Ein stimmiges Intro für eine Literatursendung: Da steige ich in Zeitz aus dem Auto auf mein Fahrrad und nehme Kurs auf den erst einige Jahre vollständig fertiggestellten Zuckerbahnradweg. Neben einer Packung Energy Balls kommt ein Roman mit, das das Aussteigen als Lebensveränderung thematisiert: Herr Jensen steigt aus von Jakob Hein (2006), wahrlich ein moderner Aussteigerroman. Damit aber noch nicht genug: Bevor ich den offiziellen, gut 35 Kilometer langen Radweg in Angriff nehme, pumpe ich an einer bft-Tankstelle noch meine Reifen auf. Am Rande sitzen junge Leute mit Bierpullen zusammen. Ein Gesprächsfetzen lässt mich aufhorchen. Angeblich laufe nichts Gescheites im Fernsehen, woraufhin einer lapidar ausruft : „Hartz-4-Fernsehen!“ Ich hätte noch länger gelauscht, doch ich habe nur gute dreieinhalb Stunden Zeit, um die einzige wirklich annehmbare Umsteigeverbindung am Zielort zu erwischen, um wieder vor Einbruch der Dunkelheit am Auto zu sein. Der Melassegeruch in der Nähe des Südzucker-Firmengrundstücks begleitet mich kilometerlang. So macht der Radweg seinem Namen alle Ehre.

Zuckerbahnradweg
Makro-Schiene als Fahrradabstellmöglichkeit (für
„Schienenersatzverkehrsfahrzeuge “) am ehemaligen Bahnhof Droyßig

Im Roman wird das Medium Fernsehen ebenfalls in einen sozioökonomischen Kontext gebracht. Folgenden Passus, der mir zu dem Zeitpunkt schon bekannt war, hätte ich gerne mit etwas mehr Zeitpuffer an der Tankstelle vorgelesen:  

Herr Jensen verließ seine Küche, setzte sich auf sein Sofa, ergriff die Fernbedienung und schaltete seinen Fernseher an. Er drückte sich durch die verschiedenen Programme und wurde von einer tiefen Zufriedenheit erfasst. Sie hatten ihm die Arbeit genommen und seine Pläne, aber sie mussten ihm immer noch genau dasselbe Fernsehprogramm geben. Dutzende verschiedener Sender, mit Millionenaufwand produzierte Programme, durch Werbung finanziert. Er empfing genau das gleiche Fernsehprogramm wie ein Millionär, was ihm schon fast wie Kommunismus erschien. Und es war vollkommen nutzlos, Herr Jensen hätte sich im Moment kein einziges der Produkte gekauft, für das sie da Werbung machten. Trotzdem konnte er die verschwenderische Vielfalt in vollem Umfang aufnehmen, sie wurde ihm vor die Füße geworfen. 

Mit Hartz 4 begann in etwa das 21. Jahrhundert in der deutschen Sozialpolitik. Der Ausdruck „Hartz-4 -Fernsehen“ verknüpft, wie es an der Tankstelle anklang,  die dürftige Sozialhilfe mit dem Fernsehprogramm, was ein gar nicht so trivialer Gedanke ist. Das Fernsehen ist im Grunde für alle erschwinglich und zugänglich. Die Vielzahl an Kanälen lässt sich nicht mehr überblicken, so dass zusammen mit dem Internet-Fernsehen eine Übersättigung für alle Zielgruppen vorhanden ist.  Wer viel Zeit und wenig Elan hat, kann stundenlang am Tag vor dem Fernseher hocken. Und nicht selten werden Hartz-4-Empfänger im Fernsehen porträtiert und ihr Leben beschrieben, wovon 2018 Die Zeit berichtete. Insofern ist die Analogie zwischen Status und Medium nicht irreführend. Traurig ist der aufgeschnappte Begriff allemal. Denn man fragt sich schon, was die produktiven Fernsehschaffenden antreibt, um in mehreren Formaten ausführlich über Randgruppen zu berichten. Gibt es da neue Erkenntnisse? Klar ist: Das Programm wird mitsamt der Werbung von vielen Zuschauern konsumiert (und indirekt auch bezahlt). Hier zählt bestimmt der Faktor der Identifikation mit der Sendung.

