Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: März 2022

Weinerlich – lächerlich: Über das Lied „Tutorial“ von Erdmöbel

Als ich 2002 mein Studium begann, war das Veranstaltungsformat namens Tutorium auf die akademische Welt beschränkt. Heutzutage sind vor allem dank Youtube Tutorials in der breiten Gesellschaft angekommen. Vieles lässt sich heute am Bildschirm ohne klassischen Unterricht erlernen. Neulich hörte ich noch einen Spaziergänger sagen, dass er die Kombination aus Bild und Ton zum Verständnis der Erklärung sehr hilfreich finde. Wer wollte ihm da widersprechen? Eine moderne Bedienungsanleitung ist im Grunde ein Erklärvideo.

Die deutsche Band Erdmöbel hat ganz besondere Liederformate auf Studioalben gebannt und zeigt ihr hohes Maß an Kreativität und Gespür für Ironie. Das Lied Tutorial auf dem 2018 erschienenen Album Hinweise zum Gebrauch ist von seiner Gestaltung besonders; insofern verwundert es nicht, dass es auch noch durch einen Kurzfilm bebildert wird. Die Genregrenzen werden hier gleich mehrfach überschritten: Wodurch kann man ein Lied von einem Sprechgesang unterscheiden und wodurch ein Kurzfilm von einem Musikclip? „Tutorial“ erzählt davon, wie man online das Weinen erlernen kann. Das ist natürlich starker Tobak, denn Weinen gehört zu den Handlungen, die im Grunde keiner erlernen will. Es gibt jedoch Fälle, wo weinerliches Verhalten angebracht sein kann: Am ehesten sind Fake-Tränen im Schauspiel erwünscht, wenn sie die Rolle quasi vorschreiben.

Die Schlagwörter im Lied zum guten Gelingen heißen „Glücklichkeitsersatz“ als „eine echte Sache, eine echte Erinnerung, eine Person oder einen Ort, der euch vollkommen glücklich macht“; analog dazu wird  ein „Traurigkeitsersatz“ verlangt. „Ersatz“ ist sogar im Französischen als Wort (z.B. „ersatz de café“) bekannt und kann im extremen Fall auch wie ein Fake wirken.

Tutorial zeigt die Methode, die in Form eines Countdown vom Himmelhoch-Jauchzend-Gefühl zum Tode-Betrübt-Gefühl leiten soll und somit das Weinen als Ziel-Stimmung auslösen soll:

Was wir hier machen, wird die Zehn-bis-Eins-Methode genannt. Das heißt, man zählt einfach herunter, all die Zahlen von Zehn bis Eins, und dann am Ende, wenn ihr ankommt, an dem Zeitpunkt, wo ihr unten zur Eins kommt…also Leute, ihr wisst Bescheid, da kommen die Tränen. Bevor wir anfangen, muss ich nochmal betonen, dass es eigentlich nie darum geht, echte, physische Tränen zu erzeugen, sondern wir wollen Gefühle abbilden. Und was macht ihr normalerweise, wenn ihr weint? Normalerweise weint ihr nicht. Also ihr brecht nicht einfach in Tränen aus, meine ich. Normalerweise versucht ihr, wenn ihr weinen müsst, erstmal nicht zu weinen, die Traurigkeit zurückzuhalten. Und genau darum hat es mehr Kraft, viel mehr Kraft, wenn man versucht, so auszusehen, als wollte man lieber nicht weinen. Das ist es, das ist irgendwie genau der Kern dieser Übung. 

