Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Juni 2019

Auf leisen Sohlen unterwegs im Valle Maira

ReNatour – der Name des kleinen Nürnberger Reiseveranstalters bildet das ab, was man im Maira-Tal im Süden des Piemont, ca. 2 Autostunden von Turin entfernt, machen kann: Zurück in die Natur, und zwar “on tour”. Auf dem „Percorso occitano“ Antipasti und alte Wege zu entdecken, wie es der im Rotpunktverlag erschienene Wanderführer suggeriert, aus dem ich kurz zitieren werde, klingt genauso verlockend wie “Genusswandern im Piemont”, womit ReNatour wirbt. Dieser ist genauso wie die offizielle Wanderkarte Teil der Reiseunterlagen, in denen auch die Voucher für das gute Essen in den Unterkünften („posti tappi“) bereit liegen. Nun muss man sich, spätestens wenn einen die Wanderlust so richtig gepackt hat, nur noch selbst dorthin aufmachen. Mit meinem Bruder und mithilfe von ReNatour habe ich es im August 2018 gewagt.

Ein Aufbruch in eine mir zuvor unbekannte Region. Der auf etwa 1400 m gelegene Treffpunkt, das centro culturale Borgata in San Martino, ist schwer zu finden. Die außergewöhnliche Lage entschädigt für die mühsame Kurverei das halbe Tal hindurch und den halben Berg hinauf. Wenn man endlich an jenem Kulturzentrum angekommen ist, weiß man, dass man sich eine Region nicht ursprünglicher vorstellen kann. Vielleicht ist es das entlegenste Kulturzentrums Mitteleuropas! Bis auf moderne Verkehrsmittel fallen sämtliche Gebäude trotz der liebevollen Renovierungsarbeiten aus der (Neu-)Zeit. Nur die Inneneinrichtung verrät, dass man sich im Hier und Jetzt befindet.

Die redselige Kölner Auswanderin Maria Schneider kennt das Tal wie ihre Westentasche. Sie erklärt uns am ersten Morgen in der Gruppe die einwöchige Wanderung, die uns rund um das Tal führen und wieder in San Martino enden wird.

Karte_Percorso_occitano
Maria Schneider gibt eine Einweisung in den Wanderweg “Percorso occitano”

Einst hat sie mit einer Sprachschule im Maira-Tal angefangen, doch die touristische Angebotsseite lockte mehr und mehr  – auf sanfte „Tour“, versteht sich, doch der Umbau hin zu einem „Kulturzentrum“ war wohl nur mit viel harter Arbeit zusammen mit ihrem 2004 verstorbenen Lebenspartner Andrea zu schaffen.

Fast jeden Abend – und das ist die größte Überraschung für mich – gibt es nicht nur in San Martino ausgezeichnete Menüs, die den Wanderern für den nächsten Tag die vielen verbrannten Kalorien zurückgeben. Bodenständige, aber raffiniert zubereitete Gerichte werden serviert. Die Unterbringung – meist in Mehrbettzimmern – ist ebenfalls urig-rustikal. Und der Gepäckabholservice lässt nicht zu, dass größere Strapazen aufkommen. Insofern ist der Begriff Genusswandern passend gewählt.

Abwanderung und Perspektivlosigkeit hat dazu geführt, dass die Bevölkerung im Maira-Tal seit den 1870 Jahren um mehr als 90% abgenommen hat. Seit 1980 seien angeblich nur „20-30 Leute ins Tal gezogen“ (S. 115), wie Maria in einem Interview meint, das im erwähnten Reiseführer abgedruckt ist. Da möchte man gar nicht wissen, wie viele verstorbene Einwohner seitdem diesen gegenüberstehen.  Noch Anfang des 20. Jahrhunderts blühte der Verkauf von Haarlocken, die zur prestigeträchtigen Perückenproduktion auch auf anderen Kontinenten eingesetzt wurden. Die „Haareinkäufer aus Elva“ hießen Caviè. „Ein Caviè konnte in einer Saison gut und gerne 2000 Lire verdienen. Gutes Geld, wenn man denkt, dass eine Piemonteser Kuh für weniger als 500 Lire zu haben war.“ (S. 127).  Das Museum in Elva (1. Etappenort) zeigt dies sehr anschaulich. Von 1300 Einwohnern vor dem Ersten Weltkrieg sind heute nur noch ca. 100 übrig geblieben. Heute profitieren diese vom Genusswandern, denn die klassischen Autotouristen drängen meist nur am Wochenende in das Tal hinein.

