Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Autor: Thomas Edeling Seite 5 von 10

Genießer und Entdecker kleinerer und größerer unbekannter Gefilde. Vom Südrand des Ruhrgebiets stammend, aus dem Essener Süden, wo landschaftliche Reize und Industriekultur gleichermaßen in der Nähe sind. Im beruflichen Alltag Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. In der Freizeit gerne auf dem Rad, auf Langlauf-Skiern, auf der Vespa oder zu Fuß unterwegs.

Weinerlich – lächerlich: Über das Lied „Tutorial“ von Erdmöbel

Als ich 2002 mein Studium begann, war das Veranstaltungsformat namens Tutorium auf die akademische Welt beschränkt. Heutzutage sind vor allem dank Youtube Tutorials in der breiten Gesellschaft angekommen. Vieles lässt sich heute am Bildschirm ohne klassischen Unterricht erlernen. Neulich hörte ich noch einen Spaziergänger sagen, dass er die Kombination aus Bild und Ton zum Verständnis der Erklärung sehr hilfreich finde. Wer wollte ihm da widersprechen? Eine moderne Bedienungsanleitung ist im Grunde ein Erklärvideo.

Die deutsche Band Erdmöbel hat ganz besondere Liederformate auf Studioalben gebannt und zeigt ihr hohes Maß an Kreativität und Gespür für Ironie. Das Lied Tutorial auf dem 2018 erschienenen Album Hinweise zum Gebrauch ist von seiner Gestaltung besonders; insofern verwundert es nicht, dass es auch noch durch einen Kurzfilm bebildert wird. Die Genregrenzen werden hier gleich mehrfach überschritten: Wodurch kann man ein Lied von einem Sprechgesang unterscheiden und wodurch ein Kurzfilm von einem Musikclip? „Tutorial“ erzählt davon, wie man online das Weinen erlernen kann. Das ist natürlich starker Tobak, denn Weinen gehört zu den Handlungen, die im Grunde keiner erlernen will. Es gibt jedoch Fälle, wo weinerliches Verhalten angebracht sein kann: Am ehesten sind Fake-Tränen im Schauspiel erwünscht, wenn sie die Rolle quasi vorschreiben.

Die Schlagwörter im Lied zum guten Gelingen heißen „Glücklichkeitsersatz“ als „eine echte Sache, eine echte Erinnerung, eine Person oder einen Ort, der euch vollkommen glücklich macht“; analog dazu wird  ein „Traurigkeitsersatz“ verlangt. „Ersatz“ ist sogar im Französischen als Wort (z.B. „ersatz de café“) bekannt und kann im extremen Fall auch wie ein Fake wirken.

Tutorial zeigt die Methode, die in Form eines Countdown vom Himmelhoch-Jauchzend-Gefühl zum Tode-Betrübt-Gefühl leiten soll und somit das Weinen als Ziel-Stimmung auslösen soll:

Was wir hier machen, wird die Zehn-bis-Eins-Methode genannt. Das heißt, man zählt einfach herunter, all die Zahlen von Zehn bis Eins, und dann am Ende, wenn ihr ankommt, an dem Zeitpunkt, wo ihr unten zur Eins kommt…also Leute, ihr wisst Bescheid, da kommen die Tränen. Bevor wir anfangen, muss ich nochmal betonen, dass es eigentlich nie darum geht, echte, physische Tränen zu erzeugen, sondern wir wollen Gefühle abbilden. Und was macht ihr normalerweise, wenn ihr weint? Normalerweise weint ihr nicht. Also ihr brecht nicht einfach in Tränen aus, meine ich. Normalerweise versucht ihr, wenn ihr weinen müsst, erstmal nicht zu weinen, die Traurigkeit zurückzuhalten. Und genau darum hat es mehr Kraft, viel mehr Kraft, wenn man versucht, so auszusehen, als wollte man lieber nicht weinen. Das ist es, das ist irgendwie genau der Kern dieser Übung. 

Der Kurzfilm unter der Regie von Dennis Todorovic ist passend zur
„Zehn-bis-Eins-Methode “ mit zehn namhaften Schauspielerinnen (u.a.  Corinna Harfouch und Eva-Maria Kurz) besetzt. Er wurde 2019 unter anderem auf dem Filmfest Dresden vorgeführt.  Das Lied, das in der Albumversion mit gut acht Minuten überdurchschnittlich lang ist, wurde für den Film leicht gekürzt. Mal sieht man die Akteurinnen stumm und mit Fake-Gefühlen ringend, mal bewegen sie ihre Lippen zur entlehnten Stimme von Erdmöbel-Sänger Markus Berges, so dass die unterschiedlichen Rollen im Tutorial wie ein Stimmungskollektiv erscheinen. Zu Anfang des Films werden auch weitere Akteure (Maskenbildner, Beleuchter) gezeigt, so dass die Filmkulisse als realer Lernort für Fake-Tränen inszeniert wird. Am Schluss wird der Countdown, deren Zahlen einen vorgegebenen Gefühlszustand repräsentieren, bis zur Zwei von einem Stimmen-Kollektiv und Berges doppelt heruntergezählt; bei der Zehn sorgt der „Glücklichkeitsersatz“ noch ausschließlich für extatisch strahlende, geradezu siegestrunkende Gesichter; schon bei der Neun beginnen diese zu verhärten; mit jeder weiteren Zahl macht sich mehr und mehr Ernüchterung breit, die in Niedergeschlagenheit und Fassungslosigkeit mündet. Das letzte Wort ist die Eins; Berges‘ Stimme kommt schließlich aus dem Mund der verweint aussehenden Lisa Martinek, womit der Film mit seiner Begleitmusik sang- und klanglos endet.

Das Lied ist kein Hörgenuss, was Erdmöbel sicher auch nicht beabsichtigt haben. Es ist im Grund ein schnoddriger Monolog,  der aus dem Mund eines Online-Tutors kommen könnte, begleitet von einem repetitiv-monotonen Klangteppich und lyrischen Einsprengseln einer Querflötenstimme. Man kennt diesen Ton, wenn man häufiger Erklärvideos anschaut: Das Pseudo-Kumpelhafte ist mitunter schwer zu ertragen, doch anscheinend gehört es zu einem Tutorial dazu. Erdmöbel imitieren diese Art von Rhetorik; die Kunst liegt darin, über die inszenierte Ernsthaftigkeit des Sprechgesangs (ausgeführt durch Markus Berges) gewisse Lehr-Stücke als Fake zu entlarven. In der Debatte um Authentizität und Fälschung  bietet „Tutorial“ ganz wesentliche „Hinweise zum Gebrauch“.