Auf der Rückfahrt lese ich im besagten Roman weiter. Im Grunde ist Herr Jensen ein Typ, der sich des sozialen Netzes entledigt. Dadurch, dass er nicht nur seinen Fernsehapparat „mit einer ruhigen, geschmeidigen Bewegung aus dem geöffneten Fenster“ wirft, geht er mit Sozialleistungen nach seiner Entlassung als Postbote leichtfertig um: Als er seinen Briefkasten und sein Klingelschild demontiert, steigt er im Grunde aus seinem ganzen Sozialleben aus – von (Mobil-)Telefonen ist nicht die Rede. So passt es, dass die für ihn zuständige Sachbearbeiterin Frau Ortner, die mit „seiner Hartnäckigkeit, der arglosen Penetranz“ nicht so recht umgehen kann, beschließt, „dass er weiterhin seine Bezüge bekommen sollte, und das erst einmal auf unabsehbare Zeit und vor allem ohne Folgetermin in ihrem Büro“. Herr Jensen verweigert sich – er hat keinerlei abgeschlossene Ausbildung – einer weiteren Schulungsmaßname, denn sein früherer Arbeitgeber hat ihn zum Ausstieg veranlasst. Auf die Aussage von Frau Ortner, ein Kurs mit dem Namen „Fit for Logistics“ ergebe nach der erfolglosen Maßnahme „Fit for Gastro“ Sinn, antwortet Herr Jensen kühn:

Nein, mir wurde gekündigt, um Kündigungen zu vermeiden, in der Branche gibt es keinen Wiedereinstieg. Ich bin fit für die Branche, leider ist die Branche nicht mehr fit für mich.

Kaum ein Geschäft liegt direkt am Rande des Zuckerbahnradwegs. Ich unterquere nach etwa Hälfte der Strecke die A9, auf der es sich – wie surreal in einem dünn besiedelten Raum – in Richtung Norden sogar staute. Die Ortschaften sind allesamt unauffällig und am Reformationstag verschlafen. Man hört einzelne Stimmen von Privatgrundstücken aus. Einmal quert eine Pferdekutsche den Radweg. Ich sehe auf der ganzen Distanz sicher mehr Radfahrer als fahrende Autos. Auf den letzten etwa 10 Kilometern ist die Trasse nicht mehr vorhanden, doch die Wege bleiben gut fahrbar: Mit Elan rolle ich auf einer kilometerlangen Abfahrt hinab ins Saaletal und erreiche nach gut drei Stunden just-in-time den Zielort Camburg, nachdem ich mir den offiziellen kurzen Schlenker über den Saaleradweg am gegenüberliegenden Ufer erspart habe.

Um von Camburg zurück nach Zeitz zu kommen, fahre ich zunächst mit dem Regionalexpress in Richtung Leipzig und muss in Weißenfels umsteigen. Von dort bringt mich ein kleines, hochmodernes Triebfahrzeug trotz technischer Störung ohne merkliche Verzögerung bis Zeitz, wo es erst einmal abgestellt wird. Das Auto steht günstig in Bahnhofsnähe; rasch ist das Fahrrad verstaut, bevor die bft-Tankstelle zum Auftanken bereitsteht. Lückenlos schließt sich der Kreis nach mehrmaligem Auf-, Ab-, Ein- und Aussteigen.

Der Roman kann günstig über abebooks oder beim Piper Verlag erworben werden. Die Rezensionen erhielten ein geteiles Echo; die Besprechung der Neuen Zürcher Zeitung ist recht differenziert geschrieben. Die langen Zitate sind aus der Piper Ausgabe (13. Auflage) entnommen und finden sich auf den Seiten 31 und 105. Weitere Zitate stehen auf den Seiten 79 und 106/107.