „Ohrfeige“ von Abbas Khider

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Es hat sich gelohnt, gleich drei Romane von Abbas Khider gelesen zu haben. Genauer habe ich mir neben Brief in die Auberginenrepublik, wovon ich im Juli berichtete, Ohrfeige angeschaut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Roman zum weitumspannenden Thema Integration viele in der Öffentlichkeit weniger beleuchtete Aspekte ans Tageslicht fördert.

Akustisch hallt der Text nach, gerade dann, wenn man beruflich mit Minderheiten in der Gesellschaft zu tun hat. Khider, von dem ich bereits in einem anderen Artikel berichtete, schildert darin missglückte Integrationsgeschichten, die in einem Zeitraum angesiedelt sind, in dem noch keiner von „Willkommenskultur“ sprach bzw. schwafelte. Kein Wunder, dass der Autor dieses Wort auch nicht verwendet, obwohl er es gekannt haben muss, als er 2016 diesen Roman veröffentlichte.

Nachdem Schlepper und Schmuggler den Erzähler Karim Mensy aus dem Irak Anfang um das Jahr 2000 herum nach Europa führten, kommt er nicht wie geplant in Paris, sondern in Dachau an, wo er von der Polizei über seine Herkunft befragt und kurzfristig in einer „Gefängniszelle“ untergebracht wird. Weitere Stationen in Deutschland sind als Zwischenstation eine Matratzenunterkunft in Zirndorf bei Nürnberg, ein Asylantenheim mit Vier-Mann-Belegung in Bayreuth (auf dem Gelände des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, wo auch Anhörungen zur möglichen Anerkennung des Asylstatus stattfinden). Da es so gut wie keinen Kontakt zu Bürgern gibt, ist es auch unmöglich, „in einer Stadt mitten in Oberfranken Deutsch zu lernen, indem man irgendwelchen Passanten zuhört und hier und da ein paar Vokabeln aufschnappt“. Wer nur „mit den Polizeibeamten oder mit dem Wachpersonal im Heim“ spricht, wird dies eigentlich nicht erreichen können. Die einzige Deutsche, die vor Ort positiv gezeichnet wird, ist eine ehrenamtliche Caritas-Mitarbeiterin mit dem Allerweltsnamen Karin Schmitt.

Karims Sozialkontakte häufen sich während des Aufenthaltes im Asylantenheim in Niederhofen an der Donau, wohin er mit vielen Mitbewohnern ohne Angaben von Gründen transferiert wird. Dort trifft er auch auf Frau Schulz, die ihm den Job auf einem Recyclinghof vermittelt. Anschließend bekommt Karim das Recht, im etwas außerhalb gelegenen Obdachlosenheim zu wohnen, wo er auch Leistungen vom Sozialamt erhält. Gelegenheitsjobs in einer Eisenfirma, einer Shampoo- und in einer Reinigungsfirma, von einer Zeitarbeitsfirma organisiert, folgen.

Die letzte Station in Deutschland, wo er sich „drei Jahre und vier Monate aufhält“, ist ein Obdachlosenheim in München, von wo er seinen ehemaligen Mitbewohner und Landsmann Salim in der Psychiatrie besucht. Karim lebt weiter in einer Schwarzmarkt-Welt zusammen mit seinem Arbeitsvermittler Abu Layla, der „akzentfrei Türkisch, Griechisch und Deutsch spricht“, sowie von seinem Chef Kostas aus Griechenland auf mehreren Baustellen, wo er sich dem Zugriff des Arbeitsamts entziehen kann. Mit einem Schlepper plant er schließlich nach Finnland weiterzuziehen, was der Leser am Anfang und am Ende des Romans erfährt.   

Drei Kostproben aus Ohrfeige zeigen, wie Frustrationserlebnisse in Worte gefasst werden können. Man kann sich überlegen, inwiefern sie auch in der Mehrheitsgesellschaft vorkommen können. Fehlende Anerkennung ist das Stichwort. Der unerklärte Status über Jahre hinweg macht auch deswegen betroffen, weil in vielen Fällen zumindest die Würde des Menschen angekratzt wird. Dies betrifft auch Rivalitäten und Auseinandersetzungen zwischen den Flüchtlingen, deren Ursachen in einer ungeklärten Rolle im Dasein liegen: es ist offenkundig so, dass ein Gastland wie Deutschland nur einige der vielen „verlorenen Seelen“ retten kann. Ohrfeige ist ein Buch, in dem diese Rettung gründlich misslingt.   

1. Tonfall

Viele Abschnitte des Romans sind in der Sie-Form (mit großem S) geschrieben, was ungewöhnlich ist. Angeredet wird über weite Strecken vom Ich-Erzähler Karim Mensy die Integrationsbeauftragte in der Ausländerbehörde (Frau Schulz), der er seine Lebensgeschichte vor der Flucht erzählt, in der ihn vor allem eine in Deutschland diagnostizierte „Gynäkomastie“ (Vergrößerung der Brustdrüsen) plagt:  

Sie, Frau Schulz, gehören zu jenen, die hier darüber entscheiden, auf welche Weite ich existieren darf oder soll. Stellen Sie sich einmal vor, in meiner Position zu sein. Würden Sie nicht gern wissen, wie diese gottesgleiche Figur mit Vornamen heißt? Jene Person, die Ihr Leben nach eigenem Gutdünken paradiesisch oder höllisch gestalten kann? […] Immer wieder fuchtelten Sie mit Ihrem spitzen Füller in der Luft herum, als würden Sie Fliegen erstechen. Und mit dem Gewicht Ihres übertrieben großen Stempels erdrückten Sie Hoffnungen. Wie der Hammer eines Richters krachte er auf Ihren Tisch. […] Ich war Ihnen ausgeliefert. Aber wie ein mythischer Held habe ich mich erhoben und den Olymp erstürmt. Und ich werde Sie bald zurücklassen in Ihrem kleinen Beamtenstübchen.

Diese Perspektive wirkt bedrückend, weil über eine gescheiterte Integration berichtet wird, was in den realen Dialogen zwischen Karim und Frau Schulz zuvor so nicht möglich gewesen wäre. Dies ist eine Stärke der Literatur, dass sie diese Innenschau über einen fingierten Monolog offenbart. Und nun frage ich mich als Leser, ob man die wirkliche Welt von Flüchtlingen, die ähnliche Integrationsversuche unternehmen, überhaupt begreifen kann. Man liest öfter von Duldungen und Abschiebungen, ohne genauer von jenen Einzelschicksalen zu erfahren. Viele reale Geschichten laufen im Verborgenen ab.