Die Homepage von Erdmöbel enthält viele Konzerttermine;
„Hinweise zum Gebrauch“ gibt es u.a. bei jpc zu bestellen. Außerdem gibt es hier eine vollständige Liste aller beteiligten Schauspielerinnen.

Die schwärmerisch besungene Stadt

Das Internet hält viele Informationen als Wissensspeicher für ein größeres Publikum vor. Neulich hörte ich im Radio wieder eine der bekanntesten Chansons überhaupt: Paris s’éveille von Jacques Dutronc. Der Text ist mit seiner musikalischen Ausgestaltung genial; dafür braucht es keine Übersetzung ins Deutsche. Und doch war ich froh, dass sich eine Privatperson namens Dieter Kaiser die Mühe gemacht hat,  unter anderem auch diesen Chanson-Text aus dem bewegten Jahr 1968 ins Deutsche übertragen zu haben – ohne den Reim als Klangmittel zu vernachlässigen.

Wenn man auf Youtube Jacques Dutronc singen sieht und hört, dann reicht eigentlich dieses Stimmungsbild schon aus, um sich das erwachene Paris vorzustellen: Die Querflöte als malerische Klangkulisse zusammen mit dem unwiderstehlich preschenden, gleichmäßigen Puls der Stadt, der vom Schlagzeug wie der Sound eines Spinnereibetriebs imitiert wird. Das scheinbar unabhängige Nebeneinander von Blas- und Schlaginstrument ist wie eine Signatur eines Nachtschwärmers, der das Grundtempo der Stadt mit elegisch-verträumten Charakterzügen des singenden Ichs verknüpft.

Allein die erste Zeile ist als Ansage großartig: „Je suis le dauphin de la Place Dauphine “. Die Übersetzung „Ich bin der Fürst am Fürstenplatz“ kann das Mehrdeutige der pikanten Selbstvorstellung als Thronfolger, als (sportlicher) Verfolger und als Delfin nicht aufnehmen. Die mitten in Paris auf der Île de la Cité gelegene Place Dauphine ist eine zudem recht bekannte Sehenswürdigkeit; weniger fürstlich, eher bürgerlich scheint der Fürstenplatz im Berliner Westend und der Fürstenplatz  in Düsseldorf -Friedrichstadt daherzukommen.

Eine weitere Doppeldeutigkeit ist das Backwerk namens „bâtard“, Im Französischen ist es neben einer Baguette-Variante mit weniger Hefeanteil – laut dem Wörterbuch Petit Robert ein „pain de fantaisie“ – auch ein Wort mit (historischem) Beigeschmack, das neben einem Mischling im Tierreich ein nach antiquierten Vorstellungen nicht legitim zur Welt gekommenes Kind bezeichnet; „Bastard“ ist ja auch im Deutschen (zum Glück) aus der Mode gekommen. Die beiden Verse „Paris by night, regagne les cars / Les boulangers font des bâtards“ in der Übersetzung „Süßbrot gibt es als Morgengruß“ / „Paris by night steigt in den Bus“ kann man getrost annehmen, um den Reim einigermaßen retten zu können.

Eine Strophe stelle ich in ihrer Gänze vor: Drei Sehenswürdigkeiten darin zusammen ästhetisch zu verdichten ist meisterlich. Das mit ihnen in Verbindung gebrachte Fröstelnde, das Wiederbelebte und Artige zwischen Tag und Nacht thematisieren poetisch das Kaltherzige, Geistreiche und zugleich Tugendhafte; Eigenschaften, die in einer Großstadt zu beobachten sind:

La Tour Eiffel a froid aux pieds

L’Arc de Triomphe est ranimé

Et l’Obélisque est bien dressé

Entre la nuit et la journée

Dieter Kaiser hat die den Monumenten angedichtete menschliche Aura beibehalten können:

Der Eiffelturm hat kalte Füß

Der Triumphbogen wird begrüßt

Der Obelisk hält noch die Wacht

Am Tage und in der Nacht

Musikalisch hat eine solche Übersetzung wenig Verwertungschancen, selbst wenn sie Inhalte der Liedkunst übertragen kann. Anders sieht es mit einer vollkommen neuen Textversion des Originals aus: 1969 hat der fast vergessene Sänger Wolfgang Thümler alias Bob Telden eine deutschsprachige Version mit dem Titel Berlin erwacht auf Schallplatte eingesungen. Sie blieb eher unbekannt, ist aber eine passable Kopie, die die Genregrenzen überschreitet, da die Chanson zugunsten des Schlagers eingetauscht wird. Es gibt mehrere interessante Bezugspunkte zum Original, zum Beispiel die menschlich gestimmten Eigenschaften von Bauwerken, die auf den Nachtschwärmer verweisen:

Der alte Funkturm blinzelt müde noch ins erste Sonnenlicht / ein Bäckerjunge fährt die Brötchen aus, den Schlaf noch im Gesicht

Auch werden bekannte topografische Orte eingebunden, und zwar in ganz pragmatischer Art und Weise, wobei das Busfahren wie bei Jacques Dutronc nicht zu kurz kommen darf:

Der erste Bus fährt mich vom Grunewald zum Bahnhof Zoo / vom ersten Kuss in einer Bar ich weiß nicht wo.

Bus und Bahnhof kommen erfreulicherweise in beiden Versionen vor: Bei Dutronc wird die Gare de Montparnasse zu einer „carcasse“. Das Bild eines Gerippes passt nicht nur vom Reimschema her, wenn man das gerippte Bahnhofsdach im Innern ohne Menschenströme als Belebung des Raums betrachtet. Dieter Schwarz hat das Wort „Karkasse“ im Deutschen übernommen; nur wenigen dürfte es geläufig sein, dass es in der Gastronomie verwendet wird.

Immerhin kommt dann doch das legendäre West-Berliner Nachtleben zur Geltung:

Der Kudamm fasziniert auch ohne seinen hellen Neonschein / gleich um die Ecke steigt ein Gogogirl in eine Taxe ein.

Der deutschsprachige Version ist eher die höfliche Variante; man könnte sich auch mit dem Herz der Provinz vorstellen.  Faszinierend ist, dass Original und Kopie nur ein Jahr voneinander trennen. Es weht also der gleiche Zeitgeist in den Stücken. Doch nur das Original kann einen gesanglichen Mythos schaffen. Es wird wirklich (wieder) Zeit, sich früh morgens durch Paris zu bewegen und dann (auf) das Lied von Jacques Dutronc zu hören.

