Seit langer Zeit stand die Politische Novelle von Bruno Frank ungelesen in meinem Bücherregal. Mehrere Umzüge hatte das Buch bereits mitgemacht; ich weiß gar nicht mehr genau, wo ich es antiquarisch erworben hatte. In diesem Sommer holte ich es hervor. Ich hatte vergessen, dass es aus dem Jahre 1928 stammt und bei Rowohlt erschien. Und ganz überrascht war ich, dass neben Ravello bei Neapel und Cannes der dritte wichtige Schauplatz der Novelle Marseille ist: die Stadt, die zwar zu Frankreich gehört, in der jedoch seit jeher die Welt mit all ihren unbegreiflichen Schicksalen zu Hause ist.  Der Erzähler der Novelle sieht einen „kotigen Schmelztiegel aller Rassen“, was für diesen zeitlosen Eindruck spricht.  Marseille wurde erst 2013 Kulturhauptstadt; erst im 21. Jahrhundert wurde die Gelegenheit am Schopf gepackt und viel investiert, um das Bild der schmuddelig-schillernden Hafenstadt aufzuhübschen: Ein sauber gefüllter Schmelztiegel ist eben vorzeigbarer.

Bruno Frank ist ein heute vergessener Autor, der bereits 1933 in die Schweiz und schließlich in die USA exilierte. 1945 starb er in Beverly Hills. In der Weimarer Republik hatte er durchaus als Erzähler, Dramatiker und Übersetzer Erfolg. Die Novelle ist dem Geist der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich verhaftet.  Carmers Gegenüber Achille Dorval spricht von der „Rettung unseres großen gemeinsamen Erbteils“ nach dem „Irrtum von tausend Jahren“, der Zeit nach Karl dem Großen. Kaum zu glauben, dass all diese Anstrengungen in den 1930er Jahren wiederum wertlos erschienen. Erst in den 1950er Jahren wagte der europäische Einigungsprozess einen neuen Anlauf: Im Buch ist noch die Rede von „27 Zollgebieten“, die es damals in Europa gab; ein herbeigesehnter „wirtschaftlicher Zusammenschluss“ schien noch in weiter Ferne zu liegen.  Die Hauptfigur Carl Ferdinand Carmer, „Civilrichter und dreimal Minister unter der Republik“, ist noch von den Folgen des Ersten Weltkriegs belastet, in dem auch er „Verrat am Geiste“ übte und er den Tod seiner Frau als Pflegerin an der Front als Strafe dafür ansieht. In den Zwanziger Jahren hat er die Möglichkeit, auf diplomatischem Wege, zusammen mit dem französischen Sozialisten Dorval, Dinge in Ordnung zu bringen, nachdem er zur Erholung am Golf von Neapel die „Heimat seines Herzens“ in Gegenwart seines Leibarztes Doktor Erlanger aufgesucht hat. Ort der Zusammenkunft ist das mondäne Cannes.
Schließlich geht es nach Marseille, von wo aus nach dem Sturz des Kabinetts in Berlin frühzeitig die Heimreise ansteht: Carmer ist erneut als Minister vorgesehen. Marseille war schon damals eine Welt en miniature und als Transitort ein Vorgeschmack auf Anna Seghers berühmten Roman Transit:

Carmer tat die wenigen Schritte zurück zu jener Hauptstraße. Es war die berühmte Cannebière, der Boden, den die Tausende der täglich Anschwimmenden, nach Europa Hungrigen, unmittelbar von den Schiffsplanken betraten, eine Einbruchsstelle der dunklen Welt. Europa empfing sie mit riesigen Kaffeehäusern, mit Variétés und Kinematographen und mit Kaufläden, darin die Ware von erlesenem Luxus neben kindischem Tand zur Schau lag, der den Barbaren, den Spielfreudigen locken sollte.

