Im Mai 2020, als ein Verreisen kaum möglich war, stieß ich zufällig auf das Gedicht „Kosmopolit“ von Durs Grünbein. Negativer kann das Dasein eines reisenden Weltbürgers kaum in Worte gefasst werden. Insofern kann ein Cosmopolitan in den „Bars von Atlantis“ alles andere als genüsslich schmecken.  Zuvor heißt es bei Grünbein:

Dem Körper ist Zeit gestohlen, den Augen Ruhe.

Das genaue Wort verliert seinen Ort. Der Schwindel

Fliegt auf mit dem Tausch von Jenseits in Hier

In verschiedenen Religionen, mehreren Sprachen.   

Tausch ist eben auch ein Austausch, doch er klingt banaler und nüchterner. Eigentlich ist jeder Kulturinteressent vom Austauschgedanken beseelt; keine Kultur kommt ohne Austausch aus. Nun drängt sich der Slogan „Wandel durch Austausch“ auf, den der Deutsche Akademische Austauschdienst auf seine Fahnen geschrieben hat. Austausch klingt geistreicher als ein Tausch und wird gerade bei einer Bildungsreise großgeschrieben, während eine Dienstreise dafür oft weniger Gelegenheiten bietet und das Reiseziel eben oft kein Austauschort ist, sondern wahrhaftig eingetauschte Ortslosigkeit herrscht. Die jetzigen Zeiten in den Frühlings- und Sommermonaten 2020, wo deutlich weniger gereist werden kann bzw. sollte, geben Grünbeins Gedicht einen neuen Akzent. Wir haben definitiv mehr Ruhe und mehr Zeit erhalten, indem wir weniger reisen.

Als ich Ende Mai 2019 aus beruflichen Gründen am Flughafen Nizza weilte, dachte ich mir, dass das Reisen für viele nur noch ein Tausch-Geschäft von einer Region zu einer anderen ist. Ein scheinbar geist- und gesichtsloses Unterfangen; da kann die Côte d’Azur noch so schön sein. Man bekam schon einen Vorgeschmack auf die Hauptsaison. Beim Umsteigen in Zürich verzauberte ein amerikanischer Barpianist die Abflughalle mit seinen sanften Klängen, ohne dass viele wartende Fluggäste merklich davon begeistert gewesen wären. Ein Jahr später, wo Live-Musik und das Fliegen vorübergehend eine Rarität geworden ist, ist das Gefühl des Reisens ein Neues.  Zur Zeit scheint das Weltbürgertum, dessen Konzept von der Wert-Gleichheit aller Menschen bereits in der Antike erdacht wurde, einen besonders schweren Stand zu haben.

Ebenfalls im Mai hörte ich ein längeres Interview im Deutschlandfunk mit der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum über ihr Buch Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Das Buch lohnt sich zumindest in Auszügen, denn das Weltbürgertum lässt sich einfach nicht gewinnbringend einsetzen, selbst wenn es ein gewisses Ideal darstellt. Nussbaum möchte den Institutionen innerhalb von Nationen eine größere Bedeutung zumessen, was wiederum bedeutet, dass Nicht-Regierungsorganisationen, die international vernetzt sind, von diesen nationalen Bedingungen abhängig sein müssen. Die Quintessenz lautet:

Wir müssen noch sehr viel mehr über die Bedingungen lernen, unter denen ausländische Hilfe produktiv sein kann. Was wir jedoch nicht länger tun dürfen, ist, uns der Fantasievorstellung überlassen, dass unsere Pflichten sich durch Hilfe aus der Ferne auf eine Weise erfüllen lassen, die die Dinge real und dauerhaft verbessert, ohne dass es dabei zu einem strukturellen und institutionellen Wandel kommt.  

Es ist gewinnbringend, sich wirklich einmal lokale Strukturen anzuschauen, denn ein vernetztes Europa und Zusammenschlüsse großer Nationen sind nur dann von Vorteil, wenn Unterstützung materieller und ideeller Art auch auf fruchtbaren Boden fallen. Mit „Boden“ ist hier die untere Ebene gemeint, auf der Institutionen wie Rathäuser und Gemeindeverwaltungen tätig sind. Sie sind entscheidend bei der Fürsorge im kleinen Rahmen und nicht nur dann, wenn es vor Ort kriselt und brodelt. Ein Weltbürger ohne lokalen Halt ist ein übermutiger Überflieger, der die Bodenhaftung verliert.

Für Nussbaum ist der Begriff Kosmopolitismus zu „vage“, um damit vernünftig arbeiten zu können. Sie schlagt dagegen einen materialistischen globalen politischen Liberalismus vor,  der sich in einem „Fähigkeitenansatz“ äußert, „der sich auf die wesentlichen Freiheiten der Menschen konzentriert, sich für diejenigen Dinge zu entscheiden, die sie wertschätzen.” Die genannten Fähigkeiten geben eine Antwort auf folgende Frage: „Was kannst du in Bereichen, die für dein Leben von Bedeutung sind, tun und sein?“ Eine Fähigkeit bezieht sich auf „Sinne, Fantasie und Denken“. In der Tat sollte es in jedem Land der Welt möglich sein, „Fantasie und Denken selbstbestimmt anzuwenden“. Wann wird dies Wirklichkeit? Ich kann mir das leider (noch) nicht vorstellen. Es braucht keine neuen Weltbürger, sondern Selbstbestimmung. Ein Geist lässt sich fremd bestimmen, doch dann ist es nicht mehr weit, bis die Unfreiheit einem wie Unkraut über den Kopf wächst.

Das Gedicht von Durs Grünbein ist ebenso online verfügbar wie das erwähnte Interview mit Martha Nussbaum im Original (mit schriftlicher Zusammenfassung auf Deutsch). Auch lässt sich ihr Buch gut über den wbg-Verlag als pdf-Dokument erwerben.