Ein fünfminütiger WDR-Beitrag in der Reihe Westart aus dem Jahr 2009 sollte als Inspiration ausreichen, um sich auf den Weg zum Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal zu begeben, der vom britischen Künstler  Tony Cragg zu Anfang des 21. Jahrhunderts entworfen wurde. Die denkmalgeschützte Immobilie, eine ehemalige Fabrikantenvilla, beherbergt nun die Cragg Foundation. Wie genau ich zum ersten Mal von diesem paradiesischen Kleinod hört, weiß ich nicht mehr. Im August 2021 suchte ich diesen Ort zum zweiten Mal auf, um eine Sonderausstellung zu Heinz Mack anzuschauen, dessen Werk zusammen mit Arbeiten anderer Künstler den Waldkosmos von Cragg noch weiter anreichert. 

In Erinnerung wird am Rande einer weiteren Cragg-Skulpur ( „Ever after“ ) ein kurzer Dialog bleiben, der von einer Besucherin ausging, von der ich mitsamt ihrem Begleiter ein Foto machen sollte:

Besucherin: „Haben Sie einen Augenblick Zeit für uns?“

Ich: „Ja.“

Besucherin: „Ich würde Sie gern interviewen. Nein, das war nur ein Spaß. Würden Sie uns fotografieren? Das ist zwar nicht die Traumskulptur…“

Ich: „…Aber mit Ihnen gewinnt die Skulptur an Wert.“

Solche kurzen Szenen sind manchmal genauso so geistreich wie Kunstwerke; sie drücken die Auseinandersetzung mit dem wahrgenommenen Objekt und dem wahrnehmenden Subjekt auf originelle und ganz und gar erfrischende Weise aus. In einer Welt, die durch Selfies noch stärker auf das Ich verweist und das Gegenüber so gut wie vollständig ausblendet, ist dies eine Begebenheit, die auch etwas Berührendes hat. Tony Cragg hätte hier wohl auch geschmunzelt. Ich merkte bei meinem neuerlichen Besuch, dass die Besucher um mich herum sich aufgeschlossen auf den Park einließen, darin verweilten und sich mit dem mitunter schwer Zugänglichen beschäftigten. Auch für Familien ist dieser Ort etwas Wunderbares.

Die im Beitrag gezeigte Skulpturengruppe mit dem schönen Titel Points of View fiel mir schon bei meinem ersten Besuch 2012 auf. Kurioserweise sind sie nach meinem zweiten Besuch um eine zweite Assoziation reicher, nachdem ich wenige Tag später zum ersten Mal das Wort Triell vernahm. Dieses Fernsehformat anlässlich der Bundestagswahl 2021 benötigt drei Kandidaten mit drei Standpunkten, so wie auch die drei Bestandteile der Skulpturengruppe Standpunkte vertreten könnten:

Points of View
Tony Cragg: Points of View (2002)

Ob den Triellen etwas mehr rhetorische Ausdruckskraft fehlte? Hierüber ist es wohl müßig nachzudenken, da Rhetorik als ausgefeilte Redekunst in derlei Fernsehformaten nicht an erster Stelle steht. Das häufige Wiederholen von bereits geäußerten Standpunkten macht es geradezu unmöglich, innovative Wortbeiträge abzugeben, unabhängig vom politischen Spektrum.

Die fließenden Konturen von den Points of View, die sich kühn in die Höhe ranken, haben etwas Erhabenes und gleichzeitig auch etwas Verspieltes. Ihnen ist das Perspektivische eingeschrieben, da von jedem anderen Blickwinkel diese Skulpturen etwas neu zu Erfassendes bieten.  Jede Ausrichtung birgt Überraschungspotenzial, da man keine frontale Beobachterposition einnehmen kann. In meinem Winkel sind nicht alle drei Einzelskulpturen gleichermaßen sichtbar, was natürlich nicht beabsichtigt war. Und doch trifft dies auf eine gewöhnliche Beobachtung zu: Man hat kaum drei oder mehr Perspektiven im Blick, sondern maximal Pro und Contra. Dass oft noch weitere Standpunkte dazukommen, wird oft vernachlässigt.

Tony Cragg wird Wuppertal wohl zeit seines Lebens nicht mehr los. Gut so. Wenn man seinen „Waldfrieden“ gesehen hat, wird man auch die Enge von Wuppertal mit (horizont-)erweiternden Perspektiven gesehen haben.