Literarische Drehmomente – Über Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“

Wenn in einem Roman ein Lebenslauf mit Zeitläuften (warum heißt es eigentlich nicht „Zeitläufe“ ohne diese merkwürdige „t“?) gewissermaßen verknotet wird,  dann gibt es sofort einen doppelten Boden. Das Schicksal eines Individuums wird mit dem Schicksal einer ganzen Gesellschaft in einer Parallelschau literarisch verarbeitet. Franzisk Lukitsch ist die Hauptfigur des Romans Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko, der letztes Jahr endlich auf Deutsch bei Diogenes erschienen ist; die Originalausgabe stammt aus dem Jahr 2014. Sein Lebenslauf wird durch zehn Jahre lang quasi angehalten: Er fällt nämlich  an einem Rockkonzertabend bei einer Massenpanik in einer U-Bahnunterführung ins Koma. Vorher – bis 1999 – genoss er in Minsk am Staatlichen Lyzeum für Künste eine Celloausbildung, danach – ab 2009 – kann er immerhin als Verkäufer von „Sanitärkeramik“ arbeiten, auch wenn er in seinem Leben etwas anderes vorhatte, als seinen Arbeitsplatz zwischen „Mischmaschinen, Waschbecken und Klomuscheln“ einzunehmen.

Anders als seine ihm fremd gewordene Mutter und sein Stiefvater, der als behandelnder Chefarzt sich wenig fürsorglich verhält, ist seine Großmutter ihm rührend zugeneigt. Die meisten Erzählungen am Krankenbett entführen den Leser in eine Welt, die gewisse Werte transportiert.  Als Übersetzerin ist sie nicht nur sprachmächtig, sondern vermittelt auch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Tragischerweise verstirbt die „Babuschka“ drei Tage, bevor Franzisk aus dem Koma erwacht. Immerhin hinterlässt sie ihm neben Geld auch Kontaktlisten, so dass sie ihm auch nach ihrem Tod behilflich sein kann. Aus Dankbarkeit und einer gewissen Ehrfurcht besucht der genesene Enkel oft ihr Grab, um den Dialog zwischen Diesseits und Jenseits fortzuführen.  Da Franzisk auch Gasteltern in Deutschland hat und deswegen leichter als andere an ein Visum kommt, endet das Buch recht beschwingt mit einem Celloauftritt in einer deutschen „Hafenstadt, auf einer Straße nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt“.

Jene von Franzisk als deutsche Mama und deutschen Papa bezeichneten Gasteltern – Jürgen und Claudia – wurden in den  1990er Jahren nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl vermittelt, jedoch weniger aus humanitären, sondern vielmehr aus kommerziellen Interessen. Damals wurden für Kinder und Jugendliche „Gesundheitsferien“ im „Gesundheitsbusiness“ für mehrere Hundert Dollar verkauft, ein Vermögen für die meisten Weißrussen. Ohne Dolmetscher kann sich das Ehepaar bei ihrem zweiwöchigen (Kranken-)Besuch nicht verständigen, so dass Franzisks Großmutter ihre teils ungeschickten Äußerungen nur gefiltert aufnehmen kann. Leicht klischeehaft wird vor Ort aus deutscher Perspektive von Jürgen „die schlechte Laune“ vieler Leute und von Claudia fehlende „gute Putzmittel“ bemängelt – ein No-Go in einer ihr vertrauten „Kultur des Wäschewaschens“.  Teils aus Fürsorge, teils aus Eigennutz wird Franzisk von Jürgen als „sein Kind“ angesehen, was nicht unbedingt die Verständigung  zwischen zwei Familien fördert.  Dass humanitäre Prinzipien auch heute weniger eine Rolle spielen, macht der Autor sehr deutlich. Denn nach dem Erwachen aus dem Koma hat sich für Weißrussland wenig verändert. Franzisks Freund Stassik meint sicher zurecht:

Für die Europäer sind wir Menschen zweiter Klasse aus einem Dritte-Welt-Land. Alle sagen immer nur, man müsse uns helfen, die Tür aufmachen, wir seien so wie sie, würden uns durch nichts unterscheiden, aber sobald es um das Thema Visum geht – ziehen sie zwischen uns eine riesige Panzerglasscheibe hoch.

Ungezügelte Privatwirtschaft auf der einen Seite, mentale und politische Mauern auf der anderen Seite machen die zeitgeschichtliche Ebene als Konstanten seit Mitte der 90er Jahre aus. Vor dem Fall ins Koma wird ein Rückfall in den pränatalen Zustand beschrieben, der eben nicht nur auf Franzisk zutrifft, sondern sinnbildlich auch auf den Zustand von Belarus um die Jahrtausendwende herum:

Wie ein Baby im Mutterleib drehte es ihn wieder und wieder. Er wusste nicht mehr, wo der Boden war und wo die Decke; eine unsichtbare Nabelschnur, Rettung oder Untergang, zog ihn weiter.

Handelt es sich hier um den unkontrolliert erlebten Fall ins Unbewusste, beobachtet Franzisk in seinem Badezimmer ganz bewusst einen weiteren, deutlich längeren Drehmoment am denkwürdigen Präsidentschaftswahlabend 2010:

Während Tränen über sein Gesicht strömten, sah er zu, wie Kleidungsstücke übereinanderpurzelten und -wirbelten. Wie vorhin der nasse Schnee die Stadt füllte Schaum die Trommel an. Das runde Glas beschlug, die Maschine nahm Schwung auf und wackelte. Dann blieb sie plötzlich stehen, die Jeans und der Sweater plumpsten auf den Boden der metallenen Trommel wie auf nasse Stufen, und die Trommel dreht sich in die andere Richtung. Sensoren sorgten für die richtige Temperatur, während Franzisk die Temperatur seiner Tränen nicht steuern konnte. Die Maschine pumpte nun die Lauge ab, und der Schleudergang setzte ein. Zisk sah zu, die die nassen Kleider an die Wände gepresst wurden. Er dachte daran, dass er an diesem Tag zum Verräter geworden war und das nie mehr würde abwaschen können.

Das Davonrennen als Demonstrant gegen die herrschende Staatsgewalt, um einer Festnahme zu entgehen, bildet für den Romanhelden einen Makel. Die Kraft der politischen Bewegung kann dem Schleudergang der machtvolleren Staatsmaschine nicht standhalten.  Der Oppositionelle mag sich daher wie ein Kleidungsstück fühlen, dass im schlechten Sinne gesäubert wird, nämlich von jeglichen Bestrebungen, an Umsturzversuchen festzuhalten. Doch die Bevölkerung ließ sich nicht einschüchtern. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006, 2010 und 2020 wuchsen die Protestaktionen an, wenn man unabhängigen Quellen glaubt: Sollen es in Minsk etwa 10000 Demonstranten im Jahr 2006 gewesen sein, gingen angeblich vier Jahre später ca. 20000 und 2020 mindestens 100000 Menschen auf die Straße.

