Am Jahresende werden Rückblicke und Ausblicke gewagt – auch ohne (Silvester-)Partystimmung, die nach 2020 auch 2021 aus den bekannten Gründen nicht aufkommen konnte – doch bekanntlich sind Liebe, Freundschaft und Wertschätzung viel wichtiger als kurzlebige Euphorie.  Gute (Elektro-) Musik kann auch weit ab von Festen und Feten für die gewünschte Stimmung sorgen.  Im Dezember schaute ich in der Arte-Mediathek vorbei, wo „in concert“, jedoch ohne Zuschauer, die französische Sängerin Yelle alias Julie Budet sich präsentieren durfte. Ich war angetan von ihrem Sound, der hierzulande in Funk und Fernsehen selten zu hören ist. Ganz besonders hat mich das Lied Je t’aime encore angesprochen. Die (Wort-)Bindungsstärke der französischen Sprache  erzeugt zusammen mit ihrer Weichheit einen kaum zu übertreffenden Flow im Gesang. Das dazugehörige Musikvideo bildet eine weitere Dimension des fließenden Übergangs von der Stimme zum Bild. Wenn die Sängerin im Friseurstuhl sitzt und der Friseur den Rhythmus mit seinen Körperbewegungen aufnimmt, dann entsteht – das Wortspiel sei erlaubt – eine Ha(a)rmonie, besonders bei „tourner“, wenn die zu frisierenden Haare gezwirbelt werden. Der Clou des Videos besteht darin, dass der Friseur sich zum Schluss die Frisur seiner Kundin quasi überstülpt, während er sich auf den Friseurstuhl stellt und damit sein vor ihm stehendes Gegenüber überragt. Ihre Erscheinungsbilder gleichen sich sekundenschnell einander an – ein fließender Übergang.

Die Interpretin, die im Lied die Reisefreiheit von Tokio über Portland bis Barcelona genießt, bemerkt, dass sie zwar ihr geliebtes Gegenüber bewundert, dem sie als treue Seele jedoch nur mehr über die Distanz etwas zu sagen hat, auch weil er sich nach ihrem Eindruck wie ein kaum 20-jähriger verhält. Wer ist nun das Gegenüber, das im Lied adressiert wird? Wohl kein Mensch, sondern Yelles Heimat Frankreich, das sich im Lied in das Bekannte wie in eine wärmende Rettungsdecke einwickelt:

J’écris mon histoire ailleurs pour avoir des choses à te dire
Je te l’ai jamais dit, d’ailleurs, à quel point, quel point je t’admire
Tu t’enroules dans ce que tu sais comme dans couverture de survie
Elle est brillante, elle te plaît, mais pourquoi, pourquoi tu la suis?

Die Frage nach dem Warum des Sich-Eindeckens wird offen gelassen. Das Bild der Rettungsdecke ist nicht leicht zu deuten: Assoziativ lässt sich im weiß gestimmten Frisier-Video jedoch das Überstülpen der femininen Haarpracht  als schmucker Schutz vor etwas Ungewissem erklären, gerade wenn man bedenkt, dass der Friseur alles andere als volles Haar trägt – einige kahle Stellen könnten sogar als unschön gelten. Wenn man bedenkt, wie oft man im wirtschaftspolitischen Kontext in Deutschland von Rettungsschirmen gesprochen hat, ist es einmal wohltuend, eine andere Metapher für einen gewissen Schutz auf Französisch zu erhalten, ohne abschließend klären zu können, welche Art von Rettung (-smanöver) hier genau gemeint ist.

Jo Peters bezeichnet im Musik-Magazin With Guitars das Lied als einen „bittersweet love song”, in dem „the complex relationship between Yelle and its native country“ subtil thematisiert wird.  „It’s romantic, colored with synthetic sighs and imbued with a kind of longing.“  Zwischen Seufzern und Sehnsucht: Romantik ist auch im Synthie-Pop gut aufgehoben. Dazu passt, dass Yelle im gleichen Artikel mit den Worten zitiert wird, dass es sich um einen „love letter“ an ihr Heimatland Frankreich handele. Tanzbare Musik als Verpackung für einen Liebesbrief ist sowohl in Diskotheken als auch daheim bestens aufgehoben!

Das Musikvideo ist im zitierten Musik-Magazin eingebettet. Unbedingt sollte das Lied auch innerhalb des Arte-Konzertmitschnitts angehört werden, um noch einen intensiveren Höreindruck von Yelle zu erhalten. (Es folgt nach gut 18 Minuten und 13 Sekunden.)