2017 sah ich im Guggenheim Museum von Bibao die Helden -Bilder von Georg Baselitz. Die verstörend dargestellten Figuren werden als vermeintliche Kriegshelden thematisiert, wodurch von allein das Heldenhafte in Frage gestellt wird. Ich nahm diese Kunst zur Kenntnis, indem ich eher oberflächlich draufschaute. Baselitz‘ Hauptwerk blieb mir somit bislang verschlossen.

Der junge sächsische Autor Lukas Rietzschel hat es mit seinem Roman Raumfahrer geschafft, mir das Baselitz-Universum ein Stück weit näherzubringen. Auch Kunsthistoriker dürften hier die eine oder andere Erkenntnis mitnehmen. Das Raumfahren hat hier nichts mit dem Weltall zu tun, sondern mit einem Dazwischen, das unterschiedliche Zeiträume und zugleich auch Raumzeiten zusammenbringt und die Figuren darin verwoben werden.

Der Roman spielt in Kamenz, östlich von Dresden, und dem Ortsteil Deutschbaselitz, nach dem Hans-Georg Kern sich Georg Baselitz benannt hat. Er tritt im Buch zusammen mit seinem Bruder Günter  auf, der in der Lausitz bleibt. Jener Günter vertraut sich mit einem Geheimnis aus der Vergangenheit seinem Pfleger Jan an, womit der Plot seinen Anfang nimmt. In seinem Privatarchiv finden sich Belege dafür, dass Jan mit der Familie Kern verbandelt ist. Wie genau, soll hier nicht verraten werden.  Der Autor bedankt sich ausdrücklich dafür, dass Günter Kern ihm authentische Dokumente zur Verfügung gestellt hat:

Er hat mir Einblicke in Akten, Briefe und Leben gegeben und dabei zugesehen und geduldet, wie ich sie arrangierte, umdichtete und nach meiner Vorstellung dramatisierte.

Man merkt dem Roman an, dass er sehr sorgfältig Materialien zusammen schichtet und natürlich auch die Ortskenntnisse des Autors mitsamt dem biografischen Hintergrund in sich aufnimmt. Das Covermotiv der Originalausgabe, von Rietzschel selbst gestaltet, zeigt eine Kulisse, die ein nicht real existierendes Nebeneinander mit jeweils zwei Fixpunkten (zwei Kirchen und zwei Laternen aus unterschiedlichen Zeiträumen und Raumzeiten) abbildet. Der mir in den Sinn gekommene Begriff Raumzeit – leider nicht als Wort gebräuchlich – ist für mich anschaulich, weil das Dreidimensionale gleichsam von der unsichtbaren Zeit geprägt wird. Sehr schön zeigt sich das in vielen Ortsbeschreibungen im Roman:

Mit der Zeit hatte sich der Asphalt, der über die Straßen aus Betonplatten gegossen worden war, mit jedem Reifen, der darüberfuhr, weiter abgetragen. Mittlerweile lagen die Platten wieder nackt da. Die Rillen dazwischen. Der Rhythmus der Straßen war zurück. Der Herzschlag. Egal, wie langsam oder schnell die Autos darüberfuhren. Auch jetzt schlug leise das Herz vor dem Block, das ewige Bum-Bum, Bum-Bum der Betonplattenrillen.

Rhythmus, undenkbar ohne Zeit, wird hier erst möglich durch einen gewissen Verfall, der in einem Zeitraum entstanden ist. Gerade in den Braunkohleabbaugebieten in der Lausitz ist die Raumzeit quasi eingeschrieben:

Senftenberg, Boxberg, Hoyerswerda, Schwarze Pumpe. Kern versuchte, diese ausgeschabte Gegend, die am Horizont begann, zu meiden. All die Löcher und Gruben, verbunden durch Förderbänder, die zu den Heizkesseln und Brikettfabriken führten, als hätte jemand Spinnenbeine auf die Landkarte gelegt.

Topographisch hat die Zivilisation Raum mitgestaltet und nicht nur genutzt. Es ist das Gegenteil einer Idylle, weil so gut wie keine Fläche unberührt scheint. Renaturierungsmaßnahmen schaffen wiederum eine neue Landschaft, wodurch sich nicht nur in der Lausitz Potential für neue Lebensformen ergibt.

Dabei stellt sich auch die Frage nach der Musealisierung von Kunst in Bezug auf einen spezifischen Ort. In Deutschbaselitz sieht Jan ein Namensschild mit der Aufschrift  Frau Koschmieder, tourist information, Baselitz museum and Deutschbaselitz history museum. Das Gespräch mit Frau Koschmieder fördert zutage, dass die Werke in der Welt sind, jedoch nicht vor Ort ausgestellt werden:

Die Idee mit dem Baselitz-Museum kommt von so ein paar jungen Leuten aus Leipzig. Die haben dem Ortsversteher einen sogenannten Maßnahmenkatalog überreicht, um die Gemeinde für Touristen interessanter zu machen. Die meinten, dass man unbedingt mit dem internationalen Aushängeschild Baselitz punkten müsste.

Heißt das, Sie haben hier gar keine Gemälde?

Ich kann Ihnen ein paar Kataloge von seinen Ausstellungen geben. New York, Paris oder Kunsthalle Meppen.

Die (internationale) Vermarktung einer Region hat durchaus etwas Aufgepfropftes, was alles andere als authentisch ist. Und doch ist es Ziel eines Tourismus, Lockmittel anzubieten, auch wenn die Kunst selber nicht locken kann. Hier zeigt sich sehr schön die Frage nach dem richtigen Weg, kulturelle Raumzeiten zu schaffen. Der Roman ist ein Zeugnis einer raffiniert durchgeführten Spurensuche, die sich dem Leser offenbart. Dabei steht ein prominenter Künstler mit seinem Bruder genauso im Vordergrund wie die Biografie des Suchenden. Jan bewegt sich physisch als „Raumfahrer“ durch die Lausitz und mental durch verschiedene erzählte Räume. Ein wunderbares Bild, das sich im Text eindrucksvoll wie ein Abzeichen bemerkbar macht. Sind wir nicht alle Raumfahrer?

Ein Video mit Lukas Rietzschel zum Buch ist genauso interessant wie eine Deutschlandfunk-Rezension. Der Roman lässt sich bei dtv bestellen. Die Zitate stehen (nach aufsteigender Seitenzahl geordnet) auf S.45, S.65, S.241, S. 282 und S. 287. Das kurze siebte Kapitel (S.46/47) widmet sich vollständig den Heldenbildern von Georg Baselitz. Die Heldenbilder waren 2016 unter anderem im Städel-Museum Frankfurt am Main zu sehen. Hierzu gibt es einem kurzen Einführungstext mit einigen biografischen Angaben zu Georg Baselitz.