Dass „Musik die beste Methode zur Rettung“ für Franzisk ist, stimmt am Ende versöhnlich. Im Notensystem geht es geordnet zu; dort finden keine Revolutionen statt. Am Ende haben die Töne die Sagen – mit oder ohne Worte.

Hier geht es zu einer Leseprobe auf die Homepage des Diogenes-Verlages. Die Übersetzerin hat in einem Nachwort noch einige wissenswerte Anmerkungen gemacht. Nur eine Notiz daraus: Der Name des Protagonisten „geht auf den ‚ersten belarussischen Buchdrucker’ zurück, den Universalgelehrten Francysk Lukitsch Skaryna“. Die Neue Zürcher Zeitung bietet noch einige interessante Details zum weißrussischen Autoren, der seit vielen Jahren in Sankt Petersburg lebt.

Ansichtssache: Über das Gemälde “Ländliche Idylle” von Volker Böhringer

Ende November 2021 besuchte ich endlich mal wieder das Städel-Museum in Frankfurt am Main.  Die hochkarätige Dauerausstellung wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erweitert. Ein Gemälde fiel mir besonders auf, das im Jahre 2009 erworben wurde: Es ist die Ländliche Idylle (1935) von Volker Böhringer (1912-1961). Bedauerlicherweise ist Böhringer laut dem Städel-Museum „nur noch Spezialisten ein Begriff“ und bekam erst ein Jahr vor seinem Tod eine Einzelausstellung zugesprochen, wie man der Wikipedia entnehmen kann. Insofern lohnt sich ein genauer Blick auf dieses besondere Kunstwerk:

Volker Böhringer: "Ländliche Idylle"
Volker Böhringer: “Ländliche Idylle”, Tempera auf Öl auf Pappe, 1935; Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.

Als ich am 04.01.2022 vom Kloster Engelberg aus eine vergleichbare, leider in Regenwolken gehüllte Landschaftsformation in Churfranken betrachtete, nämlich das Maintal bei Miltenberg, hat sich das Gemälde noch stärker in meiner inneren Anschauung einen Platz verschafft. Die im Bild gezeigte Idylle ist sicher nicht romantisiert, wie es die klassische Idylle vermag, und gerade deswegen ist es für mich so nahbar. Böhringer hat seine Heimat als urbar gemachte Kulturlandschaft – das Neckartal bei Esslingen – auf eine ganz besondere Weise eingefangen. Sie berührt mich wohl deswegen, weil hier keine unberührte Natur  auf mich einwirkt. Das gesamte Hügelland scheint vom Menschen heimgesucht, wobei Heimsuchung hier auf keine Katastrophen hindeutet, sondern auf den Versuch, in klaren Strukturen sich Flächen verfügbar zu machen und nichts dem Lauf der Dinge zu überlassen. Mir fällt hierzu das Stichwort „Landnahme“ ein. Selbst der blühende Boden scheint zweckgebunden, und sei es nur aus dem Grund, sich bewusst an der Schönheit der Blüten in einem definierten Bereich erfreuen zu wollen.

Die für mich sonderbare Verschmelzung zwischen surrealistischem und expressionistischem Stil lässt sich an zwei verschiedenen Blautönen festmachen: Der Himmel erinnert mich mit den rätselhaft geformten Wolken an Salvador Dalís Werk, während die dreieckigen tiefblauen Dachfensterseiten die Formsprache eines Karl Schmidt-Rottluff geradezu zitieren. Der Körperkontakt zwischen der jungen Frau mit nur angedeutetem Profil und dem verfremdet dargestellten (Nutz-) Tier – vermutlich eine Ziege – weist auf ein stillschweigendes Verständnis  im gegenseitigen Umgang hin. Diese dargestellte Harmonie lässt mich in meinem Kopf Bilder weiterer Künstler, insbesondere von Franz Marc und August Macke abrufen.

Aus einem Bruch mit dem Entstehungsjahr im Nenner und dem Buchstaben
„b“ (wahrscheinlich für „Böhringer“) im Zähler die Wurzel ziehen zu wollen ironisiert das seriöse Datieren eines Kunstwerks. Es lässt an eine vollkommen andere Zahl denken, die eben keine Zeitkonnotation mehr hätte. Der mathematisch unbestimmbare Wert ist auf einer Zeitungsseite mit dem Titel „Bote“ abgedruckt, woraus sich eine nicht zu entschlüsselnde Botschaft ergibt.

Was mich an diesem Gelände fasziniert ist das Nebeneinander von Ort und Raum.  Die Betrachterposition nimmt mehrere Dimensionen in den Blick, die auf Bewegung hinweisen. Explizit nehme ich im Bild rechtsunten Linien sowie ein Signal wahr, die mich an eine (Fahr-)Bahn denken lassen. Es herrscht deswegen keine Starre, sondern eher eine mitgedachte Dynamik in der Ruhe vor, die auf großes künstlerisches Können hinweist. Die Kombination aus milden und kräftigen Farben unterstützt diesen Gesamteindruck.

Die linke Seite des Gemäldes enthält Utensilien und Konstruktionen, die auf tradierte Praktiken hinweisen. Ihre Anordnung verrät eine gewisse Unstimmigkeit, so als ob sie ausgedient hätten. Auffallend ist, wie detailtreu die verwendeten Materialien mit ihren Strukturen gezeichnet sind. Hier werden Stilpraktiken  aus längst verflossenen Zeiten eingebracht. „Ave Maria“ können wir an einem Bildstock lesen, der mächtig gen Himmel ragt, während der Fabrikschlot perspektivisch keine besonders luftige Höhe erreicht. Althergebrachtes und Neuartiges stoßen in der Idylle aufeinander, thematisch und strukturell: In der Zusammenschau entsteht hier auf den Betrachter der Eindruck einer Disharmonie, wodurch der Begriff „Idylle“ subtil hinterfragt wird.

Ländliche Idylle belegt, wie sehr die Sinne geschärft für alte und neue Zusammenhänge geschaffen werden, die im Betrachter selbst entstehen. Eine Einladung, seinem eigenen Bildgedächtnis habhaft zu werden und es neu zu vergegenwärtigen.

In sehr guter Bildauflösung lässt sich die Ländliche Idylle noch einmal über die Digitale Sammlung des Städelmuseums betrachten. Die Galerie Valentien bietet digital weitere Gemälde von Volker Böhringer zur Ansicht an.