2. Spracherwerb

Auch das Deutschlernen ist eine harte Herausforderung, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen muss Karim hohe Hürden bei Zugangsvoraussetzungen von Bildungsangeboten in Kauf nehmen:

Ich sollte zwei Semester lang ein Studienkolleg besuchen, um das deutsche Abitur nachzuholen, bevor ich studieren durfte. Um die Zulassung zum Kolleg zu erhalten, musste man wiederum eine Prüfung ablegen. Um diese Prüfung schreiben zu können, brauchte ich allerdings ein Sprachzeugnis, nämlich die zentrale Mittelstufenprüfung des Goethe-Instituts. Also Kurse auf dem Sprachniveau A1-B2, mit Extravorbereitungskursen für die Prüfung im Goethe-Institut selbst oder in einer anderen Sprachschule. Die Vorbereitung auf die Zulassungsprüfung für das Studienkolleg würde so mindestens zwölf Monate dauern und ein Vermögen kosten.

Zum anderen wird mangels geeigneter Gesprächspartner die „BILD“-Zeitung als „perfekt zum Deutschlernen“ bezeichnet (bevor die für ihn unverständlichere Süddeutsche Zeitung zum Einsatz kommt). Neben der Sprachbarriere gibt es also Sprachlernbarrieren, die man nur schwer überwinden kann, wenn andere Ressourcen fehlen. Auch aus diesem Grund kann Integration gründlich misslingen.

3. Prekariat

Zuletzt kommt ein Beispiel aus dem Erwerbsleben. Folgende Passage las ich an einem Junitag, als ich zufällig wenige Stunden zuvor am Rande der Stadt einen Wertstoffhof aufsuchte, der als einer der isoliertesten Arbeitsorte gelten kann:

Der Wertstoffhof lag am Stadtrand. Es war ein großer Platz, umzäunt von Blechwänden. Darauf standen viele unterschiedliche Müllcontainer. In der Mitte des Grundstückes gab es einen Wohncontainer, in dem die Mitarbeiter ihre Pausen verbringen konnten. Eine kleine Küche und ein Klo gab es auch. Es war schwierig, mit den vier netten Angestellten auf Bayerisch zu kommunizieren, aber sie waren schon daran gewöhnt, mit Typen wie mir zusammenzuarbeiten. […] Ich sortierte Abfälle, Papier und anderes Zeug in den Container ein. Im Allgemeinen brauchte es für die Arbeit nicht viel Wissen. Ich musste nur ein paar Wörter und Sätze lernen, die ich dann ständig wieder verwendete: Wo soll das hin? Plastik oder Restmüll? Danke. Bitte. Hallo. Auf Wiedersehen. Aus diesen Bausteinen baute ich meine Sätze, ich recycelte und sortierte die Vokabeln genauso wie den Müll.

Gerade nach dem zweiten Lesen dieser Textstelle fühle ich mich betroffen. Denn ich wüsste genau, dass ich schon nach wenigen Tagen bei diesen Hürden in einem fremden Land  wahrscheinlich innerlich verzweifeln würde. Nun kann ich Geschichten vom Scheitern besser verstehen; und auch so eigene Misserfolge einfacher eingestehen.

Die längeren Zitate stehen auf Seite 11, Seite S. 152f und Seite 160. Auf der Homepage des Hanser-Verlags lässt sich das Buch bestellen.

Eine Briefreise als Roman: Abbas Khiders “Brief in die Auberginenrepublik” (2013)

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Im meinem ersten Semester an der Universität Bayreuth belegte ich ein Proseminar zu Briefromanen in der französischen Literatur.  Ich kann mich noch recht gut daran erinnern. Sich vor allem mit den Gefährlichen Liebschaften (Liaisons Dangereuses) von Choderlos de Laclos zu befassen, bedingte ganz sicher Durchhaltevermögen: Man steckt sehr viel Zeit in die Lektüre, wenn man das Werk in seiner Gänze begreifen will. Jedoch kommt vergleichsweise wenig dabei heraus, wenn man sich nur exemplarisch einige Briefe anschaut. Die Verfilmung des Romans, zum Beispiel die legendäre mit Glenn Close und John Malkovitch aus dem Jahre 1988, lohnt sich allemal.

Kürzlich las ich den Roman Brief in die Auberginenrepublik des deutsch-irakischen Schriftstellers Abbas Khider, der 2013 erschien.  25 Jahre später mutet der Stoff schon historisch an, wenn man bedenkt, wie wenig längere persönliche Briefe noch geschrieben werden. Heute bin ich froh, mich näher mit einem solchen Text  zu Beginn des E-Mail-Zeitalters vertraut zu machen, in dem es vor allem um das Scheitern von Kommunikation in medialer Hinsicht geht. Weder aufgrund des  mangelhaften Beförderungssystems noch der Zensur (inklusive Internet-Verbot um die Jahrtausendwende, wie wir im letzten Kapitel erfahren) kommt der in Bengasi (Libyen) abgeschickte Brief von Salim Al-Kateb an dessen Geliebte Samia Michael in Bagdad nicht an. Der einfache Grund: Samia ist unbekannt verzogen.

Im Roman ist der Brief ein eindrucksvolles Beispiel für einen Aktanten, also für ein handelndes Ganzes, im Sinne des Philosophen Bruno Latour, der die sogenannte Akteur-Netzwerktheorie entworfen hat. Er steht im Mittelpunkt eines Netzwerks von Akteuren, die in den einzelnen Kapiteln aus ihren jeweiligen Perspektiven jeweils Beziehungen zu Menschen und damit ihre Funktion im Zusammenhang mit dem Medium Brief auf seinem Transportweg erläutern. Der Brief als Objekt setzt also die Handlung in Gang und beeinflusst sie mit seinem Inhalt.  Es handelt sich also nicht um einen Briefroman im engeren Sinne.

Im Prolog heißt es vom übergeordneten Erzähler:

Auf der dunklen Seite der Erde beginnt die Geschichte eines Briefes, die ich Euch erzählen will. Sie spielt in Afrika und in Asien. Genauer: in Arabien. Ganz genau gesagt, beginnt sie in Libyen und endet im Irak. Und um mikroskopisch exakt zu sein, spielt sie in diesen armen Ländern in den allerdunkelsten Gegenden: den Stadtvierteln Gaddafi City in Bengasi und Saddam City in Bagdad.

Diese Art von Hineinzoomen ist die Stärke des Textes. Jedes der sieben Kapitel enthüllt fragmentarische Lebensgeschichten, die von der Brief-Geschichte zusammengehalten werden.

Das fünfte Kapitel, auf das ich etwas ausführlicher eingehen will, ist auf den 7.10.99 datiert. Kamal Karim, seines Zeichens Polizist, hat die Macht, Salims Brief in Bagdad im „Arbeitsbereich Briefkontrolle“ zu öffnen:

Im dem Import-Export-Büro, vor dessen Tür mein Auto jetzt parkt, werden die illegalen Briefe abgeliefert. Meine Aufgabe besteht darin, die Briefe zu lesen, die wichtigsten Informationen herauszufiltern und diese in einem kurzen Protokoll an meinen Chef weiterzuleiten. Diesen Job betrachte ich als eine Art polizeiliche Auszeichnung.

