Ironische Buchtitel locken besonders dann, wenn sie Begriffe bewusst verdrehen: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen von Jaroslav Rudiš ist solch ein Fall. Es lässt sich schnell feststellen, dass die dazugehörige Reihe des Piper Verlags, der bereits jahrelang Gebrauchsanweisungen für Städte und Länder mit großem Erfolg herausgibt (laut Homepage sind 120 Ausgaben erschienen und 3,3 Millionen Exemplare bereits verkauft), ausschließlich etwas für Technikfans ist. Bei Rudiš, der sich als „Eisenbahnmensch“ versteht, ist jedenfalls der überzeugte Bahnreisende gut aufgehoben, zu dem sich auch ein passionierter Lokführer zählen darf. Wer träumte nicht als Kind ebenso wie der Autor von diesem Beruf? Das Buch ist quasi ein Loblied auf das Verkehrsmittel, dessen Schienenstränge sich vor allem auf dem europäischen Kontinent beeindruckend.

Ein Detail in der Gebrauchsanweisung hat bei mir eine beträchtliche Wissenslücke geschlossen: Ich wusste bislang nicht, dass das Flügelrad, wie
Rudiš schreibt, als das „internationale Ursymbol der Eisenbahn“ gilt, das auf den Eisenbahner-Uniformen „wie ein kleiner Engel mit Flügeln“ aussehe.  Man kann sich gut ausmalen, wie jemand – der Schöpfer liegt im Dunkeln – im 19. Jahrhundert auf die Idee kam, über die Kombination aus Geschwindigkeit und rotierenden Bewegungen ein Hybrid aus Rad und Flügeln zu kreieren. Ob der oft geflügelt dargestellte Götterbote Hermes mythologisch dahintersteckte?

Interessant sind zweierlei Dinge: Vor ziemlich genau 100 Jahren beschäftigte sich Carl Gustav Jung bereits im Abschlusskapitel seines Werkes Psychologische Typen mit der Definitionsfrage, ob es sich beim Flügelrad wirklich um ein Symbol handelte oder doch eher um ein bloßes Zeichen:

Das Flügelrad des Eisenbahnbeamten ist kein S[ymbol] der Eisenbahn, sondern ein Zeichen, das die Zugehörigkeit zum Eisenbahnbetrieb kennzeichnet. Das S[ymbol] dagegen setzt immer voraus, dass der gewählte Ausdruck die bestmögliche Bezeichnung oder Formel für einen relativ unbekannten, jedoch als vorhanden erkannten oder geforderten Tatbestand sei. Wenn also das Flügelrad des Eisenbahnbeamten als S[ymbol] erklärt wird, so wäre damit gesagt, dass dieser Mann mit einem unbekannten Wesen zu tun habe, das sich nicht anders und besser ausdrücken ließe, als durch ein beflügeltes Rad.

Ob Symbol oder Zeichen – vielleicht ist genau mit dem Stichwort „Zugehörigkeit“ erklärbar, warum in mehreren Firmenlogos über Landesgrenzen hinweg das Flügelrad in abstrahierter Form auftaucht:

Als eindeutig miteinander grafisch verwandt sind die Logos der Nahverkehrsgesellschaft Rheinbahn in Düsseldorf, die slowakische Eisenbahn-Infrastrukturgesellschaft Železnice Slovenskej republiky (ŽSR) und die für den Personenverkehr zuständige slowakische Eisenbahngesellschaft Železničná spoločnosť Slovensko (ŽSSK) im Zusammenhang erwähnenswert:

Rheinbahn-Logo
Das Logo der Rheinbahn, Düsseldorf
Železnice Slovenskej republiky (ŽSR)
Das Logo der slowakischen Eisenbahn-Infrastrukturgesellschaft
Železnice Slovenskej republiky (ŽSR), Bratislava
Železničná spoločnosť Slovensko (ŽSSK)
Das Logo der slowakischen Eisenbahngesellschaft Železničná spoločnosť Slovensko (ŽSSK), Bratislava

Logos müssen, sicher viel stärker als damals Jung erahnen konnte, Zugehörigkeit signalisieren, denn sie vermitteln einen Wiedererkennungswert, besonders für Mitarbeiter. Für Kunden wird das weniger wichtig sein, denn oft ist die örtliche Konkurrenz kaum oder nicht vorhanden. Anders als ein Produkt im Supermarkt muss das Logo einer Verkehrsgesellschaft nicht sofort ins Auge springen. Und doch wissen wir als Verbraucher, dass ein Logo zumindest subtil eine Bedeutung trägt. Ich habe alle drei Logos schon in der realen Welt gesehen, aber ihnen keine größere Beachtung geschenkt. Diese drei Logos sind eindeutig Zeichen und gleichzeitig auch Marken, entweder Bildmarken wie bei der ŽSR oder Wort-Bild-Marken wie bei der Rheinbahn und der ŽSSK.  Sie bezeichnen ein Eisenbahnunternehmen, ohne zwangsläufig etwas zu symbolisieren.

Diese geflügelten Logos signalisieren gewiss Rotation, die ohne Reibung(sverluste) nicht ablaufen kann. Im weiteren Sinne denke ich hier an nervenaufreibende Abenteuer:  Rudiš ist ein Eisenbahnromantiker durch und durch. Die vielen Gespräche unterwegs, über die er in seinem sehr lesenswerten Buch berichtet, lassen ihn zu dem Schluss kommen, dass wir beim Bahnfahren nicht zuvorderst auf die trügerische Sicherheit Wert legen sollen, stets optimal befördert zu werden. Die Sinnfrage des Reisens stellt sich hier. Wenn wir über Sicherheit nachdenken, ist auch Unsicherheit mit Spiel. Sonst würden wir nicht ˏauf Nummer sicherˊ gehen wollen. Der abgedroschene Satz ˏDer Weg ist das Zielˊ berücksichtigt nicht, dass der Weg doch voller Unsicherheiten steckt. Rudiš koppelt zurecht diesen Erfahrungswert mit dem Eigenschaftswort „angenehm“:

Es gibt immer einen Zug, der den Reisenden weiterbringt. Früher und später wird das Ziel einer Reise auch mit Sicherheit erreicht. Doch vielleicht bestehen das Ziel und der Sinn einer Reise auch im Nichtankommen. In der Reise an sich. Im ständigen Unterwegssein. Auch im Aussteigen. In der angenehmen Unsicherheit, dass man vielleicht zunächst doch gar nicht dort ankommt, wo man eigentlich hinfahren wollte, sondern ganz woanders.

Vielleicht ist das auch der tiefere Sinn einer Gebrauchsanweisung. Wer die angenehmen Seiten eines Gegenstandes schätzen möchte, kommt ohne das Gefühl der Unsicherheit beim „Handling“ nicht aus.

Das Zitat von C.G. Jung lässt sich online im Projekt Gutenberg nachlesen. Der Text entstammt der Erstausgabe bei Rascher & Cie. In Zürich; die relevante Textstelle findet sich auf Seite 675 (online markiert).  Die Zitate von Jaroslav Rudiš stehen auf den Seiten 11 bzw. 185 der Piper-Ausgabe. Eine interessante Rezension findet sich auf den Internet-Seiten des mdr.