Fließender Übergang – Über tanzbaren Elektropop von Yelle

Am Jahresende werden Rückblicke und Ausblicke gewagt – auch ohne (Silvester-)Partystimmung, die nach 2020 auch 2021 aus den bekannten Gründen nicht aufkommen konnte – doch bekanntlich sind Liebe, Freundschaft und Wertschätzung viel wichtiger als kurzlebige Euphorie.  Gute (Elektro-) Musik kann auch weit ab von Festen und Feten für die gewünschte Stimmung sorgen.  Im Dezember schaute ich in der Arte-Mediathek vorbei, wo „in concert“, jedoch ohne Zuschauer, die französische Sängerin Yelle alias Julie Budet sich präsentieren durfte. Ich war angetan von ihrem Sound, der hierzulande in Funk und Fernsehen selten zu hören ist. Ganz besonders hat mich das Lied Je t’aime encore angesprochen. Die (Wort-)Bindungsstärke der französischen Sprache  erzeugt zusammen mit ihrer Weichheit einen kaum zu übertreffenden Flow im Gesang. Das dazugehörige Musikvideo bildet eine weitere Dimension des fließenden Übergangs von der Stimme zum Bild. Wenn die Sängerin im Friseurstuhl sitzt und der Friseur den Rhythmus mit seinen Körperbewegungen aufnimmt, dann entsteht – das Wortspiel sei erlaubt – eine Ha(a)rmonie, besonders bei „tourner“, wenn die zu frisierenden Haare gezwirbelt werden. Der Clou des Videos besteht darin, dass der Friseur sich zum Schluss die Frisur seiner Kundin quasi überstülpt, während er sich auf den Friseurstuhl stellt und damit sein vor ihm stehendes Gegenüber überragt. Ihre Erscheinungsbilder gleichen sich sekundenschnell einander an – ein fließender Übergang.

Die Interpretin, die im Lied die Reisefreiheit von Tokio über Portland bis Barcelona genießt, bemerkt, dass sie zwar ihr geliebtes Gegenüber bewundert, dem sie als treue Seele jedoch nur mehr über die Distanz etwas zu sagen hat, auch weil er sich nach ihrem Eindruck wie ein kaum 20-jähriger verhält. Wer ist nun das Gegenüber, das im Lied adressiert wird? Wohl kein Mensch, sondern Yelles Heimat Frankreich, das sich im Lied in das Bekannte wie in eine wärmende Rettungsdecke einwickelt:

J’écris mon histoire ailleurs pour avoir des choses à te dire
Je te l’ai jamais dit, d’ailleurs, à quel point, quel point je t’admire
Tu t’enroules dans ce que tu sais comme dans couverture de survie
Elle est brillante, elle te plaît, mais pourquoi, pourquoi tu la suis?

Die Frage nach dem Warum des Sich-Eindeckens wird offen gelassen. Das Bild der Rettungsdecke ist nicht leicht zu deuten: Assoziativ lässt sich im weiß gestimmten Frisier-Video jedoch das Überstülpen der femininen Haarpracht  als schmucker Schutz vor etwas Ungewissem erklären, gerade wenn man bedenkt, dass der Friseur alles andere als volles Haar trägt – einige kahle Stellen könnten sogar als unschön gelten. Wenn man bedenkt, wie oft man im wirtschaftspolitischen Kontext in Deutschland von Rettungsschirmen gesprochen hat, ist es einmal wohltuend, eine andere Metapher für einen gewissen Schutz auf Französisch zu erhalten, ohne abschließend klären zu können, welche Art von Rettung (-smanöver) hier genau gemeint ist.

Jo Peters bezeichnet im Musik-Magazin With Guitars das Lied als einen „bittersweet love song”, in dem „the complex relationship between Yelle and its native country“ subtil thematisiert wird.  „It’s romantic, colored with synthetic sighs and imbued with a kind of longing.“  Zwischen Seufzern und Sehnsucht: Romantik ist auch im Synthie-Pop gut aufgehoben. Dazu passt, dass Yelle im gleichen Artikel mit den Worten zitiert wird, dass es sich um einen „love letter“ an ihr Heimatland Frankreich handele. Tanzbare Musik als Verpackung für einen Liebesbrief ist sowohl in Diskotheken als auch daheim bestens aufgehoben!

Das Musikvideo ist im zitierten Musik-Magazin eingebettet. Unbedingt sollte das Lied auch innerhalb des Arte-Konzertmitschnitts angehört werden, um noch einen intensiveren Höreindruck von Yelle zu erhalten. (Es folgt nach gut 18 Minuten und 13 Sekunden.)

Herzenssache: Über einen großen Wurf in einer Redewendung

Vor einigen Wochen wurde nicht nur in der FAZ (Ausgabe vom 20.11.2021, Seite 2) der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil mit den Worten zitiert, er sei den unionsgeführten Bundesländern dankbar, dem neuen Infektionsschutzgesetz zuzustimmen, wenngleich sie „ihr Herz über die Hürden werfen mussten“. Das Herz über die Hürden werfen? Wie bitte? Ich dachte zunächst an eine frei erfundene Wendung, doch dem war natürlich nicht so. Nun, ich gebe zu, dass ich die Kombination aus „Herz“, „Hürde“ und „werfen“ nicht nur arg seltsam, sondern beim ersten Lesen auch unpassend fand. Ich dachte vorrangig an einen Leichtathletik-Wettbewerb, in dem die Disziplinen Hürdenlauf und Hammerwurf vorkommen. Meinetwegen sind die Athleten mit Herzblut dabei, so dass ich schon die einzelnen Worte zusammennageln kann. Doch die überlieferte Bedeutung erschließt sich einem dabei auf Anhieb nicht. Ich konnte dem Kontext entnehmen, dass es darum geht, sich einer Sache anzuschließen, obwohl man von ihr nicht vollkommen überzeugt ist. Ob man sagen könnte, dass damit Überzeugungen über Bord geworfen werden und man sich dabei einer Sache ergibt? Dieser vertraute Ausdruck kam mir im Nachhinein in den Sinn. Überprüft habe ich meinen Deutungsversuch zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Anschließend ging ich folgendermaßen vor: Ich rief zehn mir gut bekannte Personen an. Bei diesen Telefonaten sollte sich zeigen, dass mindestens acht von zehn Angerufenen genauso wie ich sich über diesen Ausdruck wundern und einen Kontext benötigen, um ihn sich mehr oder weniger zu erschließen. Deswegen fragte ich sie auch, was sie sich unter diesem Ausdruck vorstellten. Anstelle einer richtigen Antwort wie bei einem „Telefonjoker“ in einem Quiz hervorzuzaubern, wollte ich belegen, dass ich zu einer großen Mehrheit (mindestens 80%) gehöre, die bei diesem Ausdruck kein eindeutiges Anwendungsbeispiel kennen. Ich ging also ein gewisses Risiko ein, dass ich daneben liege….