Wie wenig Menschen im Tal wohnbar sind, zeigt eine Fern- und bzw. Nahansicht von Chialvetta, dem 4. Etappenort. Aus der Ferne ist das Dorf kaum zu erkennen.

Wanderziel Chiavetta
Chialvetta (4. Etappenort) aus der Ferne; Ziel am übernächsten Tag.
Wanderziel Chiavetta
Wanderziel Chialvetta aus der Nähe – ganz aus der Zeit gefallen.

Damals war die Landschaft stärker bewirtschaftet als heute, doch ohne moderne Verkehrsmittel ging es deutlich härter zu. Wer wäre damals auf die Idee gekommen, als Tourist diese Gegend zu entdecken? Apropos Entdecken: Wer den Genepy-Likör, der sein Aroma von der schwarzen Edelraute (it. genepì) erhält, verschmäht, hat etwas verpasst. Ihn sollte man auch zu Hause vorrätig halten, wenn man auf Hochprozentiges steht! Der vollmundige Schluck aktiviert sicher auch manche Erinnerungen an das Maira-Tal!

Mehr Informationen gibt es in dem erwähnten Wanderführer:

Ursula Bauer, Jürg Frischknecht: Antipasti und alte Wege. Valle Maira – Wandern im andern Piemont. Rotpunktverlag 2016 (8. Auflage).

Die Seite des sehr empfehlenswerten Reiseveranstalters mit der Tourenbeschreibung ist hier zu finden.

Die säuselnde Chanson – Zu Vincent Delerm

Wenn ein französischer Chansonnier ein Album mit dem Titel Kensington Square herausbringt, dann ahnt man, dass in dieser Musik gleich mehrere Grenzen überschritten werden. Und doch war in Deutschland von diesem Album so gut wie nicht die Rede – zumindest findet man im Internet keine Rezension. Vielleicht liegt es auch daran, dass 2004 – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung – das Internet noch nicht so dominant war wie heute.  Das Album stammt von Vincent Delerm, dessen Stimme niemals berühmt werden wird. Das Gesäusel ist für manche eine Zumutung, und doch passt es wunderbar, wenn man die süffisant-ironischen Texte heranzieht. Zwei Zweizeiler seien hier einmal zitiert:

„J’aimerais tenir les coupables / les auteurs de ce plan de table.“

und

„C’est le soir où près du métro / Nous avons croisé Patrick Modiano.”

Der erste Reim stammt aus dem Lied Anita Petersen, wo es um die Fragwürdigkeit mancher Tischordnungen geht: Wer wo sitzt, ist oft kein leichtes Gedankenspiel. Und für den betroffenen Gast ebenso wenig: Warum setzt man das Sänger-Ich auf einer Hochzeitsfeier neben eine (wohl fiktive) Norwegerin namens Anita Petersen, mit der man nur (kuriose) Gesprächsinhalte teilt? Die Frage muss nicht beantwortet werden – sie amüsiert eigentlich nur, und das genügt.

Im Lied Le baiser Modiano geht es um ein Date, das durch die mysteriöse Gegenwart des späteren Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano überschattet wird. Zum Schluss wird der Kuss mit dem Schriftsteller in Verbindung gebracht – er wird schlichtweg Modiano-Kuss genannt.

Vincent Delerm schafft es, konkrete Situationen zu verzerren und damit einen neuen Blick auf Erlebtes zu werfen. Er ist einfühlsam und zugleich humorvoll-distanziert. Ob es im deutschsprachigen Raum etwas Ähnliches gibt? Ein Liedermacher ohne Starallüren ist hier kaum salonfähig; Comedians oder Kabarettisten haben es sicher leichter sich zu behaupten.   

Im Internet gibt es ohne Bezahlschranke kaum brauchbare Belege, die Delerms Gesangskunst zeigen. Liegt es nur am Copyright oder auch daran, dass seine Musik nicht massentauglich bebildert werden kann, obwohl sie jede Geschichte in eine Szenerie verpackt? Federleicht ist sie gewiss, voller Esprit und Ironie. Niemals Klangteppich, sondern Klangtupfer. Ein akustisches Zeugnis von Understatement – eben keine Parolen. Unverwechselbar und doch ohne Klischees. Vincent Delerm darf in keiner Chanson-Musikliste fehlen. Und erst nachdem ich diesen Satz mit dem Schlüsselwort „Chanson“ geschrieben habe, fällt mir ein, dass ich im Titel von „Die Chanson“ sprechen muss, analog zu „La Chanson“.  Auch das gebietet die Originaltreue.

Vincent Delerm: Kensington Square, Tôt ou Tard, 2004.

Vincent Delerms sämtliche Alben sind hier erhältlich.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén