Es wäre eine typische Einstiegsfrage in einem medienwissenschaftlichen Seminar: Wo liegen die Unterschiede zwischen Filmografie und Fotografie? Dass sich die Frage lohnen könnte, merkt man daran, dass im Abspann das lapidare Wort ‚Kamera’ im Englischen durch ‚Director of Photography’ wiedergegeben wird.

Der Debütfilm Tagundnachtgleiche von Lena Knauss besticht nicht zuletzt durch Kamerabilder, die Licht und Dunkel in ein wundersames Mischverhältnis bannen. So ist es passend, dass im Abspann der Begriff „Bildgestaltung“ (Eva Katharina Bühler ) verwendet wird.  Der Titel ist bereits ein Verweis auf die „sinnlich-poetische Atmosphäre, die sich in der Visualität spiegelt“, um Worte von Knauss zu ihrem Film wiederaufzunehmen.  Die Geschichte des kontaktscheuen Alexander (Thomas Niehaus), der sich hemmungslos in die  Variété-Künstlerin Paula Clarin (Aenne Schwarz) verliebt, bevor sie mysteriös aus dem Leben scheidet, ohne dass er sie näher kennenlernen konnte, nimmt erst durch Paulas Schwester Marlene (Sarah Hostettler) Gestalt an. Die Liebe kann sich erst dank Marlenes Einfühlungsgabe in ihrer Rolle als Radiomoderatorin vollends entfalten. Während Paula den Augen der Regisseurin als „Projektionsfläche“ dient,  ist ihre Schwester als Radiomoderatorin trotz ihrer Unsichtbarkeit Alexanders Lebenswirklichkeit viel näher. Das liegt auch daran, dass Alexander ein großer Liebhaber klassischer Musik ist.

Ein Dialog bleibt dabei besonders in Erinnerung, als Marlene Alexander ihren Arbeitsplatz im Funkhaus zeigt:

[Alexander:] Hier kommt das alles her, was ich jeden Tag höre. Das ist schon irgendwie ein kleines Wunder. Du setzt dich hin, und wenn man will, kann man nun überall da draußen deine Stimme hören.

[Marlene:] Ich liebe das. Alles wird verschluckt. Als gäbe es da draußen die Welt gar nicht – nur noch das Hier und Jetzt. Für die da draußen bin ich unsichtbar: Keiner sieht mich – trotzdem bin ich da!

Eigentlich ist Marlenes Stimme zusammen mit den angekündigten Musikstücken – darunter Ohrwürmer wie die Vocalise von Sergej Rachmaninoff in einer Version für gemischten Chor mit heller Solo-Stimme – der Impuls für eine Annäherung Alexanders. In einem Kammerkonzert hören die beiden live die 1. Gnossienne von Erik Satie in einer Version für Klavier und Cello, wobei Alexander sich noch immer Paula an seiner Seite vorstellt (im Film sehen wir abwechselnd die beiden Schwestern neben ihm).

Zwei Film-Bilder zeigen die präzise Beleuchtung des Films. Ganz zu Anfang sehen wir Alexanders Arbeitsplatz  – seine Fahrradwerkstatt neben einem Café – mit dessen Besitzerin er hin- und wieder anbandelt:

Filmszene aus "Tagundnachtgleiche"
Alexanders Lebenswelt: Fahrradwerkstatt & Café; Tagundnachtgleiche, Regie: Lena Knauss, Tamtam Film (2020), 1’26”

In wenigen Sekunden wird das opake Nebeneinander von Arbeit und Unterhaltung in Hell und Dunkel gehüllt. Das bewegte Bild zoomt in Alexanders Werkstatt hinein, so dass der Zuschauer in die Lebenswelt von Alexander eintaucht.

Die andere Einstellung zeigt, wie Alexander auf den Fersen von Paula ist. Er verfolgt sie bis zu ihrem Arbeitsplatz, dem Variété Tagundnachtgleiche:

Nachtszene in "Tagundnachtgleiche"
Alexander folgt Paula zu ihrem Arbeitsplatz; Tagundnachtgleiche, Regie: Lena Knauss, Tamtam Film (2020), 10’36”

Auch hier sind es wenige Sekunden, in denen die Einstellung unvergesslich wird. Gerade die wenigen hellen Stellen  rund um die Theaterkasse haben zusammen mit dem leuchtend weißen, vertikal angeordneten Schriftzug „Tagundnachtgleiche“ etwas Traum-haftes. Hier spiegelt sich Kunst auch in der Kunst, da hier offensichtlich das Eingangstor zu einem Variété-Theater im Film als Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum ein besonderes Gewicht erhält.

Auch im weiteren Verlauf des Films gibt es viele buchstäblich traumhafte Einstellungen. Da auch Liebe etwas Unerklärliches ist, bleibt die Beziehung zwischen Alexander und Marlen in der Schwebe. Der Hör- und Sehgenuss hält bis zum Abspann vor – allein dies ist Grund genug, den Film in einer schwärmerischen Einstellung anzuschauen; gerade dann ist es nicht mehr weit, von diesem Film zu schwärmen!

Die Zitate sind im Film an Position 46‘49‘‘ bzw. an 47‘24‘‘ zu hören. Das Interview mit Lena Knauss ist hier nachzuhören (Zitate folgen an Position 1’37” bzw. an Position 2’23”). Bis Ende Februar 2023 ist der Film in der ard-Mediathek verfügbar. Die DVD kann zum Beispiel bei Weltbild bestellt werden.