Als „Märtyrersohn“ – sein Vater wurde in einem Panzer während des Irankrieges getötet – kann er die 36 Monate Militärdienst umgehen; sein Privileg reicht aus, um als „Busfahrerhelfer“ an der Polizeiakademie aufgenommen zu werden, ohne dass seine schlechten schulischen Leistungen berücksichtigt werden.

Der perfide Job als „Brief-Kontrolleur“ in der Sicherheitsbehörde bringt mit der Methode, Briefeschreiber zu bedrohen, viel Geld ein. Werden je nach Briefinhalt nicht Tausend Dollar pro Brief gezahlt, leitet er die Briefe an seinen Vorgesetzten weiter. Hier wird der Begriff Mehr-Wert, der eigentlich für das Geldverdienen stehen soll, verächtlich gemacht.

Der Brief von Salim, der als muslimischer Literaturstudent dank seines finanzstarken Onkels nach sieben Tagen hartem Arrest (Straftat: „Lesen verbotener Bücher“) nach Libyen geflohen ist, wird auch sein Chef Oberst Ahmed Kader zu lesen bekommen. Es handelt sich bei Samia nämlich um eine kurdische Christin; ihr Nachname „Michael“ allein ist schon verdächtig. Karim und Ahmed lesen folgende Worte:  

Es tut mir leid, dass Du seit zwei Jahren keine Nachricht von mir bekommen hast. Ich habe die ganze Zeit nach einer Möglichkeit gesucht, Dich zu erreichen, habe aber nichts finden können. Wöchentlich habe ich einen Brief an Dich verfasst, eigentlich schon ein ganzes Buch mit Briefen an Dich geschrieben. Erst vor kurzem erfuhr ich von diesem Postweg und hoffe nun, dass Du diesen Brief tatsächlich erhältst.

Für dieses Dokument musste Salim 200 Dollar berappen, wie der Leser am Ende des ersten Kapitels erfährt, in dem der Absender erzählt. Apropos Postweg: Bis Karim den Brief in seinen Händen hält, nimmt ihn der Taxifahrer Haytham Mursi von Bengali nach Kairo mit (2. Kapitel), bevor der Reisebüroleiter Majed Munir ihn im Bus nach Amman befördern lässt (3. Kapitel) und der Lastwagenfahrer Abu Samira (4.Kapitel) das Dokument schließlich von der jordanischen Hauptstadt nach Bagdad bringt. Am Ende des Briefs und auch des Romans stehen folgende Zeilen:

Die Glaubwürdigkeit unserer Geschichte besteht vermutlich darin, dass sie weder glaubwürdig noch unglaubwürdig ist. Sie ist eben nur eine mesopotamische Geschichte.

Lange habe ich über diese zwei Sätze nachgedacht. Der Schlüssel dazu könnte heißen: Es ist wichtig, dass man sich einen Reim auf die erzählte Briefreise und damit auch den Briefinhalt selbst machen kann. Es geht weniger um den Aspekt der Nachvollziehbarkeit im Sinne eines realistischen Erzählens, sondern um den der Legende, die viel Wahres über die Zeitgeschichte verrät. Die story eines getrennten Liebespaars, die im Brief erzählt wird, behandelt Wirklichkeit anders als history, jedoch auch wiederum glaubwürdig.

Der Brief wird schließlich von Miriam Al-Sadwun, der Ehefrau von Ahmed Kader verbrannt, nachdem sie die vermeintlich aktuelle Adresse der Empfängerin (Block 58, „die Straße gegenüber der Al-Thoura-Highschool“) ausfindig gemacht hat und ihr persönlich den Brief überreichen wollte. Doch laut dem Hausmeister der Schule lebt Samia dort nicht mehr. Aus Samias Perspektive erfahren wir also nichts. Just diese letzten zwei Sätze des Briefs verschont das Feuer, sodass Miriam als Leserin als Essenz sie nochmals vor Augen hat. Sie erhalten also eine größere Bedeutung.

Wie war Miriam an den Brief gekommen? Zufällig hatte ihr Mann, der im irakischen Innenministerium einen direkten Draht zum damaligen Präsidenten Saddam Hussein hat, vergessen, sein Bürozimmer abzuschließen. Sie hatte auch schon geahnt, dass ihr Mann die Unwahrheit zu diesem Brief sagte, als er dieses Dokument mit einem „Kunstprojekt für die Christen im Land“ verknüpfte. So leistet sie nach der Brieflektüre durch ihre Tat gleichzeitig Widerstand gegenüber dem Überwachungsstaat, selbst wenn Samia ebenfalls ins Ausland geflüchtet sein sollte.

Der Brief in die Auberginenbeispiel ist ein Musterbeispiel für die Möglichkeit, produktive und destruktive Triebkräfte in einem besonderen (Streu-)Licht zu erfassen. Und zu begreifen, dass Netzwerken zugunsten auch zu bösartigen Verstrickungen führen kann.

In der Edition Nautilus kann der Roman bestellt werden. In der Süddeutschen Zeitung vom August 2013 findet sich eine ausführliche Buchbesprechung. Die längeren Zitate finden sich auf den Seiten 8, 84, 103 und 104. Informationen zum Schreiben von Abbas Khider, der 2025 den Berliner Literaturpreis erhielt, finden sich hier.

Ein doppelter Glücksmoment – Über die Pause als Prüfungsthema

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An einem Wochenende im Frühjahr hörte ich das kurzweilige Deutschlandfunk-Feature von Andrea Gerk über Pausen. Der Titel „Über das große Glück der kleinen Unterbrechung“ ist ebenfalls thematisch hervorragend für anspruchsvolle Prüfungen, wie ich vorletzte Woche erleben durfte.  Ich inszenierte diese in Form einer 45-minütigen Gesprächsrunde, die nahezu optimal verlief. Ich musste nur zwei, dreimal Fragen einwerfen; ansonsten waren die Gesprächsbeiträge so gut aufeinander bezogen, dass das Zuhören trotz mancher sprachlicher Mängel ein Genuss war. Vermutlich lag es am Thema, das sowohl leicht verständlich als auch differenziert genug war. 

Den idealen Schlusspunkt setzte ein kamerunischer Gastdozent, nachdem wir über die unterschiedlichen Vorstellungen zu „Auszeit“ gesprochen hatten. Wörtlich sagte er: „Ich würde mich freuen, wenn die Auszeit in die Mentalität der Kameruner eingeführt würde.“ Zuvor war die Rede davon gewesen, dass nicht nur in Afrika, sondern auch in Mitteleuropa, zum Beispiel in Tschechien,  es unvorstellbar sei, das hiesige Konzept der Auszeit für sich in Anspruch zu nehmen, wenn es nicht in der sportlichen Verwendung (im Sinne von time-out) verwendet wird.  Wer von Auszeit spricht, muss im Grund ein distanziertes Verhältnis zum Faktor Zeit haben, vor allem zur Arbeitszeit. Denn Auszeit und Arbeitszeit stehen in einem gewissen Gegensatz zueinander. Der KI-Chat der Lernplattform fobizz antwortet mir Folgendes:

Dies (sic!) beschreibt eine Zeitspanne, in der jemand bewusst von der Arbeit oder alltäglichen Verpflichtungen pausiert, um sich zu erholen, zu entspannen oder persönlichen Interessen nachzugehen. Eine Auszeit kann kurz sein, wie eine Pause während des Arbeitstags, oder länger, wie ein Sabbatical.