Im Rückblick erschüttern einen diese Sätze auch deswegen, weil ein gutes Jahrzehnt das Dunkel vom Deutschen Reich ausging und zunächst Marseille, und von 1942-1945 auch afrikanische Häfen wie Casablanca eher ein Ort der Helligkeit waren, bedenkt man die tödliche Gefahr, der jüdische Emigranten ausgesetzt waren. Jedes Schiff, das man damals in Richtung Süden bzw. Westen besteigen konnte, schenkte dem Passagier lebensrettende Freiheit. 

Heute, kurz bevor das dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beginnt, sind solche Sätze wieder merkwürdig aktuell. Wieder schwimmen Flüchtlinge im Mittelmeer an; es gibt Diskussionen darüber, wie und wo man sie aufnehmen soll. Und noch immer geistert in vielen Köpfen herum, dass sie aus einer „dunklen Welt“ in unsere Konsumwelt einbrechen. Die Wortwahl aus den 20er Jahren zeigt, wie Sichtweisen tradiert werden können: Heute werden in vielen Ländern mit ähnlicher Sprache einfache Wahrheiten gestrickt, die für Wahlen (populistisch) genutzt werden. Der Erzähler von Bruno Franks Novelle verwendet Gedankengut, das damals breiter Konsens in europäischen Gesellschaften war. Heute würde ein gebildeter Literat wohl dafür gebrandmarkt, wenn er unvermutet von Barbaren“ würde. Doch viele Denkmuster haben weiterhin Bestand, ohne ausgesprochen zu werden. Das Dunkel steht oft symbolisch auch für das Unbekannte und Unermessliche, wie es bei dunklen Mächten durchscheint.

In Marseille wird Carmer kurz vor Antritt seiner Rückreise nach Deutschland umgebracht: Als er sich unverhofft einer verführerischen Prostituierten aus Madagaskar nähert, greift ihn ein „Neger“ am Ende einer düsteren Sackgasse
mit einem Messer an, um Geld von ihm abzuringen. Carmer kann ihn abwehren und schlägt ihn zu Boden, bevor ein „Weißer“ in seiner paramilitärischen Uniform die Waffe ergreift und aus dem Hinterhalt kommend eiskalt zusticht.

Gleich zweimal schreibt Bruno Frank am Ende der Novelle, dass das Geschehen vor Ort „nur ein Splitter der furchtbaren Waffe“ war, „mit der Europa seinen Selbstmord“ beging. 1928, ein Jahr vor der Weltwirtschaftskrise, als noch die Rede von den Goldenen Zwanzigern war, lag die Geisteswelt immer noch in Trümmern. Nicht das Kommende wird prophezeit, sondern die drastischen Kriegsfolgen nach 1918 bilanziert.  Insofern wird die fiktive Handlung mit der realen Geschichte in Verbindung gebracht und mit der Politik der Zwischenkriegszeit abgerechnet. Die „deutsche Politik“ wird als „Braukessel trüb schäumender Böswilligkeit“ bezeichnet, in der es „bei öffentlicher Tagung die abgestandenen Phrasenreste beschwingterer Vorzeiten“ zu schmecken galt. Es gab keinen Grund zum Optimismus und keinen Grund zum Feiern, selbst wenn es durchaus diplomatische Erfolge zu verzeichnen gab, obwohl die „wenigen denkenden und kräftigen Gefährten vor der Zeit abgenutzt, bedrückt und zerrieben“ waren. Es gab zu viel an „romantischer Selbstbetäubung, in der der „krakehlende General“, der „Konjunktur-Mystiker“, der „profitwütige Nurverdiener“ als Prototypen „mit einem Schwall dunstigen Geredes“ der Bevölkerung „recht waren“. Die Geschichte hat Bruno Frank (leider) Recht gegeben.

Online lässt sich die Politische Novelle hier nachlesen.

In einem Kleinstverlag (herausgegeben von Karl-Maria Guth) ist auch eine Print-Version des Werks verfügbar.