Nun, das Ergebnis lautet, dass ich Recht hatte.  Nur eine Person hatte die Redewendung schon einmal gehört. Auf die Frage, was mit der Redewendung gemeint sein könnte, gab es – bruchstückhaft wiedergegeben – folgende Antworten:

alles in die Waagschale werfen / ein Wagnis eingehen / ein Befreiungsschlag / trotz Widrigkeiten etwas verfolgen / allen Widerständen zum Trotz agieren / sich frei machen von etwas / sich dazu zwingen, etwas Bestimmtes zu tun / sich überwinden / das Herz in die Hand nehmen / Resignation

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei den Befragten die Überzeugung vorherrscht,  trotz eines gewissen Risikos und Widerständen zu agieren, um sich danach besser zu fühlen.  Das geht in die Richtung der Redewendung „das Herz in die Hand nehmen“, die wir mehrheitlich kennen.   Nur der Begriff  „Resignation“ steht etwas abseits davon, denn hier steht das Verharren im Ist-Zustand im Vordergrund und nicht das Streben nach einem Soll-Zustand. 

Die Auflösung befindet sich im Nachschlagewerk Deutsche Idiomatik. Wörterbuch der deutschen Redewendungen im Kontext von Hans Schemann. Statt einer Definition wird ein anschauliches Anwendungsbeispiel wiedergegeben, in dem der Sinn dieser Redewendung – der Eintrag ist mit dem Zusatz „selten“ versehen – deutlich wird:

Wenn beide Seiten weiterhin kleinmütig auf ihren Vorstellungen beharren und sich von der Vergangenheit leiten lassen, wird es wohl nie zu einer Verständigung kommen. Ist es wirklich nicht möglich, dass sie ihr Herz über die Hürden werfen und alles hintanstellen, was sie trennt?

Das Agieren trotz (innerer) Widerstände trifft sicherlich auf die Bedeutung dieser Redewendung zu.  Die „Hürden“ beziehen sich weniger auf Mut oder ein Wagnis, sondern auf den konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen Auffassungen, wofür klar artikulierte Widerstände überwunden werden müssen. Da sie nicht einfach ad acta gelegt werden können, ist das Bild eines Hindernisses zusammen mit einer Wurfaktion verständlich. Die Fortentwicklung nimmt einen positiven Ausgang, da hier das Herz nicht „über Bord geworfen“ wird, wie es oft in Zusammenhang mit Überzeugungen heißt.

Ein gutes Anwendungsbeispiel ist die politische Debatte wie in dem anfangs zitierten FAZ-Artikel. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das am 22.11. geänderte Infektionsschutzgesetz erneut am 10.12.2021 nach längerer Debatte durch das „Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie“ geändert wurde, um die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen einzuführen. Eine zusätzlich eingebaute Hürde wurde hier gemeistert, nachdem viele Monate diese Maßnahme parteiübergreifend so gut wie ausgeschlossen worden war. Frühere Überzeugungen wurden hier über Bord geworfen, weil neue Erkenntnisse andere Urteile erforderten. Herz und Verstand blieben jedoch intakt! Ob die Gesetzgebung als Maßnahmenbündel auch zu den gewünschten Zielen führt, werden wir dann im Laufe des nächstes Jahres erfahren. Sicherlich werden politisch auch 2022 viele gerade innerhalb der neuen 3-Parteien-Regierung ihr Herzen über die Hürden werden müssen.

Das Zitat aus dem Idiomatik-Band (erschienen bei de Gruyter im Jahre 2011) steht auf Seite 346.   

Seidene Klänge – Über ein Klavierkonzert namens “Silk Road”

Straßennamen können banal oder auch sehr klangvoll sein. Wer einmal durch Regensburg spaziert, der trifft möglicherweise auf die Weißen-Lilien-Straße und die Schwarze-Bären-Straße. Es gibt auch Straßen, die außerhalb geschlossener Ortschaften klingende Namen besitzen: Man denke nur an die Romantische Straße oder an die Deutsche Alleenstraße, die für touristische Zwecke geschaffen wurden.

Ganz und gar untouristisch ist die Seidenstraße, die genauso wie die  mit milliardenschweren Investitionen aus China seit 2013 geprägte „Neue Seidenstraße“  auch auf keiner Landkarte eingezeichnet ist, sondern vielmehr interkontinentale Handelsbeziehungen mit Kooperationspartnern auf dem See- und dem Landweg beschreibt. Von der Antike bis ins Mittelalter entwickelte sich die Seidenstraße, ohne dass diese unvorstellbaren Distanzen motorisiert oder über Telekommunikation überbrückt werden konnten. Auf der Route wurden auch immaterielle Güter „gehandelt“:  Gewiss fanden über die Seidenstraße, die natürlich über mehrere Routen führte, auch Technik- und Religionsaustausch statt. Übrigens stammt der Begriff Seidenstraße aus den 1870er Jahren vom deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen.  

Neben Wohlstandsgewinnen steht die Seidenstraße nicht nur in früheren Zeiten für Gefahren und Kapriolen. Über lokale Zwischenhändler wurde Wohlstand entlang der Straße mitunter auch hart erkauft bzw. erkämpft. Auch wenn es einen zusammenhängenden Schienenstrang über Tausende von Kilometer (mit verschiedenen Spurbreiten) gibt, so wird kein zollfreier Raum durchquert. Welche Formalitäten an den Grenzen wohl jeweils zu erledigen sind? Wir können uns dies kaum vorstellen, weil es so entrückt scheint. Fahren manche Güterzüge wirklich durchgängig z.B. von der 4-Millionen-Einwohner-Stadt Xi’an in der Provinz Shaanxi (wo die Seidenstraße inoffiziell beginnt bzw. endet) bis an die Nordsee? Angeblich – folgt man Rainer Link in einem Deutschlandfunk-Bericht, ist der „Jade-Weser-Port direkt mit der chinesischen Provinz Anhui verbunden“.  Welcher logistischer Aufwand wohl dahinter stecken mag? Es geht ja nicht um bloß um einen Transfer von A nach B. Die Transitländer wollen mitverdienen, wenn durch sie schon der Korridor führt.

Im September hörte ich mit großer Aufmerksamkeit das  Klavierkonzert Silk Road („Seidenstraße “) von Fazil Say in der Interpretation von Annika Treutler und den Clara-Schumann-Philharmonikern unter dem Dirigenten Leo Siberski. Treutler stellte sich trotz einer Fingerverletzung geradezu heldinnenhaft dem anspruchsvollen Werk.  Es ist kaum zu glauben, dass Fay das Konzert bereits in den 90er Jahren als Abschlussarbeit an der Berliner Universität der Künste komponierte (Uraufführung 1996 in Boston).

Das Geschepper, Geklirre und Geraschel des präparierten Flügels bringt dem Hörer bisweilen Tonwelten nah, die auch den teils präsenten reinen Klang abblenden. Man kann sich dies gut mit Streulicht vorstellen, das eben nicht klar aufscheint. Der Ton wirkt teils auch arg zerstreut, was gut zu einer musikalischen Verflechtung von unterschiedlichen Klangwelten passt. Einen tiefen Cis-Ton, der über die ganze Konzertlänge hinweg der Kontrabassist anstreicht, ist kaum vernehmbar. Damit werde laut dem Komponisten der Erdenklang vertont. Die vier Sätze bilden größere Regionen auf der Seidenstraße ab: Tibet („White dove, black clouds“), Indien („Hindu Dances“), Mesopotamien („Massacre“) und Anatolien ( „Earth Ballad “). Say sprach 2011 vor einem Konzert davon, „Klänge von ethnischen Instrumenten“ mit Hilfe von „Mikrotönen“ und „Effekten“ imitieren zu wollen. Ein leicht hörbarer Effekt ist auch der plätschernde Regen, den die Saiteninstrumente im Finalsatz quasi akustisch produzieren. Heute würde er es eigenen Worten zufolge mit mehr authentischen Instrumenten orchestrieren.

Wenn ich mir das Konzert noch einmal anhöre, so entsteht automatisch die Vorstellung von spannungsgeladenen filmischen Szenen,  ohne dass ich an spezielle Bilder denken muss. Der Wiedererkennungswert des Konzerts ist von den ersten Takten an sehr hoch; dabei erreicht mich das mulmige Gefühl, dass mir die Geografien und die Kulturen entlang der Seidenstraße höchst unvertraut sind. Reale Erlebnisbilder tauchen also vor meinen Augen nicht auf.  Deswegen führt das Hörerlebnis von Silk Road zu keinen Erinnerungsschüben, sondern nur zum Staunen über unvertraute, im wahrsten Sinne des Wortes befremdliche Töne. Die Textur des Klanges kommt zum Vorschein: schließlich geht es ja um die Seidenstraße und nicht um Seidenglanz.

Hier hört man Fazil Say 2011 in Kiel über Silk Road kurz sprechen, bevor er den Solistenpart übernimmt. Leider ist nicht das ganze Konzert mitgeschnitten. Vollständig lässt es sich ohne Bild  mit Muhai Tang als Dirigent und dem Orquestra da Camara Gulbenkian auf einer CD-Produktion aus dem Jahr 2003 anhören.

„Points of View“ – Gedanken zu einer Skulpturengruppe von Tony Cragg

Ein fünfminütiger WDR-Beitrag in der Reihe Westart aus dem Jahr 2009 sollte als Inspiration ausreichen, um sich auf den Weg zum Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal zu begeben, der vom britischen Künstler  Tony Cragg zu Anfang des 21. Jahrhunderts entworfen wurde. Die denkmalgeschützte Immobilie, eine ehemalige Fabrikantenvilla, beherbergt nun die Cragg Foundation. Wie genau ich zum ersten Mal von diesem paradiesischen Kleinod hört, weiß ich nicht mehr. Im August 2021 suchte ich diesen Ort zum zweiten Mal auf, um eine Sonderausstellung zu Heinz Mack anzuschauen, dessen Werk zusammen mit Arbeiten anderer Künstler den Waldkosmos von Cragg noch weiter anreichert. 

In Erinnerung wird am Rande einer weiteren Cragg-Skulpur ( „Ever after“ ) ein kurzer Dialog bleiben, der von einer Besucherin ausging, von der ich mitsamt ihrem Begleiter ein Foto machen sollte:

Besucherin: „Haben Sie einen Augenblick Zeit für uns?“

Ich: „Ja.“

Besucherin: „Ich würde Sie gern interviewen. Nein, das war nur ein Spaß. Würden Sie uns fotografieren? Das ist zwar nicht die Traumskulptur…“

Ich: „…Aber mit Ihnen gewinnt die Skulptur an Wert.“

Solche kurzen Szenen sind manchmal genauso so geistreich wie Kunstwerke; sie drücken die Auseinandersetzung mit dem wahrgenommenen Objekt und dem wahrnehmenden Subjekt auf originelle und ganz und gar erfrischende Weise aus. In einer Welt, die durch Selfies noch stärker auf das Ich verweist und das Gegenüber so gut wie vollständig ausblendet, ist dies eine Begebenheit, die auch etwas Berührendes hat. Tony Cragg hätte hier wohl auch geschmunzelt. Ich merkte bei meinem neuerlichen Besuch, dass die Besucher um mich herum sich aufgeschlossen auf den Park einließen, darin verweilten und sich mit dem mitunter schwer Zugänglichen beschäftigten. Auch für Familien ist dieser Ort etwas Wunderbares.

Die im Beitrag gezeigte Skulpturengruppe mit dem schönen Titel Points of View fiel mir schon bei meinem ersten Besuch 2012 auf. Kurioserweise sind sie nach meinem zweiten Besuch um eine zweite Assoziation reicher, nachdem ich wenige Tag später zum ersten Mal das Wort Triell vernahm. Dieses Fernsehformat anlässlich der Bundestagswahl 2021 benötigt drei Kandidaten mit drei Standpunkten, so wie auch die drei Bestandteile der Skulpturengruppe Standpunkte vertreten könnten:

Points of View
Tony Cragg: Points of View (2002)

Ob den Triellen etwas mehr rhetorische Ausdruckskraft fehlte? Hierüber ist es wohl müßig nachzudenken, da Rhetorik als ausgefeilte Redekunst in derlei Fernsehformaten nicht an erster Stelle steht. Das häufige Wiederholen von bereits geäußerten Standpunkten macht es geradezu unmöglich, innovative Wortbeiträge abzugeben, unabhängig vom politischen Spektrum.