Nun, so ganz glücklich bin ich mit dieser Antwort nicht, da hier wiederum die Unschärfe des Begriffs so aufscheint, das man kaum noch damit sinnvoll argumentieren kann. Während eine Arbeitspause in ihrem zeitlichen Umfang im Arbeitszeitgesetz vorgeschrieben ist, ist der englische Ausdruck „sabbatical“ wiederum eng mit einem „Sabbatjahr“ verbunden. Das Dazwischen in Form von Wochen und Monaten kommt hier zu kurz! Und genau deshalb braucht es unterschiedliche Perspektiven.

Enden möchte ich mit dem schönen Gedicht Der kleine Unterschied von Mascha Kaléko (ca. 1940 geschrieben):

Der kleine Unterschied

Es sprach zum Mister Goodwill
ein deutscher Emigrant:
„Gewiß, es bleibt dasselbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiss, ich bin sehr happy:
Doch glücklich bin ich nicht.“

(Aus: In meinem Herzen läutet es Sturm)

Ganz eindeutig wäre das Gedicht ohne die Exilerfahrung in den Vereinigten Staaten undenkbar. Doch ich frage mich, ob man auch bei einem längeren freiwilligen Auslandsaufenthalt zu einem ähnlichen Ergebnis kommen würde: Selbst wenn es Äquivalenz zwischen zwei Begriffen aus unterschiedlichen Sprachen gäbe (z.B. zwischen „happy“ und „glücklich“), würde man doch betonen können, dass das Glücklich-Sein sich nur dort einstellt, wo man „Heimat“ lokalisieren würde. Kaléko hat sicher nicht zufällig vier deutsche und vier englische Wörter in diesem Gedicht gegenübergestellt. In einer englischen Übertragung wurde „homeland“ durch „home“ ausgetauscht, was nicht verwundert, da auch „Heimat“ eines der emotional aufgeladendsten Wörter der deutschen Sprache ist: Das Ursprüngliche ist dort genauso enthalten wie das biografisch Bekannte in Verbindung mit dem Wohlfühlaspekt (Stichwort: Wahlheimat). Ohne Heimatgefühl, kein Glücksgefühl, sozusagen. So ist es leicher verständlich, warum man in Land A „happy“ und in Land „B“ glücklich sein kann.

Beim Begriff Auszeit kapitulieren Übersetzungstools wie deep-l; sie schlagen in vielen Sprachen nur time-out vor, das ja das Anhalten der Spielzeit vorsieht. Auszeit steht eben mit „Glücklich-Sein“ in keinem direkten Zusammenhang; außerdem steht dazu die Frage im Raum, warum das Lebensglück nicht mit der gewöhnlichen Zeit in Bezug gesetzt werden kann… Bevor es allzu philosophisch wird, breche ich hier lieber ab.

Nun, in der anstehenden Urlaubszeit lässt sich mit dem Begriff „Auszeit“ jonglieren, damit wir „in time“ wieder mit Freude und Elan der mehr oder weniger geliebten Arbeit frönen!

Kalékos Gedichtsammlung lässt sich einfach bei dtv bestellen.

Politik aus Beratersicht – Über die französische Komödie “Alice oder Die Bescheidenheit”

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Endlich habe ich einen Film entdeckt, der eindrucksvoll Lyon bebildert: Alice et le maire (dt. Titel: Alice oder Die Bescheidenheit) ist eine Polit(tragi)komödie par excellence und zugleich auch eine Möglichkeit, mich in einen Stoff an einem Ort hineinzuversetzen, an dem ich gerne Anfang 2002 knapp drei Monate gelebt habe.

Die Alice Heimann  verkörpernde Anaïs Demoustier hat zurecht den César Anfang 2020 gewonnen. Zusammen mit dem ebenso überzeugenden Fabrice Luchini harmoniert sie bestens. Das ist auch entscheidend, denn im Film soll sie, anders als bei ihrer Einstellung in die Stadtverwaltung vorgesehen, dem schwächelnden Bürgermeister Lyons zu neuem Schwung verhelfen. Sie führt das amtsmüde Stadtoberhaupt hinein in die herausfordernde Bewerbung zum sozialistischen Kandidaten für die französische Staatspräsidentschaft. Schließlich bietet der Film kein „happy end“, sondern ein realistisches Szenario eines letztlich scheiternden Politikers, dessen Karriere aber auch stillschweigend Erfolgssträhnen aufwies.

Wer sich für Politik interessiert, wird hier auf seine Kosten kommen. Zwei große Aspekte möchte ich herausgreifen:

  • Aspekt 1: Ideen-Arbeit

Paul Théraneau, Bürgermeister von Lyon, gibt gegenüber Alice in seinem Büro offen zu, dass er keine Ideen mehr habe. So heißt für Alice die Devise: „travailler aux idées“. Seine Gesprächspartnerin möchte zurecht wissen, was er unter „Ideen“ verstehe, und beruft sich dabei auf die verschiedenen Definitionen, die Philosophen dazu geliefert hätten. Paul weist darauf hin, dass ihm bereits ein Coach sowie eine psychotherapeutische Beratung angeboten wurden, er aber die Philosophie bevorzuge. Er vergleicht sich recht ausschweifend mit einem Rennwagen ohne Sprit, der nur aufgrund dessen Trägheit noch in Bewegung sei.

Doch so einfach ist das Zusammenspiel nicht: Pauls Büroleiterin Isabelle Leinsdorf (sehr überzeugend kühl gespielt von Léonie Simaga), signalisiert Alice, dass ihre Anmerkungen dem Stadtoberhaupt den Geist verdüsterten („obscurcir l’esprit“), was auf den Konflikt zwischen Intellektuellen und den sogenannten Machern hinweist. Doch ein Abendessen mit Pauls Ex-Frau löst diese Bedenken auf. Paul begreift, dass er mit der Intellektuellen Alice mehr Gemeinsamkeiten aufweist als gedacht.

Man merkt recht schnell, dass der Film die Kategorien „links“ und „rechts“ gegenüberstellen will, die gerade in Frankreich eine zentrale politische Funktion haben. Selbst die Kameraführung hat darauf geachtet; wie kommunizierende Röhren stehen sich die Kategorien gegenüber:

Links - rechts (gauche - droite)
Wie kommunizierende Röhren: Links (Gauche) und Rechts (Droite) als politische Kategorien – Screenshot aus Alice oder Die Bescheidenheit; Regie: Nicolas Pariser, 1h07min16sek.