Der Kurzfilm unter der Regie von Dennis Todorovic ist passend zur
„Zehn-bis-Eins-Methode “ mit zehn namhaften Schauspielerinnen (u.a.  Corinna Harfouch und Eva-Maria Kurz) besetzt. Er wurde 2019 unter anderem auf dem Filmfest Dresden vorgeführt.  Das Lied, das in der Albumversion mit gut acht Minuten überdurchschnittlich lang ist, wurde für den Film leicht gekürzt. Mal sieht man die Akteurinnen stumm und mit Fake-Gefühlen ringend, mal bewegen sie ihre Lippen zur entlehnten Stimme von Erdmöbel-Sänger Markus Berges, so dass die unterschiedlichen Rollen im Tutorial wie ein Stimmungskollektiv erscheinen. Zu Anfang des Films werden auch weitere Akteure (Maskenbildner, Beleuchter) gezeigt, so dass die Filmkulisse als realer Lernort für Fake-Tränen inszeniert wird. Am Schluss wird der Countdown, deren Zahlen einen vorgegebenen Gefühlszustand repräsentieren, bis zur Zwei von einem Stimmen-Kollektiv und Berges doppelt heruntergezählt; bei der Zehn sorgt der „Glücklichkeitsersatz“ noch ausschließlich für extatisch strahlende, geradezu siegestrunkende Gesichter; schon bei der Neun beginnen diese zu verhärten; mit jeder weiteren Zahl macht sich mehr und mehr Ernüchterung breit, die in Niedergeschlagenheit und Fassungslosigkeit mündet. Das letzte Wort ist die Eins; Berges‘ Stimme kommt schließlich aus dem Mund der verweint aussehenden Lisa Martinek, womit der Film mit seiner Begleitmusik sang- und klanglos endet.

Das Lied ist kein Hörgenuss, was Erdmöbel sicher auch nicht beabsichtigt haben. Es ist im Grund ein schnoddriger Monolog,  der aus dem Mund eines Online-Tutors kommen könnte, begleitet von einem repetitiv-monotonen Klangteppich und lyrischen Einsprengseln einer Querflötenstimme. Man kennt diesen Ton, wenn man häufiger Erklärvideos anschaut: Das Pseudo-Kumpelhafte ist mitunter schwer zu ertragen, doch anscheinend gehört es zu einem Tutorial dazu. Erdmöbel imitieren diese Art von Rhetorik; die Kunst liegt darin, über die inszenierte Ernsthaftigkeit des Sprechgesangs (ausgeführt durch Markus Berges) gewisse Lehr-Stücke als Fake zu entlarven. In der Debatte um Authentizität und Fälschung  bietet „Tutorial“ ganz wesentliche „Hinweise zum Gebrauch“.

Die Homepage von Erdmöbel enthält viele Konzerttermine;
„Hinweise zum Gebrauch“ gibt es u.a. bei jpc zu bestellen. Außerdem gibt es hier eine vollständige Liste aller beteiligten Schauspielerinnen.

Die schwärmerisch besungene Stadt

Das Internet hält viele Informationen als Wissensspeicher für ein größeres Publikum vor. Neulich hörte ich im Radio wieder eine der bekanntesten Chansons überhaupt: Paris s’éveille von Jacques Dutronc. Der Text ist mit seiner musikalischen Ausgestaltung genial; dafür braucht es keine Übersetzung ins Deutsche. Und doch war ich froh, dass sich eine Privatperson namens Dieter Kaiser die Mühe gemacht hat,  unter anderem auch diesen Chanson-Text aus dem bewegten Jahr 1968 ins Deutsche übertragen zu haben – ohne den Reim als Klangmittel zu vernachlässigen.

Wenn man auf Youtube Jacques Dutronc singen sieht und hört, dann reicht eigentlich dieses Stimmungsbild schon aus, um sich das erwachene Paris vorzustellen: Die Querflöte als malerische Klangkulisse zusammen mit dem unwiderstehlich preschenden, gleichmäßigen Puls der Stadt, der vom Schlagzeug wie der Sound eines Spinnereibetriebs imitiert wird. Das scheinbar unabhängige Nebeneinander von Blas- und Schlaginstrument ist wie eine Signatur eines Nachtschwärmers, der das Grundtempo der Stadt mit elegisch-verträumten Charakterzügen des singenden Ichs verknüpft.

Allein die erste Zeile ist als Ansage großartig: „Je suis le dauphin de la Place Dauphine “. Die Übersetzung „Ich bin der Fürst am Fürstenplatz“ kann das Mehrdeutige der pikanten Selbstvorstellung als Thronfolger, als (sportlicher) Verfolger und als Delfin nicht aufnehmen. Die mitten in Paris auf der Île de la Cité gelegene Place Dauphine ist eine zudem recht bekannte Sehenswürdigkeit; weniger fürstlich, eher bürgerlich scheint der Fürstenplatz im Berliner Westend und der Fürstenplatz  in Düsseldorf -Friedrichstadt daherzukommen.