Die fließenden Konturen von den Points of View, die sich kühn in die Höhe ranken, haben etwas Erhabenes und gleichzeitig auch etwas Verspieltes. Ihnen ist das Perspektivische eingeschrieben, da von jedem anderen Blickwinkel diese Skulpturen etwas neu zu Erfassendes bieten.  Jede Ausrichtung birgt Überraschungspotenzial, da man keine frontale Beobachterposition einnehmen kann. In meinem Winkel sind nicht alle drei Einzelskulpturen gleichermaßen sichtbar, was natürlich nicht beabsichtigt war. Und doch trifft dies auf eine gewöhnliche Beobachtung zu: Man hat kaum drei oder mehr Perspektiven im Blick, sondern maximal Pro und Contra. Dass oft noch weitere Standpunkte dazukommen, wird oft vernachlässigt.

Tony Cragg wird Wuppertal wohl zeit seines Lebens nicht mehr los. Gut so. Wenn man seinen „Waldfrieden“ gesehen hat, wird man auch die Enge von Wuppertal mit (horizont-)erweiternden Perspektiven gesehen haben. 

Der unbezahlbare Wert: Über ein “gut platziertes Trinkgeld”

Festpreise sind wir in ausgewachsenen Zivilisationen gewohnt. Wir vergleichen Angebote, Rabatte, und natürlich auch Preissteigerungen. Schnäppchenjäger sind wir bei aller Contenance doch geblieben. Hin und wieder gibt es auch hierzulande die Möglichkeit,  ein wenig zu (ver-)handeln und dabei sich noch als Sieger(in) zu fühlen. Und ganz gewiss gehört Verhandlungsgeschick zu gefragten Kompetenzen in manchen Stellenanzeigen. Der Satz „Das habe ich heute günstig geschossen!“, der (noch) nicht zu meinem aktiven Wortschatz gehört, zeigt doch den Jagdtrieb bestens!

So richtig spannend wird das so oft angesprochene Preis-Leistungs-Verhältnis jedoch erst dann, wenn es keine sichtbare Preisempfehlung gibt. Das ist genau dann der Fall, wenn eigentlich kein Geld-Leistungs-Austausch vorgesehen ist. Ich denke hier besonders an Grenzsituationen, wenn ein Geldbetrag so hoch wird, dass kein erwartbares, durchaus erwünschtes Trinkgeld mehr vorliegt, sondern ein Bestechungsgeld. Bestechung, die laut Wörterbuch der Deutschen Sprache „durch Geschenke zu einer unerlaubten Handlung verleiten“ soll, ist per se schwer feststellbar: Nicht jede Handlung lässt sich in klar in „erlaubt“ oder „unerlaubt“ einordnen; im Zweifelsfall beschäftigt sich dies Rechtsexperten. Es sind eher die Fälle, wo über eine großzügige Belohnung ein Vorhaben bzw. ein Wunsch realisiert werden muss.

Bleiben wir bei den Trinkgeldern, die Gunst und Anerkennung ausdrücken und wo keine perfiden Machenschaften dahinter stecken: Manchmal werden daraus publikationswürdige Anekdoten von seriösen Persönlichkeiten. Ein wunderbares Beispiel liefert Hans-Ulrich Gumbrecht, seines Zeichens Literaturwissenschaftler an der Stanford University. Die Textstelle findet sich in dem Essay Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität. Auf den Text war ich dank eines Interviews auf Deutschlandfunk Kultur gestoßen, wo die Anekdote auch genüsslich Erwähnung findet. Der Essay ist auch für all diejenigen geeignet, die sich nicht als Fußball-Fans bezeichnen würden, jedoch sich für das Phänomen der Masse interessieren und einen kulturhistorischen Streifzug zu diesem Thema mitmachen wollen.  Als Gumbrecht in Buenos Aires das legendäre Stadion La Bombonera, der Heimspielstätte des dortigen Fußballvereins Boca Juniors (die herrliche, vom Autor vorgeschlagene Übersetzung des Stadionnamens lautet „Pralinenschachtel“) besichtigen wollte, gab es diese besondere Geld-Leistung:

Zu hören, dass die letzte Stadionführung schon unterwegs sei, beunruhigte mich keinesfalls. Im Gegenteil, ich wusste, dass ein gut platziertes Trinkgeld auf eher bescheidenem Niveau ausreichen würde, mir im rechten Moment ganz allein Zugang zu den drei Tribünen zu verschaffen.

Und so kam es. An die Zahl der „Australes“ (damals die argentinisches Währung) kann ich mich nicht mehr erinnern, aber der junge Mann im dunkelblau-gelben Overall (das sind die Vereinsfarben), dem ich sie gab, nannte mich gleich „Caballero“ und aktivierte  auch sonst noch allerhand Höflichkeitsformen, an die er hörbar nicht gewohnt war. (…)

Mit einem Mal aber gingen die Lichter aus im frühabendlichen Stadion. (…) Über die nun geschlossene hohe Gittertür aus Metall zu klettern, die das Spielfeld mit den Tribünen von den Kassen, den Läden und dem Museum abtrennte, wagte ich nicht. Und warum auch? (…) Zehn Stunden allein im leeren Stadion waren eher ein erfüllter Traum als ein Alptraum und fühlten sich an, als sei ich Teil einer Geschichte geworden, als sei die Nacht meine Taufe und damit mein Eintritt in eine Gemeinschaft gewesen. Bald sah ich von weitem denselben Mann im blaugelben Overall die Gittertür aufschließen. Weder überrascht noch erschrocken wirkte er, und ich gab ihm wieder ein paar Australes. „Gracias, Caballero“.

Ein Stadionaufenthalt der ganz ungewöhnlichen Art wurde so möglich. Zugleich ein stilles Abenteuer inmitten einer lauten Metropole. Dafür lässt sich im Vorhinein kein Preis aushandeln; es braucht vielmehr Gespür für das Gegenüber, ohne jemandem anderen unrecht zu tun. Anstatt sich persönlich zu bereichern, kommt hier der ideelle Erfahrungsreichtum zum Tragen. Wer wagt, gewinnt, hier ganz ohne Risiko. Das Wagnis, eingeschlossen worden zu sein, wird zu einer Gr0ßchance, ohne dass von einem Fußballspiel die Rede ist: Die Chance zur erweiterten Wahrnehmung, die es so nur in einem Stadion gibt. Diese bietet zur rechten Zeit ein „ gut platziertes Trinkgeld“ . Der Einsatz hat sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt. Und anders als ein Lehrbuch ist ein Essay genau die richtige Textsorte, davon als gefühlter „Teil einer Geschichte“ zu berichten.

Der zitierte Essay (Zitat auf den Seiten 12 bis 14) ist im Klostermann Verlag erschienen. Das Interview dazu im Deutschlandfunk lässt sich hier nachhören.

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