Viel Zeit nimmt sich der Film für die wohl schwierigste Mission von Alice, nämlich für Paul die „Rede seines Lebens“ zu schreiben, als er sich um das wichtigste französische Amt bemüht. Das Feilen am Redemanuskript mündet am Ende auch in die Einblendung dieses Dokuments, in dem ganz am Ende auch der Ruf nach Bescheidenheit („modestie“) und nach Bildung sowie nach einer einfacher und gerechter organisierten Gesellschaft und Wirtschaft geäußert wird (wie auch immer das genau aussehen mag). Die Sprache und die politischen Ambitionen legen den Akzent jedoch eher auf das Großspurige, Radikale so dass „die Bescheidenheit“, wie im deutschsprachigen Filmtitel thematisiert, den Hunger nach Macht unterstreicht. Wie das Bedürfnis nach Redekunst im Schlussteil des Films inszeniert wird, ist eindrucksvoll. Sogar die über tausende Kilometer auseinander liegende Produktion von Joghurtbechern und Joghurt in der Vergangenheit wird explizit thematisiert (hier fehlt allerdings der Faktencheck!!):

Redemanuskript
Pauls Redemanuskript; Screenshot aus Alice oder Die Bescheidenheit; Regie: Nicolas Pariser, 1h33min33sek.

Es würde den Rahmen sprengen, hier die vielen indirekten Textzitate aus mehreren philosophischen Werken genauer anzuschauen.

  • Aspekt 2: Stadt-Ideen

Die ersten drei Minuten des Films reichen im Grunde aus, um die Stadt topografisch zu erfassen. Die Treppen, die Alice vom Viertel Croix-Rousse hin zum Rathaus hinabsteigt, bleiben im Gedächtnis. Damals fehlte mir das Interesse, sie zu abzulichten; heute weiß ich, dass eine Stadt mit vielen Treppen reizvoll aufgrund der Perspektivik ist. Im Film kann der Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes in die Handlung eintauchen, die an Alices neuem Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe zur Personalabteilung der Stadtverwaltung einsetzt:

Die Treppen in Lyon
Charakteristische Treppen in Lyon – Screenshot aus Alice oder Die Bescheidenheit; Regie: Nicolas Pariser; 1min35sek

Alice wird bei den Beratungen eines „comités de réflexion“ zu einer Vision für Lyon 2500 eingespannt, um die 2500 Jahre alte Geschichte der Stadt zu ihren Gunsten als Trumph zu vermarkten und  zu zeigen, dass die Stadt anders als die Bevölkerung „links“, also progressiv ist. Substanziell kommt dabei wenig heraus, meist sind es großspurige Wünsche, gerade von einem fragwürdigen und blassen Berater namens Patrick Brac. Der Widerspruch bleibt unauflöslich: Die Stadtgeschichte soll für die Zukunft(sforschung) herhalten (im Film ist häufiger von „prospective“ die Rede). Alice merkt schnell, dass ihr wichtigster Kritikpunkt vom Stadtoberhaupt ernst genommen wird: Es fehlt gerade bei diesem Projekt an Bescheidenheit, die durch die Betonung der begrenzten Ressourcen in der Welt wieder erlangt werden könnte. Der linke Bürgermeister, der traditionell an den sozialen und kulturellen Fortschritt der Gesellschaft glaubt, kann sich jedoch nicht damit abfinden, Ressourcenknappheit zu verwalten.

Die unergiebigen Absprachen und Dialoge zeigen sich vor und nach einem Opernabend: Die ganze Entourage von Alice schaut sich mit ihr in der berühmten Oper (gebaut von Jean Nouvel) Richard Wagners Das Rheingold an; sichtbar werden die Aufführungsplakate mit dem Titel Un ring für die vier Ring-Opern Wagners gezeigt. Dabei rückt der Opernstoff komplett in den Hintergrund; Alice hat eigentlich ein Date mit einem Intellektuellen, der an einer Podiumsdiskussion zu Lyon 2500 teilgenommen hat, doch kann sie sich nicht von ihrer beruflichen Umgebung befreien.

So ist kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie ein Film entstanden, der ohne die Bezugnahme auf Social Media das Wesen und das Unwesen von politischem Gestaltungswillen inszeniert. Teils komisch und im wahrsten Sinne des Worte leichtfüßig (Paul Théraneau gibt sich auch als Fan von Birkenstock-Sandalen zu erkennen!), teils nachdenklich und leise, so dass die Titelmusik, das Siciliano für Klavier (BWV 1031), einen glänzend ruhigen Ton vorgibt. Das Unspektakuläre schafft in diesem Film den ausreichenden Tiefgang.    

Der Film ist leider in der deutschen Version im Internet nicht zu finden. Auch die französische DVD (Produzent ist das Unternehmen bizibi), bestellbar bei der Fnac, hat keine mehrsprachige Version  zu bieten. Über Privatanbieter lässt sie sich am einfachsten beziehen. Zur Info noch eine weitere Rezension zum Film. Deutlich positiver berichtete das Schweizer Fernsehen zum Film.

Schule des Zynismus – Gedanken zum Film “Eingeschlossene Gesellschaft” von Sönke Wortmann (2022)

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Was für Schüler eine Tabu-Zone ist, ist sicher ein Ort für schicksalsträchtige Gespräche: das Lehrerzimmer. Dass ich schon 2004 als Fremdsprachenassistent in gleich drei französischen Lehrerzimmern Zugang fand, hätte ich sicher noch fünf Jahre zuvor kaum für möglich gehalten.

Eindrucksvoll dokumentiert diese Atmosphäre der Film „Eingeschlossene Gesellschaft“ (2022) von Sönke Wortmann , unter anderem mit Anke Engelke. Er ist sicher nicht das einzige Beispiel für einen Stoff, der fast ausschließlich an diesem Ort gedreht wurde. Auf der Grundlage von Jan Weilers Hörspiel und Drehbuch baut er vorwiegend auf einem nicht ungewöhnlichen, jedoch für den Plot originell verdrehten Diskursthema auf: Kann man einen schwachen Schüler zur Abiturprüfung zulassen, auch wenn ihm nur ein nötiger Punkt in einer Hausarbeit fehlt, die der stellvertretende Schulleiter und Latein und Religionslehrer Klaus Engelhardt (gespielt von Justus von Dohnányi) bewertet hat? Das spannungsgeladene Element ist der Vater des Schülers Prohaska: Er hält die Lehrer im Lehrerzimmer mit dem Druckmittel einer Waffe fest, damit sie sich noch einmal besprechen und diese Frage eingehender beleuchten. Sobald sie dies getan haben, würde er sie wieder entlassen. Der Twist besteht darin, dass ein Erziehungsberechtigter den Diskurs erzwingt. Was am Ende herauskommt, soll natürlich nicht verraten werden.

