Wer von Grauzonen spricht, hat oft nur eine unzureichende oder gar keine Vorstellung davon, welche Zone gemeint ist. Meist handelt es sich um keine geografischen Zonen. Der auf russisch schreibende, in Kiew aufgewachsene Schriftsteller Andrej Kurkow hat in seinem 2018 erschienenen Roman Graue Bienen (die deutsche Übersetzung folgte 2019) die Konfliktregion Donbass in der Ostukraine im Blick, die von 2014 bis 2022, also vor der Zeitenwende, trotz der immer wieder auflodernden Kampfhandlungen nur gelegentlich in den Nachrichten auftauchte. Die Hauptfigur Sergejitsch ist Einwohner der fiktiven Ortschaft Malaja Starogradowka als Bienenzüchter und auch Einwohner der „grauen Zone“, die politisches und militärisches Niemandsland bezeichnet, denn „Grau ist die Farbe des Übergangs und der Schattierung zwischen den Polen.“ 

In dieser Logik erfordern militärische Auseinandersetzungen zweier Kriegsparteien als „Pole“, die sich durch keine klare Offensive auszeichnen, ein schattiertes Gebiet, das quasi als Pufferzone für beide Kriegsparteien dient:

Die graue Zone überfiel niemanden! Deshalb war sie ja auch grau, weil sich nichts in ihr ereignete und sich fast niemand in ihr befand. Und da gingen nun beide Horizonte mit Waffengewalt gegen die graue Zone vor. Obwohl beiden die graue Zone völlig egal war, sie wollten durch sie hindurch den anderen treffen. Wenn die einen wie die anderen fortgingen, dann würde die graue Zone wieder zum Mutterland!

Sergejitsch  verlässt seine Heimat in Richtung Zentralukraine nur, um seine durch näherkommende Geschosse verschreckten Bienen in Freiheit ausfliegen zu lassen, damit sie endlich ihrer Arbeit nachgehen können. Er ist nach seiner Ansicht „nicht nur Herr des Bienenstandes, sondern auch gleichsam Vertreter der gesetzlichen Interessen der Bienen“. Auch wenn das Honigsammeln nicht explizit als gesetzlich verankertes (Tier-)Recht angesehen werden würde, so sind seit den 1990er Jahren EU-Tierschutzvorschriften in Kraft, in denen fünf Freiheiten für Tiere formuliert sind, unter anderem auch die „Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens“. In diesem Sinne ist die „Road Novel“, um einen Ausdruck von Sigrid Löffler auf Deutschlandfunkkultur aufzunehmen, ein Versuch, den für den Tiernutzen und damit auch für den Nutzen des Menschen wichtigen Aspekt der Freiheitssuche konkret darzustellen.  Wenn man bedenkt, dass Bienen für ein Glas Honig „rund 40000 mal ausfliegen und dabei 4 bis 7 Millionen Blüten besuchen“ müssen, wie man in Ralph Dutlis Kulturgeschichte der Bienen mit dem schönen Titel Das Lied vom Honig nachlesen kann, dann  ist der Begriff der Freiheit eng mit stofflichem Ertrag verknüpft.

Sergejitschs Reise führt in das Mutterland, wo keine Kriegshandlungen stattfinden. Im realen Dorf Wessele (ein buchstäblich fröhlicher Ort) kommt er auch näher mit einer Händlerin namens Galja in Kontakt und kann Honig zu Geld machen. Der soziale Friede ist auch dort brüchig, ein „traumatisierter Kriegsheimkehrer“ beschädigt sein Hab und Gut, unter anderem seine Bienenstöcke, die auch für den Imker als Bettstatt dienen. So beschließt Sergejitsch, Achtem, einen krimtatarischen Bienenzüchter-Freund  auf der schon damals russisch besetzten Krim-Halbinsel aufzusuchen.

Bei der Einreise auf die Halbinsel werden die Bienen an der Grenze einer gründlichen Inspektion unterzogen, während Journalisten genau den Ankommenden mit seinem beschädigten Besitz filmen und ihm „Blicke zuwarfen, in denen weder Interesse noch Mitleid lag“. Der Verdacht liegt nahe, dass sie mit dem Bildmaterial im wahrsten Sinne des Wortes eine prorussische Geschichte drehen.

Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass Achtem verschwunden ist.  Seine Familie, die keinen Minderheitenschutz genießt, weist Sergejitsch den Weg zu den verwaisten Bienenstöcken. Die angestellten Recherchen verheißen nichts Gutes; es gibt keine Hoffnung, dass Achtem noch am Leben ist. Nach dessen Begräbnis wird Achtems Sohn Bekir aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Sergejitsch wird zudem beim Honigschleudern vom Geheimdienst FSB mitten in der Natur aufgespürt. Ihm wird ein Bienenstock abgenommen, um eine „veterinärbehördliche Grenzkontrolle“ nachzuholen, da es möglich sei, dass Krankheiten von den Tieren übertragen werden. Auch wenn die Kontrolle ohne Beanstandungen verläuft, hat sich etwas bei den untersuchten Bienen verändert. Sie zeigen ein merkwürdiges Verhalten: Nur mit einer „Schwarmkiste mit Deckel“ und dem Beschweren der Flügel mit Hilfe von zerstäubtem Wasser kann Sergejitsch sie wieder einfangen. Die Zeit für die Rückkehr in die Ukraine ist gekommen: Er nimmt in seinem ramponierten Auto Achtems Tochter Ajsche mit an die russisch-ukrainische Grenze, von wo sie sich auf den Weg zu seiner Ex-Frau Witalina nach Winnyzja machen soll, um dort ein Studium aufzunehmen.

Auf der Reise wird Sergejitsch von Träumen geplagt, in denen seine Bienen sich „wie Aufklärer des Militärs“ verhielten und „grau waren, weil sie einen Tarnanzug trugen, vielleicht auch nur einen Regenumhang, auf jeden Fall etwas Militärisches“. Auch nach dem Aufwachen „wirkten sie grau auf ihn!“ Das Unheil scheint sich auf die Bienen übertragen zu haben.  Der Roman endet folglich tragisch damit, dass der „Herr des Bienenstandes“ sich seiner in einem der nicht kontrollierten Bienenstöcke überraschend wiederentdeckten Handgranate, die er vor seiner großen Reise daheim von einem Soldaten geschenkt bekommen und nachts im trunkenen Zustand in der Nähe seiner Bienen versteckt hatte, entledigen möchte, um nicht wegen Waffenbesitz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anstatt sie einfach explodieren zu lassen, nimmt er mutwillig in Kauf, den merkwürdigen, kontrollierten Bienenstock zu zerstören. Nur wenige „graue“ Bienen scheinen danach überlebt zu haben.

So handelt auch Sergewitsch schließlich irrational. Die Angst vor einer Manipulation der Bienen führt ihn zu dieser Tat, bevor er wieder zu Hause eintrifft. Das Graue steht hier für etwas Diffuses, das eher Schaden als Nutzen anrichtet. Der Alptraum hat auch Konsequenzen auf die erzählte Wirklichkeit: Die eigenen grauen Nutztiere genießen keinen Schutz vor Gewalteinwirkung mehr.

Ralph Dutli schreibt: „Es gibt eine Nachtseite des Bienenwesens, Geschichten um Tod und Vernichtung“. Diesem Gedanken folgt der Roman, da er ja auch Ein- und Auswirkungen des damals schwelenden Krieges in der Ostukraine mit dem Schicksal von Tieren verknüpft. Diese Nachtseite ist bei Andrej Kurkow auch dem Verhalten von Menschen eigen, selbst vom harmlosen Bienenzüchter und Frührentner Sergej Sergejitsch.

Der Roman lässt sich bei Diogenes bestellen (auch als E-Book). Das lange Zitat steht auf Seite 164. Die übrigen Zitate sind den Seiten 228, 262, 276, 372, 412, 429 und 441 entnommen (in der Reihenfolge ihres Auftretens im Roman). Die beiden Zitate in Ralph Dutlis Kulturgeschichte stehen auf den Seiten 18 und 133.