Eine weitere Doppeldeutigkeit ist das Backwerk namens „bâtard“, Im Französischen ist es neben einer Baguette-Variante mit weniger Hefeanteil – laut dem Wörterbuch Petit Robert ein „pain de fantaisie“ – auch ein Wort mit (historischem) Beigeschmack, das neben einem Mischling im Tierreich ein nach antiquierten Vorstellungen nicht legitim zur Welt gekommenes Kind bezeichnet; „Bastard“ ist ja auch im Deutschen (zum Glück) aus der Mode gekommen. Die beiden Verse „Paris by night, regagne les cars / Les boulangers font des bâtards“ in der Übersetzung „Süßbrot gibt es als Morgengruß“ / „Paris by night steigt in den Bus“ kann man getrost annehmen, um den Reim einigermaßen retten zu können.

Eine Strophe stelle ich in ihrer Gänze vor: Drei Sehenswürdigkeiten darin zusammen ästhetisch zu verdichten ist meisterlich. Das mit ihnen in Verbindung gebrachte Fröstelnde, das Wiederbelebte und Artige zwischen Tag und Nacht thematisieren poetisch das Kaltherzige, Geistreiche und zugleich Tugendhafte; Eigenschaften, die in einer Großstadt zu beobachten sind:

La Tour Eiffel a froid aux pieds

L’Arc de Triomphe est ranimé

Et l’Obélisque est bien dressé

Entre la nuit et la journée

Dieter Kaiser hat die den Monumenten angedichtete menschliche Aura beibehalten können:

Der Eiffelturm hat kalte Füß

Der Triumphbogen wird begrüßt

Der Obelisk hält noch die Wacht

Am Tage und in der Nacht

Musikalisch hat eine solche Übersetzung wenig Verwertungschancen, selbst wenn sie Inhalte der Liedkunst übertragen kann. Anders sieht es mit einer vollkommen neuen Textversion des Originals aus: 1969 hat der fast vergessene Sänger Wolfgang Thümler alias Bob Telden eine deutschsprachige Version mit dem Titel Berlin erwacht auf Schallplatte eingesungen. Sie blieb eher unbekannt, ist aber eine passable Kopie, die die Genregrenzen überschreitet, da die Chanson zugunsten des Schlagers eingetauscht wird. Es gibt mehrere interessante Bezugspunkte zum Original, zum Beispiel die menschlich gestimmten Eigenschaften von Bauwerken, die auf den Nachtschwärmer verweisen:

Der alte Funkturm blinzelt müde noch ins erste Sonnenlicht / ein Bäckerjunge fährt die Brötchen aus, den Schlaf noch im Gesicht

Auch werden bekannte topografische Orte eingebunden, und zwar in ganz pragmatischer Art und Weise, wobei das Busfahren wie bei Jacques Dutronc nicht zu kurz kommen darf:

Der erste Bus fährt mich vom Grunewald zum Bahnhof Zoo / vom ersten Kuss in einer Bar ich weiß nicht wo.

Bus und Bahnhof kommen erfreulicherweise in beiden Versionen vor: Bei Dutronc wird die Gare de Montparnasse zu einer „carcasse“. Das Bild eines Gerippes passt nicht nur vom Reimschema her, wenn man das gerippte Bahnhofsdach im Innern ohne Menschenströme als Belebung des Raums betrachtet. Dieter Schwarz hat das Wort „Karkasse“ im Deutschen übernommen; nur wenigen dürfte es geläufig sein, dass es in der Gastronomie verwendet wird.

Immerhin kommt dann doch das legendäre West-Berliner Nachtleben zur Geltung:

Der Kudamm fasziniert auch ohne seinen hellen Neonschein / gleich um die Ecke steigt ein Gogogirl in eine Taxe ein.

Der deutschsprachige Version ist eher die höfliche Variante; man könnte sich auch mit dem Herz der Provinz vorstellen.  Faszinierend ist, dass Original und Kopie nur ein Jahr voneinander trennen. Es weht also der gleiche Zeitgeist in den Stücken. Doch nur das Original kann einen gesanglichen Mythos schaffen. Es wird wirklich (wieder) Zeit, sich früh morgens durch Paris zu bewegen und dann (auf) das Lied von Jacques Dutronc zu hören.

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