Man kann sich dort jedoch auch in einer Schule des Zynismus üben, gerade wenn über Schüler herzogen wird und man würdelos Menschen mit Entwicklungspotenzial, so gering es auch sein mag, kleinredet. Frau Lohmann, gespielt von Anke Engelke, ist Lehrerin für Französisch und Musik und steht für diesen Stil Pate:

Wenn ich etwas nicht ertrage, sind das Schüler um halb drei. (…) Seit Jahr und Tag steht da draußen ein Schild, das Schülerinnen und Schüler nicht in diesem Lehrerzimmer erwünscht sind. Und trotzdem sehen wir immer wieder welche. (…) Das Lehrerzimmer ist dem Lehrkörper als Rückzugs- und Vorbereitungsort vorbehalten. Ich setz‘ mich ja auch nicht bei denen auf das schmutzige Sofa in ihrem widerlichen Oberstufenraum.

Das Wort ‚zynisch’ wird sogar von Fabian Prohaskas Vater artikuliert, nachdem Frau Lohmann etwas später Folgendes sagt:

Mit Gewalt können Sie diese Verschwendung von Lebensenergie, die ihr Sohn hier darstellt, auch nicht in eine gute Investition verwandeln. (…) Da projizieren Eltern wer weiß was in ihr chancenloses genetisches Gemüse, und wir müssen das am Ende ausbaden.

Im Film ist mir eine kleine, aber feine Besonderheit aufgefallen: Der Zeitraum der Kernhandlung, nämlich die Unterredungen im Lehrerzimmer, sind identisch mit der Filmlänge. Das lässt sich an der eindeutig sichtbaren Uhr im Lehrerzimmer ablesen. Die Handlung fängt freitags gegen 14.30 Uhr und endet wie der Film nach etwa 90 Minuten, also gegen 16 Uhr.

Lehrerzimmer im Film
Screenshot aus: Eingeschlossene Gesellschaft (Regie: Sönke Wortmann), 2022, 2’42”.

Der Zuschauer wird zusätzlich mit Szenen aus der Vergangenheit und der Zukunft konfrontiert, was das unmittelbare Geschehen an der Schule komplettiert.Die oft sichtbare Uhr gibt dem Film einen zusätzlichen Bezugspunkt zu den Dialogen vor Ort, nämlich das Zeitgefühl. Quasi ungeschnitten sind die Gespräche, wodurch eine zeitliche Dringlichkeit der Handlung verstärkt wird. Abgesehen von Frau Lohmann ist Reizfigur Herr Leonhardt, der der Kamera zunächst mit dem Rücken zugeneigt ist. Es ist bezeichnend, dass sie in der Anfangsszene so weit auseinander entfernt sitzen – die zum Filmdreh noch grassierende Pandemie kann hier nicht dafür verantwortlich sein.

Und noch ein Detail: Am Anfang und am Ende des Films werden Porträts des ganzen Kollegiums mit der Angabe ihrer Unterrichtsfächer eingeblendet, während die ersten und letzten Sekunden mit dem Frühlingslied von Franz Schubert ironisch untermalt werden:

Fotowand_Eingeschlossene Gesellschaft
Screenshot aus: Eingeschlossene Gesellschaft (Regie: Sönke Wortmann), 2022, 1’10”.

Es liegt die Interpretaton nahe, dass die dargestellten fünf Lehrer als Protagonisten in gewisser Weise die Lehrerschaft in ihrer Bandbreite darstellen, die sich nicht grün untereinander ist. Wie die Rückblenden bzw. gewisse Gesprächsinhalte zeigen, haben sie sich alles andere als tugendhaft in ihrem Berufsleben verhalten. Es gehört zu den Stärken des Films, dass auch ihre Schwächen bzw. Laster offenkundig werden. Als Zuschauer kommt man kaum umhin, an die eigenen Pauker zurückzudenken. Wirkten die teils überzeichneten Figuren allzu gewöhnlich, würde man sich schnell langweilen. Auch deswegen wird in Eingeschlossene Gesellschaft eine Versuchsanordnung modelliert, aus der analog zu einem groben Pinselstrich Charakterstudien (mit so manchen, kaum zu vermeidenden Klischees) entstehen, die man weniger schnell vergisst als so manchen blassen Lehrer aus der eigenen Schulzeit.

Die längeren Zitate kommen im Film an der Position 3’35 und an der Position 11’50 vor. Weitere Bilder sowie der Trailer zum Film finden sich hier. Ein Filmgespräch, im Grunde ein regelrechter Verriss, findet sich bei artechock, dem Münchner Filmmagazin. Dort wird auch von „toxischer Pädagogik” gesprochen, ein sicher zu markiger Begriff für diesen Film, der zuunrecht eine Pauschalverurteilung vornimmt und die Zwischentöne außer acht lässt.

Affäre mit Überlänge – Über ein übelriechendes Politikum

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Ohne das Dresdner Hygiene-Museum hätte ich wohl nie von dieser Affäre gehört, die mindestens ein Jahrzehnt lang ab 1976 bestimmte Bürger, die am ehemaligen Eisernen Vorhang wohnten, etwas anbelangte. In der Sonderausstellung Luft. Eine für alle ist nämlich ein Schreiben vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl an den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Husák einzusehen, aus dem hervorgeht, dass die Affäre hochaufgehängt werden musste, als die Sorge um das Gemeinwohl einen klar ökologischen Anstrich erhielt. Unilateral ließ sich diese Sorge nicht aus der Welt schaffen.

Die sogenannte Katzendreckgestank-Affäre, bei der es konkret um die grenzüberschreitende, gesundheitsgefährdende Belastung durch Schwefeldioxid aus der Tschechoslowakei und der DDR ging, ist aber auch ein gutes Beispiel, wie bürgerschaftliches Engagement politische Vorgänge in Gang setzen kann. Ohne Medien und Presse – damals komplett offline – hätte es viel länger gebraucht, bis fernab in Bonn und Prag sowie in Ost-Berlin Politiker gehandelt hätten. Es dauerte bis zum Jahre 1987, bis ein bilaterales Umweltabkommen mit der Tschechoslowakei verabschiedet werden konnte. Mit der „deutsch-deutschen Geruchsbekämpfung“ ging es indes nicht schneller voran, wie der hervorragende Artikel von Bodo Mrozek und Doubravka Olšáková zu dieser Affäre beschreibt. 1989 schienen dann zumindest teilweise mit Fall des Eisernen Vorhangs diese grenzüberschreitenden Konflikte wie weggeblasen.

Dass die Benennung der Affäre einem Zitat eines Bürgers in einer Diskussionssendung des Bayrischen Rundfunks („Jetzt red‘ i“)  zu verdanken ist, zeigt, dass kein investigativer Journalist etwas Anstößiges entlarvt hätte, wie es ja sonst oft bei Affären der Fall ist. Wie stark hier im Laufe der 1980er Jahre der wachsende Einfluss der Grünen (im Bundestag) mitentscheidend war, müsste man sicher separat untersuchen. Dass er vorhanden war, wird im Artikel deutlich, als noch einmal vom Begriff die Rede war:

Unter dem verniedlichenden Label „Katzendreck“ ließen sich Umweltprobleme ansprechen, ohne allzu sehr an Reizthemen der Grünen anzuschließen. Erst in den 1980er Jahren wurde das sensorische Problem zunehmend dem Abstraktum Umwelt zugerechnet, das sich etwa zeitgleich als Feld nationaler und internationaler Politik ausdifferenzierte und etablierte. Zuvor hatten alle Seiten das Thema Umwelt im Kontext des Kalten Kriegs oft absichtsvoll exterritorialisiert.

