Am letzten Junisonntag 2019 sollte man eigentlich zu Hause bleiben. Natürlich noch längst nicht wegen einer gewissen Pandemie, sondern wegen einer brütenden Hitze. Das Thermometer zeigte Werte von über 35 Grad ein, fast deutschlandweit. Ich schonte mich bis auf ein paar Minuten, blieb aber nicht zu Hause: Den Zug nahm ich bis Flöha östlich von Chemnitz, um dann einige schattige Kilometer durchs Tal der Zschopau zu radeln. Ziel sollte das Schloss Lichtenwalde sein, das recht imposant über dem Tal thront. Und genau diese Minuten hoch zum Schloss waren in der Tat schweißtreibend; gewiss würde sich diese Mühe lohnen. Eigentlich war es eine höchst kurzweilige Anstrengung.  Es waren im Schloss ein paar Werke von Studierenden aus der Fakultät für Angewandte Kunst in Schneeberg zu sehen, wo die Westsächsische Hochschule einen besonderen Ableger hat, der leider kaum am Stammsitz der Hochschule in Zwickau präsent ist.  Für diese Ausstellung war ich eigentlich unter anderem zum Schloss gefahren; von den Installationen von Christel Lechner hatte ich erst vor Ort gefahren.

Der große Schlosspark war fast völlig verwaist. Der Biergarten mit sicher mehr als 100 Plätzen hatte frühzeitig geschlossen, mangels Masse. Nur zwei Personen tranken noch genüsslich ihr kühles Bier; und ich gesellte mich zu ihnen. Das anschließende Gespräch über (Sport)Unterricht heute und früher in der DDR gab mir den notwendigen Auftrieb, durch den Schlosspark zu gehen, wo mir allerlei Skulpturen von Christel Lechner auffielen. Sie wurden in einer Freiluft-Ausstellung mit dem Titel „Alltagsmenschen“ zusammengestellt. 

Zwei Alltagsmenschen bleiben mir aufgrund der derzeitigen Abstandregelung besonders im Gedächtnis:

Christel Lechner: Mann im Dialog

Eigentlich sagt diese Skulptur aus zwei Menschen – ob man hier schon von einer Installation sprechen kann? –  so viel über die Gegenwart, aber eben nicht nur. Sie stammt ja aus einer Zeit, wo noch kein Politiker und kaum ein Wissenschaftler über Abstandregeln nachgedacht hätten. Insofern wäre es nicht gerechtfertigt, sie als Ausdruck unserer Zeit zu interpretieren. Und doch bin ich als Betrachter fasziniert davon, wie ein aktualisierter Kontext in der Rückschau überhand nehmen kann. Ich „sehe“ diese Skulptur mit den Augen von heute, wenn man so sagen kann, und nicht mit den Augen von 2019. Damals habe ich mir keine großen Gedanken über die Bildszene gedacht – ich fand es einfach nur originell, die hügelige Landschaft mit zu berücksichtigen und gewisse Parkgrenzen zu überwinden. Wie viele Gespräche finden räumlich distanziert statt, ganz einfach, weil sie sich so ergeben? Die klassische Alltagssituation ist jene, wenn „über den Gartenzaun hinweg“ gesprochen wird. Wer kennt dies nicht? Mit etwas lauterer Stimme kommt so ein Gespräch zustande, das auch vertraut sein kann. Nur kommt man sich eben physisch und emphatisch oft nicht näher. Jedenfalls sind viele nachbarschaftliche Beziehungen alles andere als freundschaftlich geprägt.

Bei Christel Lechners Skulptur ist jedoch das Nachbarschaftsverhältnis nicht zu erkennen. Es ist eher die Be-geben-heit, die sich im Alltag er-gibt. Die Distanz ist unübersehbar, und möglicherweise soll kein Gespräch dargestellt werden, sondern nur ein flüchtiger Blickkontakt. Wir kennen ja den Ausdruck „Wie es in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus“. Also liegt es nahe, auch an ein (kurzes) Gespräch zu denken, oder an einen Zuruf als akustisches Signal.  Die Dreidimensionalität ist hier maßgeblich durch die natürliche Landschaftsformation geschaffen: Von oben herab – von unten hinauf – beides gilt symmetrisch.

In einem Interview mit der Rheinischen Post, das ich lese, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, fallen mir drei von Lechner genannte Aspekte auf, die sich mit meinen Gedanken kreuzen.  Die „Alltagsmenschen“ erzählen „Geschichten“, zudem sind sie in ein passendes „Umfeld“ verankert, das eine intensive Interaktion zwischen Skulptur und Betrachter möglich macht. Nicht zuletzt soll die von den Kunstwerken ausstrahlende „Gelassenheit“ auch eine bestimmte Wirkung erzielen. Gerade im Krisenjahr 2020 ist diese ganz gewiss von Vorteil. Die Alltagsmenschen sind zeitlos, und der Betrachter findet einen Teil seiner selbst in ihnen wieder, und wenn es nur die Alltagskultur um ihn herum ist.

Informationen zum Werk von Christel Lechner.

Hier gibt es den erwähnten Artikel nachzulesen.