Interessant ist, dass das Thema Geruchsbelästigung hier sicher anders verhandelt wurde als in den Jahrzehnten zuvor im Ruhrgebiet. Dieses wird im Artikel nur am Rande erwähnt, weil vor allem durch das Schließen von Zechen und sicher auch durch technologischen Fortschritt die Geruchsbelästigung recht geräuschlos bis zu den 90er Jahren deutlich verringert werden konnte.

Als ich mich nämlich mit meinen Eltern im Juli 1990 Wernigerode besuchte, dachte ich, ich würde mich in einer anderen Geruchswelt befinden. Die Luft dort war völlig anders als die im nur wenige Kilometer entfernt gelegenen niedersächsischen Bad Harzburg, und auch im Ruhrgebiet zu jener Zeit. Es war, als ob die Luft sich auch an damals sich auflösende politische Grenzen gehalten hätte, was natürlich nicht stimmen kann. Und doch hängt die Wahrnehmung sehr stark von der lokalen Konzentration bestimmter Schadstoffe in der Luft ab.

Eine aktive Umweltpolitik ergibt nur dann Sinn, wenn sie länderübergreifend gesteuert wird. EU-Umweltrichtlinien und internationale Klimaschutzabkommen haben sicher dazu beigetragen, dass mühsame bilaterale Beratungen und Verhandlungen heute multilateral erfolgversprechender sind. Und doch stellt sich die Frage, ob nicht andere Erdteile für unsere ökologischen Anstrengungen indirekt herhalten müssen (Stichwort: Müllexporte). Hierzu gibt es eine detaillierte Berichterstattung der TU Dresden.

Wie gut, dass wir in unseren Breiten uns über sauberere Luft freuen können. Die zunehmende Zahl von Elektrofahrzeugen und strenge Abgasvorschriften sind ein Segen für die Gesellschaft, die gerade am Wochenende daraus einen hohen Nutzen zieht. Es ist wirklich selten geworden, sich über Geruchsbelästigungen zu beklagen. Zigarettenrauch hat sich ja auch quasi in (saubere) Luft aufgelöst. Doch wenn gerade im Sommer oder an windstillen Tagen allgemein über Feinstaubbelastung gesprochen wird, dann wird klar, dass im 21. Jahrhundert die Luft geruchsärmer, jedoch nicht an allen Orten gleichmäßig gut ist, wie man an Messdaten des Umweltbundesamtes erkennen kann. Und wie wir alle wissen, ist Klimaschutz eines der wichtigsten politischen (Kampf-)Begriffe geworden. Die Katzendreckgestank-Affäre hat bewiesen, dass ein langer Atem nötig ist, um komplexe Sachverhalte erst einmal näher zu bestimmen, ihre Ursachen und Symptome ausfindig zu machen und dann an der Verbesserung der Situation zu arbeiten. Es ist eine Fallstudie, mit der konkret Geschichte geschrieben wurde, ohne dass es ein prägendes Ereignis gegeben hätte.

Der erwähnte Artikel Die Katzendreckgestank-Affäre. Grenzüberschreitende Geruchskonflikte zwischen der Bundesrepublik, der ČSSR und der DDR 1976 bis 1989, ist 2023 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (de Gruyter Verlag, Band 71) erschienen. Das längere Zitat steht auf Seite 347.

Der Ja-Impuls bei der Lufthansa

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„Jede Geschichte beginnt mit einem Yes.“ Mit diesem Slogan thematisiert die Lufthansa sehr schön Storytelling, das wohl jedes Traditionsunternehmen gewinnbringend einsetzen kann.  Das Filmmaterial– alles andere als ein aalglattes Imagevideo – konnte ich sogar für eine Klausur in diesem Wintersemester verwenden.

Es werden die Abenteurer, die Romantiker, die Sportler, die Künstler und auch Kinder in familiärer Obhut in zweieinhalb Minuten angesprochen. Ohne Kitsch, weil eben nicht das Dauer-Lachen von Fahrgästen gezeigt wird, sondern Entscheidungsmomente oder nervenaufreibende Augenblicke.   Das „Ja“ wird als Zustimmung muss nicht unbedingt positive Emotionen auslösen, gerade wenn es um das Loslassen, den „Neustart“ geht, und zwar nicht nur auf Beziehungsebene. Die Bejahung eines Schritts zeugt von einem gewissen Handlungswillen. Und genau da kann eine Fluggesellschaft ansetzen. Die meisten Reisen finden in unseren Breiten freiwillig statt. Und nach dem Ende der Covid-Pandemie ist die Reiselust (wieder) ungebrochen, auch um Verpasstes nachzuholen. Doch gibt es globalisierungskritische Tendenzen, die dem Flugverkehr nicht in die Karten spielen. Insofern setzt der Film auch klare Zeichen: Es wird mit wenigen Worten auf Deutsch und Englisch (mit deutschen Untertiteln) das Wörtchen „Ja“ / „Yes“ in den Vordergrund gestellt, und zu diesem Ja-Sagen gesellt sich nicht selten eine Reiseaktivität.

Besonders ist, dass in diesem Film keine Geschichte so richtig erzählt, sondern eher angedeutet wird. Auch wird kein Inhalt stark personifiziert, was im Zeitalter des Influencer-Marketing bemerkenswert ist. Statt Personennamen werden die Codes von Sitzplätzen einzelnen handelnden Personen zugordnet, was auch ein geschickter Schachzug ist: Denn gerade im Kontext eines Flugs bleiben eher bestimmte Typen in Erinnerung und weniger das Individuum mit seiner eigenen Geschichte.

Die Klammer in diesem Unternehmensfilm bilden zwei Fahrgäste, die in Comic-Form die Storyline erstellen. Sie werden auch als Erzähler eingesetzt und am Schluss gezeigt:

Lufthansa-Unternehmensfilm
Kreative Storyline im Content-Marketing-Film der Lufthansa (Screenshot bei 2min16sek)

Die Beschreibung wird also medial auf zwei unterschiedlichen Kanälen vorgenommen: Einmal in Form einzelner, sehr kurzer Videosequenzen, und einmal in aufgezeichneter Form auf Papier.

Der Sitz 10 A steht für den Sprung in die filmisch-literarische Kunstwelt, von der zu Anfang des Films die Rede war, als die auf diesen Sitz gebuchte Passagierin im Flugzeug zu einem Casting (oder einem Vorstellungsgespräch) anreiste. Auf der Homepage, unterhalb des eingebetteten Youtube-Videos,  heißt es dazu:

Die Welt, meine Bühne. Yes! (…) Ob Sie selbst von den Brettern, die die Welt bedeuten, träumen oder auf den Spuren filmischer Legenden wandeln möchten: Machen Sie sich startklar – die ganze Welt ist Ihre Bühne.

Mit einem Klick auf den Button „Zum Film. Yes“ werden dazu passende Reiseziele vorgeschlagen: Dubrovnik, Boston, Tunis, Oslo, London, Malta. Bühnenreife Orte also, zum Beispiel: „Kaum eine Stadt ist so sehr mit berühmten Fantasy-Serien verbunden wie Dubrovnik.“

Der klassische Städtetourismus wird hier nicht mit realen Sehenswürdigkeiten beworben, sondern mit der Kulissenhaftigkeit, derer sich die Filmindustrie bedient. Man soll also die Orte aufsuchen, die bereits in einem fiktionalen Produkt enthalten sind. Die vor Ort gelebte Kultur mit all ihren Besonderheiten erscheint weniger relevant als der Rahmen, der für mehr Emotionen sorgen kann als die Essenz des Reiseziels, die gerade bei Kurztrips sowieso kaum erspürt werden kann. Es geht mehr um die persönliche „Storyline“ des Reisenden, die auf Social-Media-Kanälen über geschickt gepostete Bilder auch gut dargestellt werden kann.

Der Film ist zusammen mit dem Textmaterial ein hervorragendes Beispiel für Reisemotivationen des 21. Jahrhunderts. Die Flugziele sind natürlich konkret, doch bewusst vage gehalten sind Personen und Orte. Zuschreibungen zu Personen und Orten füllen die Fantasie des potenziellen Fluggastes.   

Wer wird bei dieser Auswahl nicht mindestens ein Ziel finden, an welches man gerne einmal mit einem Lufthansa-Flug schweifen möchte?

Der Film lässt sich hier anschauen.  

Das verborgene Netz-Werk: Über ein Gemälde von Remedios Varo

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Den Namen der spanischen Künstlerin Remedios Varo (1908-1963) werde ich bestimmt nicht mehr vergessen. „Remedios“ – Heilmittel – als Vorname, und dann noch im Plural!  Das erscheint einzigartig, gerade wenn er von Geburt an vorlag.

Auf einem Streifzug durch die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne Ende Januar 2023, die im Potsdamer Museum Barberini gezeigt wurde, blieb mir unter anderen das Ölgemälde Tres destinos (Drei Schicksale) im Kopf. Varo malte es Mitte der 1950er Jahre und zeigt darin ihre Meisterschaft, die mich mehr anspricht als die eines Salvatore Dalí oder eines Max Ernst.

Tres destinos: Remedios Varo (1956)
Remedios Varo: Tres destinos (Drei Schicksale), 1956, Öl auf Masonit, Privatsammlung.

Im Ausstellungkatalog ist zu Remedios Varo besonders der Artikel „Okkulte Bildwelten. Leonora Carrington und Remedios Varo“ von Victoria Ferentinou auf den Seiten 215-237 lesenswert. Zum Gemälde Drei Schicksale,  auf der Seite 227 abgebildet, heißt es auf der Seite 219:

Im Vordergrund stehen drei hohe Türme mit spitz zulaufenden Dächern, die von mönchartigen Gestalten in weiten grünen Gewändern bewohnt werden. Während die Figuren in ihre spirituelle Arbeit versunken sind und vollkommen isoliert voneinander scheinen, symbolisieren transparent leuchtende Seile ihre kosmische Verbundenheit und deuten darauf hin, dass sich „ihre Lebenswege eines Tages kreuzen werden“, wie Varo selbst zu ihrem Bild vermerkte. Indem die Seile mit einem strahlenden Himmelskörper verbunden sind, weist die Ikonographie auf die Ambivalenz zwischen freiem Willen und göttlicher Vorsehung hin und greift zugleich den Gedanken einer Analogie zwischen Mensch und Universum, Mikro- und Makrokosmos auf.

Der bei Varo zu entdeckende Okkultismus „als eine Art Geheimwissenschaft, die sich mit vermeintlich übernatürlichen Kräften und Phänomenen befasst und eng mit dem Glauben an die Magie verbunden ist“ sowie die Magie als „eine Praxis, die darauf abzielt, übernatürliche Kräfte für menschliche Zwecke dienlich zu machen“ stehen mir eigentlich nicht nah. Mir scheint, dass es vor allem das Motiv ist, das mich in den Bann zog. Diese drei Schicksale, auf der Leinwand festgehalten, sind durch ein feines Netz-Werk miteinander verknüpft. Was in der Wirklichkeit oft als Netzwerk recht pauschal bezeichnet wird, erscheint hier auf unglaubliche Weise plastisch. Wir können nicht ergründen, was die drei abgebildeten Personen inhaltlich verbindet, doch es reicht, wenn Nähe und Distanz eine merkwürdige Symbiose eingehen: Einerseits diese Isolierung in den drei Hütten, andererseits das Zusammenspiel über das Gewebe. Der altmeistliche Farbauftrag  lässt nicht automatisch an das 20. Jahrhundert denken, ebensowenig wie die drei Figuren, die alles andere als flüchtig dargestellt sind. Geometrische Strukturen zeigen eine Welt zeitloser Präzisionsarbeit; und auch die Vorgänge in den drei Türmen lassen ein Zeugnis der geistigen Sammlung erkennen. Eine Feder, ein Pinsel und ein Glas sind als Werkzeuge sichtbar; schreiben, zeichnen, sinnieren sind meine Assoziationen zu diesen Objekten. Es entsteht vor dem inneren Auge ein Ruhepol, das zu kontemplativem Betrachten einlädt. Die Seile bilden einen Mechanismus ab, der keinen rationalen Erwägungen folgt und deswegen umso mehr faszinieren kann, ebenso wie eine Apparatur, die man nicht ganz in ihrer Funktionsweise durchschauen kann. Insofern kann jeder Betrachter hier auch über nicht vollständig erklärbare Vorgänge aus der realen Lebenswelt nachdenken.  Er fügt seine Erfahrungen als Bewohner ein, die auch von merkwürdigen Beziehungen zu anderen Menschen zeugen. Was verbindet Stadt-Menschen? Irgendein Werk, bei dem wir auf das Wirken anderer angewiesen sind, lässt eine Trennung zu anderen durch Mauerwerk weniger rigide erscheinen. Es lässt sich oft nicht genau ergründen, wer an einem bestimmten Ergebnis mitgewirkt hat, da die zuvor stattgefundenen Vorgänge nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So wie ein Ergebnis eigentlich mehrere Ergebnisse umfassen, besteht ein Vorgang aus Vorgängen. Das Ganzheitliche lässt sich nur mit dem Partiellen herleiten – so wie drei Schicksale an einem Strang, ausgehend von einer höheren Macht, ziehen (müssen).  

Die kurzen Zitate zu Magie und Okkultismus habe ich dem Glossar von Helen Bremm im Ausstellungkatalog entnommen, der im Prestel Verlag erschienen ist (auch eine englische Ausgabe liegt vor, da die Peggy Guggenheim Collection auch an der Ausstellung beteiligt war).

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